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»Unsicherheit ist ein entscheidender Teil von Wissenschaft und kein Makel«

Sibylle Anderl ist Astrophysikerin, Philosophin und Journalistin. Wir fragten sie, was sie für real hält, vor welchen Herausforderungen die Wissenschaft in einer Pandemie steht und was sie Außerirdische fragen würde, sollte sie ihnen begegnen.

Interview: Thomas Vašek

Fotos im Heft: Katrin Binner

Es gibt wohl nicht viele Philosophinnen, die schon einmal nächtens auf knapp 5000 Meter Höhe in der chilenischen Atacamawüste am Teleskop standen, um den Sternenhimmel zu beobachten. Die Astrophysikerin und Philosophin Sibylle Anderl hat über interstellare Stoßwellen promoviert und arbeitete mehrere Jahre in der Wissenschaft, unter anderem zu Fragen der Sternentstehung und der Philosophie der Astrophysik. Heute ist sie Mitherausgeberin der Politik- und Kulturzeitschrift »Kursbuch« und Wissenschaftsredakteurin der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Dort schreibt Anderl über die Forschung zur Coronapandemie, die sie auch als Wissenschaftstheoretikerin vor viele schwierige Fragen stellt.

HOHE LUFT: Frau Anderl, sind Sie sicher, dass unsere Interviewsituation jetzt real ist – und dass wir uns nicht in einer Computersimulation befinden?
SIBYLLE ANDERL: Das ist in der Tat eine nicht ganz abwegige Frage, die eine lange philosophische Tradition hat. Und in der Physik wird ja durchaus diskutiert, wie man auf empirischer Basis feststellen könnte, ob wir uns in einer Simulation bewegen. Die Hinweise sehen aber so aus, als wäre das nicht der Fall (lacht). Man würde davon ausgehen, dass es bestimmte numerische Artefakte geben müsste, sichtbar im Spektrum kosmischer Strahlung bei hohen Energien. Physikalisch gibt es dafür bislang keine Anzeichen. Als Philosophin würde ich sagen: Das ist ein anregendes Gedankenexperiment, für mich aber ein bisschen zu metaphysisch, als dass ich es ernst nehmen könnte …

Würde es einen Unterschied für Sie machen, wenn Sie sich in dieser Frage nicht sicher wären?
Letztlich wäre das ein Fall von Unterdeterminiertheit. Das bedeutet, dass eine Theorie durch die vorliegenden Daten nicht eindeutig festgelegt ist. Man kann sich immer alternative Theorien ausdenken, die das gleiche empirische Gebäude von Evidenzen erklären. Als Wissenschaftlerin bin ich sehr stark empirisch geprägt. Ich bin auch beobachtende Astrophysikerin, insofern ist bei mir die Bezugsgröße immer das, was wir empirisch vorliegen haben. Und wenn ich das habe, dann nehme ich immer die einfachste Theorie, insofern würde das für mich wahrscheinlich keinen Unterschied machen.

»Sind Sie jetzt ein realer Mensch irgendwo in München oder eine Simulation?«

Wir führen dieses Gespräch jetzt via Zoom. Würde Sie also die Beobachtung am Bildschirm allein davon überzeugen, dass ich real existiere?
In der Tat haben wir ja schon vorher in persona interagiert. Aber wenn ich Sie jetzt nur als Videobild vor mir hätte, dann wäre die Sache heutzutage natürlich weniger klar. Dann könnte ich überlegen, ob es bestimmte Eigenarten in Ihrem Verhalten gibt, bei denen ich nicht davon ausgehen würde, dass sie einer künstlichen Intelligenz zukommen. Es wäre eine Möglichkeit, dass Sie einfach nur eine simulierte Person in meinem Zoom-Programm wären. Aber allein die Tatsache, dass wir uns um 11.07 Uhr zum Interview verabredet haben, spricht schon dafür, dass Sie ein sehr individueller Mensch sind, der sich von typischer KI-Modellierung deutlich abhebt …

