Alle Artikel mit dem Schlagwort: Interview

»Unsicherheit ist ein entscheidender Teil von Wissenschaft und kein Makel«

Sibylle Anderl ist Astrophysikerin, Philosophin und Journalistin. Wir fragten sie, was sie für real hält, vor welchen Herausforderungen die Wissenschaft in einer Pandemie steht und was sie Außerirdische fragen würde, sollte sie ihnen begegnen. Interview: Thomas Vašek Fotos im Heft: Katrin Binner Es gibt wohl nicht viele Philosophinnen, die schon einmal nächtens auf knapp 5000 Meter Höhe in der chilenischen Atacamawüste am Teleskop standen, um den Sternenhimmel zu beobachten. Die Astrophysikerin und Philosophin Sibylle Anderl hat über interstellare Stoßwellen promoviert und arbeitete mehrere Jahre in der Wissenschaft, unter anderem zu Fragen der Sternentstehung und der Philosophie der Astrophysik. Heute ist sie Mitherausgeberin der Politik- und Kulturzeitschrift »Kursbuch« und Wissenschaftsredakteurin der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Dort schreibt Anderl über die Forschung zur Coronapandemie, die sie auch als Wissenschaftstheoretikerin vor viele schwierige Fragen stellt. HOHE LUFT: Frau Anderl, sind Sie sicher, dass unsere Interviewsituation jetzt real ist – und dass wir uns nicht in einer Computersimulation befinden? SIBYLLE ANDERL: Das ist in der Tat eine nicht ganz abwegige Frage, die eine lange philosophische Tradition hat. Und in der …

»Wir dürfen Freiheit nicht nur als Freiheit zum vernünftigen Handeln verstehen«

Der bekannte Staatsrechtler Christoph Möllers wird für sein Buch »Freiheitsgrade« 2021 mit dem renommierten Tractatus-Essaypreis des Philosophicum Lech ausgezeichnet. Wir sprachen mit dem Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin im Herbst 2020 über die Coronakrise, politischen Liberalismus und das Verhältnis von Wahrheit und Freiheit und Demokratie. Interview: Thomas Vašek Illustration: Gabriele Dünwald HOHE LUFT: Herr Möllers, inwieweit bedroht die ­Coronakrise unsere Freiheit? CHRISTOPH MÖLLERS: Ich würde nicht mehr von ­Bedrohung reden, wir sind ja real eingeschränkt. Wir haben Verluste an Freiheit, die wir auch nicht wieder einholen können. Die Frage ist, welche langfristigen Folgen das hat. Man kann sich vorstellen, dass es Gewöhnungseffekte gibt. Es wäre ein Problem, wenn die Gesellschaften sich auf Dauer zu sehr daran gewöhnten, dass sie derart eingeschränkt werden – selbst wenn dies aus vernünftigen Gründen geschieht. Wie würden Sie als Staatsrechtler den derzeitigen Zustand beschreiben? Ist das noch die rechtsstaat­liche »Normallage« – oder tatsächlich ein Ausnahmezustand, wie manche glauben? Das ist eine interessante Frage, die darauf hinweist, dass wir einen Begriff bräuchten, den wir nicht haben. Die Rede vom Ausnahmezustand …