Dann bin ich beruhigt! Lassen Sie uns also einmal davon ausgehen, dass wir beide real sind – und dass diese Interviewsituation tatsächlich stattfindet. Nun sind Sie Astrophysikerin, Philosophin und Journa­listin. Wie würden Sie die Situation, die wir hier haben, aus diesen drei unterschiedlichen Per­spektiven beschreiben?
Als Astrophysikerin bin ich normalerweise nicht mit menschlichen Interaktionen befasst. Aber als Wissenschaftlerin müsste ich erst einmal eine Fragestellung definieren, die dann über die Methodik entscheiden würde. So würde ich versuchen herauszufinden, wie typischerweise ein HOHE LUFT-Interview ­geführt wird. Ich würde also weiter mit Ihnen reden, das Gespräch natürlich auch aufzeichnen und dann vielleicht eine statistische Auswertung machen: Wie originell war die Eingangsfrage? Wie groß war das Themenspektrum? Philosophisch kommt es natürlich auf die Perspektive an. Aus einer ontologischen Perspektive würde ich mir die Frage stellen, welchen Status Sie haben – sind Sie jetzt ein realer Mensch irgendwo in München oder eine Simulation? Aus erkenntnistheoretischer Sicht würde ich mich fragen, mit welchem Recht ich davon ­ausgehe, dass Sie wirklich dort sitzen? Wie funktioniert meine rationale Argumentationsstrategie, die gesamte Kausalkette, die mir Informationen hier in Norddeutschland von Ihnen in München aus überträgt? Welche theoretischen Annahmen spielen da eine Rolle?

Und aus der Perspektive als Journalistin?
Da wäre die Frage, welche Geschichte ich verkaufen wollte. Aber da könnte ich jetzt ohne wissenschaftliche Herangehensweise einfach von meinen Erfahrungen berichten: Wie fühlt es sich an, von Ihnen interviewt zu werden? Wie war das ganze Setting – und welche Geschichte könnte ich erzählen, die diese Situation für die Leser interessant machen würde? Vielleicht passiert ja noch irgendetwas Skurriles, irgendetwas Sensationsträchtiges – auf dieses Detail könnte ich mich dann konzentrieren und das als Geschichte erzählen.

Wahrheit, Realität, Fakten – in welchem Verhältnis stehen diese drei Begriffe für Sie?
Aus wissenschaftlicher und auch klassisch wissenschaftsphilosophischer Perspektive sind das Ideale, nach denen man als Wissenschaftlerin erst einmal strebt. Die meisten Wissenschaftlerinnen haben wirklich noch so eine Popper’sche Vorstellung, dass die Wahrheit eine Zielperspektive ist, in der Hoffnung, dass man sich über die Zeit dieser Wahrheit als nie erreichbarem Zielpunkt irgendwie annähern kann. Ähnlich ist es mit der Realität. Das ist eine Vorstellung, die man voraussetzt, als Wissenschaftlerin jedoch gar nicht unbedingt weiter reflektiert. Man braucht aber diese Annahme, um sinnvoll Wissenschaft betreiben zu können. Zugleich muss man davon ausgehen, dass es Fakten gibt, dass sich die Welt in irgendeiner objektiv beschreibbaren Weise verhält, wenngleich man natürlich weiß, wie viel Methodik darin enthalten ist, wie stark der Begriff also schon vorgeprägt ist.

Können Sie uns ein Beispiel geben?
Wenn man von empirischen Fakten ausgeht, unterliegt man häufig dem Vorurteil, dass Daten Fakten sind. Man macht eine Umfrage oder Messungen, aber das ist natürlich völlig verkürzt, denn Daten haben eine Streuung, es gibt Bias-Phänomene, systematische Verzerrungen. All diese Effekte muss man erst bereinigen, um dann zu dem zu kommen, was wir gemeinhin als Fakten bezeichnen würden – also zu Phänomenen, die unabhängig von Messmethoden und zufälligen Umständen ihrer Erzeugung sind. Als Journalistin hat man häufig die Situation, dass man Dinge sehr stark vereinfachen muss. Wenn man zum Beispiel davon spricht, dass in den Wissenschaften »Wahrheit produziert« oder »Fakten geliefert« werden, dann ist das eine ganz enorme Verkürzung, die an vielen Stellen so nicht funktioniert, weil sie offensichtlich nicht dem entspricht, wie Wissenschaft arbeitet. Wir merken gerade aktuell, wie schwierig es ist, mit dem Faktenbegriff zu kommunizieren, weil der Differenzierungsgrad, den man nutzen muss, sehr stark zielgruppenabhängig ist. Da macht es einen Unterschied, ob man für die »FAZ« schreibt oder für Leser der »Bild«, die einfach nur schnell informiert werden wollen.

»Wenn man sagt, Impfgegnerinnen sind irrational, macht man es sich zu einfach.«

In der Pandemie haben wir gesehen, wie schwierig es sein kann, sich überhaupt auf bestimmte Fakten zu einigen.
Es gibt natürlich die sehr weit fortgeschrittene Stufe der Querdenkerinnen und Impfgegnerinnen, die nicht mehr bereit sind, dieselben Fakten anzuerkennen wie die Menschen, die einem entgegengesetzten politischen Lager angehören. In der Gruppe der weniger Radikalisierten gibt es aber auch die Sorge, dass politische Anschauungen, bestimmte Intentionen und Motivationen in das hineinspielen, was als Fakten präsentiert wird. Dass Wissenschaftlerinnen zum Beispiel unterstellt wird, dass sie mit ihren Modellen oder ihren Aussagen eine bestimmte politische Agenda verfolgen. Das untergräbt das Vertrauen in die Expertinnen, auf das wir in unserer immer spezialisierteren Gesellschaft angewiesen sind, weil sich nicht jeder überall auskennen kann. Und das führt letztlich zu einer immer stärkeren Polarisierung, zu einer Spaltung der Gesellschaft. Die Pandemie hat gezeigt, dass dieses Problem existiert – und dass wir da relativ schnell handeln müssen, denn das kratzt letztendlich an den Grund­lagen unserer Demokratie.

Nun können sich auch viele Querdenker:innen durchaus darauf berufen, dass auch sie sich von Gründen leiten lassen. Verläuft die Spaltung, von der Sie sprechen, also nicht zwischen Rationalität und Irrationalität, sondern zwischen verschiedenen Rationalitäten?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Wenn man zum Beispiel sagt, die Impfverweigerinnen sind einfach irrational, dann macht man es sich eindeutig zu einfach. So haben Untersuchungen zur Motivation von Impfgegnerinnen gezeigt, dass am Anfang oft eine Enttäuschung über autoritäre Kommunikation in wis­sen­schaft­lichen oder medizinischen Gesprächssituationen steht. Dass viele Menschen das Gefühl haben, mit ihren Fragen nicht ernst genommen zu werden. In solchen Alternativ-Commu­nities hingegen ist jeder Experte, da wird jeder ernst ge­nommen. Es gibt also einerseits positive Aspekte wie die eher demokratische Kommunikation. Zugleich findet man dort aber auch Prin­zipien, die definitiv nicht geeignet sind, um zu begründetem empirischen Wissen zu kommen. So werden ­widersprechende Positionen ausgeblendet, viele Fakten gar nicht anerkannt. Und wenn Fakten den eigenen Überzeugungen nicht entsprechen, dann ändert man nicht die Überzeugung, wie das in der Wissenschaft der Fall sein sollte, sondern sucht nach Fakten, die die eigene Überzeugung bestätigen. ­Solche Prinzipien kann man durchaus als alter­native Rationalitätsprinzipien bezeichnen. Die aktuelle Sorge ist, dass verschiedene Rationa­litätsbegriffe, verschiedene weltanschauliche Hintergründe auch zu verschiedenen Faktenwelten führen – und wir insofern immer weniger in einer geteilten Welt der Fakten leben.