Worauf es wirklich ankommt

Derek Parfit (1942 – 2017) war einer der bedeutendsten Moralphilosophen der Gegenwart. 2013 gewährte uns der öffentlichkeitsscheue Großdenker ein außergewöhnliches E-Mail-Interview, das nicht nur im Zuge um die Fakten und Debatten um den Klimawandel von bleibender Aktualität ist. Im Interview mit HOHE LUFT spricht er über personale Identität, den Tod und seinen epochalen Entwurf einer universellen Moraltheorie. Fragen und Text: Thomas Vašek Fotos: Steve Pyke Derek Parfit war vielleicht einer der größten Moralphilosophen seit Immanuel Kant. Parfits Theorie in seinem monumentalen Werk »On what matters« (»Worauf es ankommt«) lässt sich, in aller Kürze, so zusammenfassen: Als Vernunftwesen haben wir starke Gründe, uns um das Wohl anderer zu sorgen. Menschlichkeit ist rational. Was wir tun sollten, ist nicht subjektiv. Es gibt universelle moralische Wahrheiten, die genauso existieren wie etwa mathematische Wahrheiten: Dass Leiden schlecht ist, ist genauso wahr wie die Tatsache, dass 1+1 = 2 ist. Schon Parfits erstes Buch »Reasons and Persons« war eine Sensation. Der Philosoph attackierte darin tiefsitzende Auffassungen von Moral und Vernunft. Mit ungewöhnlichen Gedankenexperimenten zeigte er etwa, dass es nicht immer …

»Wohlstand ist mehr als Wachstum« – 3 Fragen an Kerstin Andreae

»Klugheit« ist das aktuelle Schwerpunktthema in HOHE LUFT (Heft 6/2020). Und wir meinen: Klugheit braucht viele Sichtweisen. Daher haben wir Menschen aus den unterschiedlichsten Fachbereichen gefragt, was aus ihrer Sicht klug ist. Hier antwortet Kerstin Andreae, Vorsitzende der Hauptgeschäftsführung des Bundesverbandes der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW): Frau Andreae, wie verbindet man auf kluge Art Ökologie und Ökonomie? Wohlstand ist mehr als Wachstum. Aber Wachstum, das unsere Wirtschaft nachhaltig verbessert, brauchen wir. Erneuerbare Energien, Wasserstoff, Elektromobilität und grüne Gase beispielsweise sind die Bereiche, die wachsen müssen, um klimaschädliche Technologien zu verdrängen. Neben negativen und tragischen Entwicklungen in der Corona-Krise sehr ich auch eine positive: Wir denken jetzt wieder mehr darüber nach, wie wir künftig leben und arbeiten wollen oder wie unsere Nahrung produziert wird.Welche Art von Unterstützung brauchen fähige, engagierte Frauen heute am meisten? Unterstützung klingt mir viel zu sehr nach Hilfestellung. Aber darum geht es nicht. Es geht um Selbstbewusstsein im besten Sinne. Ich war immer der Meinung, dass Frauen ihre unbestreitbaren Stärken nutzen sollen, anstatt zu versuchen, sich den vorherrschenden Ritualen anzupassen. Und auch …

»Die Intuition nicht aus den Augen verlieren« – 3 Fragen an Günter M. Ziegler

Die aktuelle Ausgabe HOHE LUFT hat das Schwerpunktthema »Klugheit«. Wir bitten darin bekannte Persönlichkeiten um ihre Antworten auf drei Fragen. Hier antwortet Günter M. Ziegler, Präsident der Freien Universität Berlin. Was bedeutet für Sie »klug«? »Klug« ist für mich, Lebenserfahrung, Vernunft und Verstand zu beachten – und die Intuition dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Zum Beispiel Entscheidungen nicht nur mit Ruhe und mit Nachdenken und unter Verwendung aller zur Verfügung stehenden Informationen herbeiführen – sondern mir dabei auch die Kriterien und Mechanismen bewusst zu machen, nach denen ich entscheide. Das erlaubt auch »Bauch-Entscheidungen«, aber es fordert mich dann zu erkennen, dass ich nach Bauchgefühl entscheide, und ich mir überlegen muss, warum ich das tue (und ob das klug und richtig ist). Was war Ihre klügste Entscheidung? Zu meinen wichtigsten Entscheidungen zählen Karriereentscheidungen, etwa 2001 in Berlin zu bleiben (und nicht nach Zürich zu gehen), 2017 für die Präsidentschaft an der Freien Universität zu kandidieren (und mich nicht nur auf meine Mathematikprofessur zu konzentrieren). Ich habe mir das jeweils nicht leicht gemacht, ich habe …