Was unterscheidet die Pandemie von den Phänomenen, mit denen Sie als Astrophysikerin zu tun haben?
Es ist natürlich ein massiver Unterschied, ob ich mit etwas Belebtem oder Unbelebtem zu tun habe. In der Astrophysik sind das zwar auch nichtlineare, komplexe Systeme, die schwer zu modellieren sind. Aber wenn wir Modelle machen und ver­öffentlichen, dann hat das keinen direkten Einfluss auf die Objekte, die wir studieren. Wenn aber wie bei der Pandemie Menschen eine Rolle spielen, die sich gegenseitig beeinflussen und zugleich selbst von den Modellen beeinflusst werden, dann bringt das einen völlig neuen Komplexitätsgrad mit ins Spiel. Das haben wir ja gesehen bei den Modellszenarien, die dann wieder einen Einfluss auf das Verhalten der Menschen hatten – und dadurch ihre eigenen Vorhersagen »kaputt­gemacht« haben, wenn man das so missverstehen wollte. Diese Komplexität macht die wissenschaftliche Behandlung des Phänomens extrem schwierig.

Was bedeutet das für den Wert von epidemiologischen Modellen in der Pandemie?
Modelle sind ja streng genommen immer falsch, weil man eben vereinfacht, idealisiert und approximiert. Wenn sie nicht falsch wären, dann wären sie nutzlos. Man kann sie immer nur beurteilen im Hinblick auf den jeweiligen Anwendungszweck. Oft ist die Intention eines Modells ja, relativ einfache Kausalzusammenhänge erst einmal zu verstehen: Wie würde es sich auswirken, wenn ich die Grenzen schließe? Oder wenn ich den Bewegungsradius der Menschen auf fünf Kilometer einschränke? Wenn ich solche Fragen habe, dann kann ich auch mit Modellen erfolgreich sein, die stark vereinfacht sind. Und wenn ich bestimmte Dinge nicht weiß, wie zum Beispiel, ob sich die Menschen tatsächlich an geschlossene Grenzen halten, dann werde ich den entsprechenden Parameter variieren. Dann habe ich trotzdem ein Gefühl dafür, welche Konsequenzen bestimmte Annahmen haben.

Aber in einer Pandemie möchte man eben nicht nur wissen, was mögliche Szenarien sind, sondern was tatsächlich passieren wird. Braucht es da nicht zusätzliche Expertise aus verschiedenen Disziplinen?
Das halte ich auf alle Fälle für richtig. Man braucht zum ­Beispiel Psychologinnen, Soziologinnen und andere Wissenschaftlerinnen, die sich etwa damit beschäftigen, wie öffent­liche Botschaften das Verhalten der Menschen verändern. Physikerinnen und Epidemiologinnen allein können zwar Modelle bauen, mit vielen Idealisierungen, aber die sind dann eben nicht in der Lage, diese sehr schwierig zu modellierenden Feedbackschleifen zu berücksichtigen. Da muss sehr viel mehr Kommunikation in Gang kommen, um den Blick aus anderen Perspektiven zu haben. Sicher kann man Annahmen in Modellen ein Stück weit in ihren Konsequenzen überprüfen, aber dazu muss man erst mal wissen, dass es bestimmte Annahmen überhaupt gibt – und dass womöglich bestimmte Dinge im ­Modell fehlen. Die »unknown unknowns«, die »unbekannten Unbekannten«, sind dabei am gefährlichsten – also Dinge, von denen man gar nicht weiß, dass sie für das Modell relevant sein könnten. Gerade solche »unknown unknowns« können in interdisziplinären Diskussionen zutage treten.

Welche Fehler hat die Wissenschaft aus Ihrer Sicht in der Pandemie gemacht – und welche Lehren lassen sich für die Zukunft daraus ziehen?
Unsicherheit ist ein entscheidender Teil von Wissenschaft – und kein Makel. Eines der zentralen Probleme in der Wissenschaftskommunikation ist, wie man Unsicherheit kommunizieren kann, ohne den Eindruck entstehen zu lassen, dass sie etwas an der Verlässlichkeit der Wissenschaft ändert. Das ist etwas, was auch Wissenschaftlerinnen erst einmal lernen müssen. Denn diese Unsicherheiten, gerade in einer so dynamischen, komplexen Situation wie der Pandemie, kann man nicht einfach verschweigen. Das andere Problem betrifft die Normativität in den Wissenschaften. Also die Frage, bis zu welchem Grad die Wissenschaft, die ich betreibe, wirklich so objektiv ist, wie ich es als Wissenschaftlerin gern verkaufe: Wo bewege ich mich auf einem interpretativen Terrain? An welchen Stellen gebe ich eine Empfehlung, die meiner persönlichen Meinung als Wissenschaftlerin entspringt, aber nicht durch Modelle und Daten gestützt ist? Interpretation spielt immer eine wichtige Rolle. Die nackten, objektiven Fakten hat man in der Wissenschaft selten in völliger Reinheit vorliegen. Dieses Problem wird dann noch verschärft, wenn es Wissenschaftlerinnen gibt, die dem »Mainstream« widersprechen und öffentliche Kontroversen anregen, die sich vielleicht um Fragen drehen, die innerwissenschaftlich relativ unkontrovers sind. Das haben wir in der Pandemie gesehen.

Wie sollte die Wissenschaft mit solchen abweichenden Stimmen umgehen?
Das ist eine schwierige Frage. Jedenfalls sollte man diese ­abweichenden Stimmen nicht reflexartig ächten und aus dem Diskurs ausschließen. Denn wenn das auf der Grundlage ihres Abweichlertums geschieht, dann ist das gerade das, was man den Wissenschaftlerinnen gefährlicherweise vorwerfen würde, dass sie nämlich weltanschaulich operieren. Ich glaube, man muss mit solchen Leuten durchaus argumentieren. Letztlich ist es auch eine Frage an die Medien, wie man damit umgeht. Dabei gibt es einige grundsätzliche Checks, die man durchführen sollte, bevor man einen vermeintlichen Experten öffentlich zu Wort kommen lässt: Forscht der überhaupt zu dem Thema? Hat er dazu etwas veröffentlicht? Ist er in der Community angesehen? Wenn das alles der Fall ist, muss man sich mit der Stimme auseinandersetzen. Dann muss man diesen Vertreter aber auch damit konfrontieren, was die aktuellen Studien, ­abweichend von dem, was er selbst behauptet, empirisch ge­funden haben. Daneben gibt es natürlich auch die Abweichler, die aus anderen Gebieten kommen, die zu dem Thema gar nichts veröffentlicht haben. Das ist dann schon Grund genug, vorsichtig zu sein, und das muss man auch kommunizieren.

In der Pandemie war diese Unterscheidung aber nicht immer so einfach, siehe etwa die Diskussion um Hendrik Streeck.
Das stimmt natürlich. Aber es gibt einen wichtigen zusätzlichen Check: Sind vermeintliche Expertinnen auch bereit, ­eigene Irr­tümer öffentlich einzugestehen und ihr Unwissen zuzu­geben? Wenn man diesen Maßstab anlegt, dann trennt sich auch schon einige Spreu vom Weizen. Es liegt eine große Gefahr darin, dass wir dazu neigen, uns in die eigenen Blasen zurückzu­ziehen, weil es einfach so bequem ist. Wir müssen uns ständig kritisch selbst reflektieren: Warum will ich dem­jenigen jetzt nicht zuhören? Weil ich meine eigenen Argumente nicht kritisch hinterfragt sehen will – oder weil derjenige wirklich nicht die entsprechende Glaubwürdigkeit besitzt, die ich von einem Gesprächspartner, für den ich Zeit aufwenden will, erwarten würde?