»Warum lassen wir es zu, dass bestimmte Arbeit als so viel wertvoller betrachtet wird als andere?«

Die Philosophie-Professorin Lisa Herzog befasst sich viel mit der Gestaltung der Arbeitswelt. Wir sprachen mit ihr über deren soziale Komponente, über Digitalisierung, Selbstverwirklichung und die Bedeutung von Demokratie in Unternehmen. Wie sind Finanzmärkte moralisch zu bewerten? Was bedeutet gute Arbeit in der digitalen Welt? Und wie viel Demokratie braucht die Wirtschaft? Es sind Fragen an der Schnittstelle zwischen Ökonomie, Philosophie und Politik, die Lisa Herzog interessieren. Die 36-jährige Professorin an der Universität Groningen (Niederlande) knüpft damit an eine alte Tradition an. Schon zu Zeiten von Adam Smith und Karl Marx standen politische Ökonomie und ­Philosophie in einem engen Verhältnis. Doch Herzog forscht nicht nur zur Ideengeschichte, sondern auch zu ganz aktuellen Fragen der Wirtschafts- und Arbeitswelt, wie etwa den Auswirkungen der Digitalisierung oder der Rolle der Ethik in Unternehmen. Stets geht es Herzog, die von der Gesellschaftskritik der »Frankfurter Schule« geprägt ist und zusammen mit Axel Honneth geforscht hat, auch um soziale und politische Zusammenhänge – und damit um die Frage, wie sich Wirtschaft mit Gerechtigkeit vereinbaren lässt. Dabei scheut sie sich nicht vor brisanten …

»Habermas hat die begrifflichen Fundamente für eine Theorie der Moderne entwickelt«

Jürgen Habermas‘ Schriften haben weltweit Aufmerksamkeit gefunden, in akadamischen Kreisen genauso wie bei einer politisch interessierten Leserschaft. So hat der Soziologe und Habermas-Biograf Stefan Müller-Doohm kürzlich gemeinsam mit Luca Corchia und William Outhwaite den Band »Habermas Global« herausgegeben, in dem 40 Autorinnen und Autoren aus mehr als 20 Sprach- und Wissenschaftskulturen diese unglaubliche internationale Wirkungsgeschichte beleuchten. Der Literaturwissenschaftler und Rundfunkredakteur Harro Zimmermann hat deshalb mit Stefan Müller-Doohm über »Habermas Global« gesprochen. Was macht Habermas für Chinesen so interessant? Wie hat er es geschafft, sich ein halbes Jahrhundert auf der Höhe der Debatten zu halten und kann man eigentlich davon sprechen, dass Habermas so etwas wie eine Schule begründet hat?     Harro Zimmermann: Aus Anlass seines 80. Geburtstags ist Jürgen Habermas von der ‚Zeit‘ zu einer philosophischen »Weltmacht« hochgejubelt worden. Nun zu seinem 90. haben Sie, gemeinsam mit zwei Kollegen, ein Buch unter dem Titel »Habermas Global« herausgegeben. Fast könnte man versucht sein, darin eine Bestätigung jener Losung von der Weltmacht zu sehen, denn dieser Denker der Deutschen hat über sechzig Publikationen verfasst, die mittlerweile …

Immer schön anständig bleiben? Unsere Ausgabe 2/2020 ist da!