»Die nackten, objektiven Fakten hat man in der Wissenschaft selten vorliegen.«

Was waren für Sie die überraschendsten Erfahrungen in der Pandemie?
Wissenschaftlich hat es mich schon überrascht, dass wir immer wieder diese Episoden hatten, in denen wir nicht wussten, warum sich die Fall­zahlen tatsächlich so entwickeln. Da hätte ich ­gedacht, dass wir schon besser verstehen, was da vor sich vorgeht. Wir haben zwar vieles darüber gelernt, wie bestimmte Maßnahmen wirken. Aber wir müssen auch bereit sein zu akzeptieren, dass uns diese Pandemie immer wieder völlig überrascht. Das kann man einerseits als Bankrott­erklärung der Wissenschaft sehen. Aber es zeigt eben auch sehr deutlich, dass wir bei solchen stark unterdeterminierten, komplexen Problemen epistemisch bescheiden bleiben sollten. Man muss immer dazu bereit sein, die eigenen Überzeugungen zu revidieren, auch wenn man dann öffentlich als wankelmütig angesehen wird. Die Pandemie hat uns Bescheidenheit gelehrt in ­Bezug auf unsere schnelle Erkenntnisfähigkeit.

Lernt man diese »epistemische Bescheidenheit« auch in der Astrophysik?
Absolut. Das ist das Wesen von komplexen Problemstellungen. Man hat eine Hypothese, die vielleicht in diesem Moment gut zu den Evidenzen passt. Aber es kann jederzeit eine neue Evidenz auftauchen, die der Hypothese widerspricht, sodass man sich etwas Neues ausdenken muss. Das ist in der Astrophysik ganz ähnlich. Man hat bestimmte Beobachtungen gemacht, man überlegt sich, was die zusammenhängende kausale Geschichte sein könnte, die das Ganze erklärt. Dass zum Beispiel ein Stern explodiert ist und dadurch die Umgebung aufgewärmt wurde. In der Astrophysik wie in der Pandemie hat man Situationen, die wir nicht experimentell künstlich verein­fachen können. Das wurde während der Pandemie auch immer wieder bemängelt: Wir haben keine richtigen Experimente, ­unsere Daten sind so schlecht. Das ist etwas, was man aus der Astrophysik gut kennt. Eben weil man nicht mit Sternen experimentieren, weil man den Kosmos nicht manipulieren kann. Deswegen braucht man viel Statistik, man muss sich ständig fragen, was sind meine Störfaktoren: Habe ich eine Korrelation, aus der ich eine Kausalität folgern kann – oder gibt es da andere Zusammenhänge?

Ihre Astrophysiker-Kolleg:innen wissen bis heute nicht, ob es da draußen intelligentes Leben gibt. Viele halten es aber
für durchaus möglich. Was würden Sie einen Alien fragen, wenn Sie einen treffen?

Ich würde schon an der Überlegung festhängen, welche Gemeinsamkeiten ich zwischen mir und dem Alien voraussetzen könnte, die darüber entscheiden, wie ich die Frage formulieren könnte. Einmal vorausgesetzt, wir hätten überhaupt eine sprachliche Kommunikationsform, würde es mich interessieren, was unsere geteilten Fakten sind. Welche Mathematik haben die Aliens? Ist die so wie unsere? Wie sieht es mit den Naturgesetzen aus?

Das ist natürlich eine sehr naturwissenschaftliche Per­spektive. Wäre es nicht weit mehr von Interesse zu wissen, ob diese Aliens auch unsere Idee der Liebe kennen?
Das würde ich erst mal für unwahrscheinlich halten. Konzepte wie Liebe oder Freundschaft kommen mir so genuin menschlich vor, dass ich gar nicht auf die Idee käme, einem Alien diese Frage zu stellen. Aber interessant! Wenn ich jemals einen Alien treffen sollte, wäre das vielleicht meine zweite Frage … •

Dieses Interview erschien zuerst in HOHE LUFT 1/2022 (aktuell im Handel). Hier können Sie das Heft versandkostenfrei bestellen. 

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