Anstand – wie das klingt! Man denkt an Eltern, die einen ermahnen: „Zieh dir was Anständiges an!“ oder an die Benimmregeln von Adolph Freiherr von Knigge. Es klingt etwas altbacken, aber Anstand ist vielleicht tatsächlich genau das, was wir brauchen. Es gibt eine Vielfalt anspruchsvoller Moralphilosophie für den ethischen Umgang zwischen den Menschen. Aber wie bekommt man die Balance hin zwischen gutem Benehmen und Authentizität, zwischen Idealismus und Pragmatismus, zwischen eigenem Vorteilsstreben und Achtsamkeit? In unserem Titelessay schlagen wir zehn alltagstaugliche Maximen vor. Außerdem schauen wir in einem zweiteiligen Schwerpunkt auf die Zukunft der Medizin. Die Digitalisierung der Heilkunst führt zu einem grundlegenden Wandel im medizinischen Paradigma, der uns alle betrifft. Im großen Interview spricht diesmal der Londoner Starphilosoph Alain de Botton über das gute Leben, die Liebe und die Emotionen – und erklärt britisch kühl, warum er kein Romantiker ist. Gehört Alain de Botton eigentlich zur »Elite«? Wer oder was »Elite« eigentlich ist, auch darüber gibt es einen Essay. Und wir nähern uns dem Phänomen der Wärme – sie ist viel mehr als Temperatur: …

»Während wir sprechen ist eine kulturelle Revolution im Gange«

Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat ein Buch über »Identität« ­geschrieben. Wir sprachen mit ihm über die ­Gefahren einer Politik, die sich einzelnen Gruppen verschreibt, über die Gründe für Nationalismus und ­darüber, was es braucht, damit ­Gesellschaften offen bleiben und sich dennoch als Einheiten verstehen. Anfang der 1990er-Jahre rief Francis Fukuyama das »Ende der Geschichte« aus – damals ahnte er noch nicht, in welchem Zustand die westlichen Demokratien im Jahr 2019 sein würden. Die berühmt gewordene These des Politikwissenschaftlers, der an der kalifornischen Stanford Universität lehrt, wurde von vielen missverstanden. Fukuyama wollte nicht sagen, dass die Weltgeschichte in dem Sinne zu Ende sei, dass ab diesem Zeitpunkt nichts Nennenswertes mehr geschähe. Seine Aussage war in einem Hegel’schen Geschichtsverständnis gemeint, nach welchem sich die weltgeschichtliche Entwicklung auf ein Ziel hin bewege. Nicht im Kommunismus, wie Karl Marx (1818–1883) dachte, sondern in der liberalen Marktwirtschaft fänden die gesellschaftlichen Entwicklungskämpfe ihr Ende, so Fukuyama. Einer der Gründe, weshalb sich die Demo­kratie als System durchsetzen würde, sei, dass Demokratien ihren Bürgern die Anerkennung ihrer Identität am besten zusichern könnten. …

90. Geburtstag von Jürgen Habermas: „Der öffentliche Intellektuelle ist eine bedrohte Spezies“

  Der weltbekannte Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas feiert seinen 90. Geburtstag. Was können wir im Jahr 2019 von ihm lernen? Wieso liest man Habermas auch in China? Und welche Frage würde sein Biograf, Stefan Müller-Doohm, ihm selbst gerne stellen? Stefan Müller-Doohm ist emeritierter Professor für Soziologie an der Carl von Ossientzky Universität Oldenburg und Autor mehrerer Biografien, etwa von Theodor W. Adorno und  Jürgen Habermas (»Jürgen Habermas. Eine Biografie«, Suhrkamp). Im Interview mit HOHE LUFT spricht er darüber, warum Habermas nicht an die These der Postdemokratie glaubt, sehr wohl aber, dass wir uns mitten in einer Medienrevolution befinden und darüber, warum Habermas weltweit die Rolle eines geistigen Impulsgebers innehat.   HOHE LUFT: Mit Habermas sind viele theoretische Konzepte verknüpft – vom kommunikativen Handeln über den herrschaftsfreien Diskurs bis zur postsäkularen Gesellschaft. Welche Theorie hat heute die größte Aktualität?   Müller-Doohm: Man kann die von Ihnen genannten Elemente nicht auseinanderdividieren. Die Theorie von Habermas ist in ihrer Vielschichtigkeit ein Ganzes. Was wir 2019 in einer politischen Dimension ganz besonders von ihm lernen können, ist der …