Aktuell, Artikel, Europa, Gesellschaft, HOHE LUFT, Interview, Onlinebeitrag, Politik, Wissenschaft
Kommentare 1

90. Geburtstag von Jürgen Habermas: „Der öffentliche Intellektuelle ist eine bedrohte Spezies“

 

Der weltbekannte Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas feiert seinen 90. Geburtstag. Was können wir im Jahr 2019 von ihm lernen? Wieso liest man Habermas auch in China? Und welche Frage würde sein Biograf, Stefan Müller-Doohm, ihm selbst gerne stellen?

Stefan Müller-Doohm ist emeritierter Professor für Soziologie an der Carl von Ossientzky Universität Oldenburg und Autor mehrerer Biografien, etwa von Theodor W. Adorno und  Jürgen Habermas (»Jürgen Habermas. Eine Biografie«, Suhrkamp). Im Interview mit HOHE LUFT spricht er darüber, warum Habermas nicht an die These der Postdemokratie glaubt, sehr wohl aber, dass wir uns mitten in einer Medienrevolution befinden und darüber, warum Habermas weltweit die Rolle eines geistigen Impulsgebers innehat.

 

HOHE LUFT: Mit Habermas sind viele theoretische Konzepte verknüpft – vom kommunikativen Handeln über den herrschaftsfreien Diskurs bis zur postsäkularen Gesellschaft. Welche Theorie hat heute die größte Aktualität?  

Müller-Doohm: Man kann die von Ihnen genannten Elemente nicht auseinanderdividieren. Die Theorie von Habermas ist in ihrer Vielschichtigkeit ein Ganzes. Was wir 2019 in einer politischen Dimension ganz besonders von ihm lernen können, ist der Entwurf einer streitbaren – in seinen Worten – deliberativen Demokratie. Eine Demokratie also, die aus dem Geiste der Kommunikation und vom Argumentieren lebt, zu der institutionell der Rechtsstaat und die Grund- und Menschenrechte gehören. In philosophischer Hinsicht zeigt Habermas uns, dass es – trotz aller historischer Rückfälle gestern und heute – die Vernunft gibt und sie im kommunikativen Gebrauch der Sprache, in der argumentativen Rede steckt. Gezeigt zu haben, dass wir uns im öffentlichen Gebrauch sprachlicher Verständigung vernünftig entscheiden können, ist eine seiner großen philosophischen Leistungen. Die von ihm entwickelte Diskursethik entwirft ein Modell für transparente und nachvollziehbare Begründungsprozesse, ausgehend davon, dass es keine Klärung des Wahren, Richtigen und Wahrhaftigen vor aller Prüfung geben kann.

Was sind die charakteristischen Züge der Denk- und Lebensweise von Habermas, der die intellektuelle Kultur Nachkriegsdeutschlands seit Mitte der 60er Jahre mitgeprägt hat? 

Was ihm keiner so schnell nachmacht, ist die fächerübergreifende Denkweise. Die Synthese von Philosophie, Soziologie und Gesellschaftstheorie und seine damit verbundene transdisziplinäre Arbeitsweise ist sehr produktiv. So ist in seinem neuen Buch, welches im Herbst erscheint, die Rede davon, dass die Philosophie eine Wissenschaft ist, die nach wie vor die große Aufgabe einer Selbst- und Welterklärung hat. Die Verbindung der Disziplinen und sein umfassender Anspruch machen ihn zu einem scharfsinnigen Zeitdiagnostiker mit einem sensiblen Blick für die Zukunftsprobleme dieses durch ökologische, militärische und wirtschaftliche Risiken gefährdeten Globus. Akute Gefahren für den Zustand der Demokratie sieht er in der unilateralen American-First-Politik und den rückwärtsgewandten Ideologien eines neuen Nationalismus und Rechtspopulismus. Auch von den Entwicklungen der durch die Bologna-Reformen modernisierten Universitäten ist er nicht begeistert, weil von der Humboldt’schen Universitätsidee wenig übriggeblieben ist.

Wie lässt sich die globale Wirkmächtigkeit – in der westlichen wie in der östlichen Hemisphäre – des Werkes von Jürgen Habermas erklären? 

 Man muss feststellen, dass Habermas weltweit die Rolle eines geistigen Impulsgebers spielt, denn er spricht brisante Themen an, die uns unter den Nägeln brennen wie etwa der Respekt gegenüber den demokratischen Spielregeln, die Stabilisierung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Ländern dieses Erdballs. Er verknüpft eine gesellschaftskritische Perspektive mit der eines öffentlichen Intellektuellen, der in die Debatte eingreift und sich politisch zu Wort meldet wie kürzlich durch die Diskussion mit dem Französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Dieses politische Engagement ist etwas Singuläres: Wie viele renommierte Wissenschaftler gibt es heute, die über ihren Tellerrand hinausschauen, ihren Elfenbeinturm verlassen und politisch in der Öffentlichkeit Stellung beziehen? Dieser öffentliche Gebrauch der Vernunft, für den Habermas als Theoretiker und Praktiker steht, befördert die weltweite Rezeption seines Werkes. In dem im Herbst erscheinenden, von mir mitherausgegebenen Band „Habermas Global“ diskutieren 40 Autoren aus 20 Ländern über Habermas und die Entwicklung seiner Theorie der Moderne im Kontext ihrer jeweiligen nationalen Erfahrungen und Wissenschaftskulturen. Die in die Tiefe gehende Kenntnis seines Werkes, nicht nur bei den Europäern und Amerikanern, sondern auch bei Koreanern, Japanern und Chinesen usw., ist verblüffend. Weil Habermas stets für Kritik an seinem Werk offen war, hat der Austausch von Argument und Gegenargument den weltweiten Wissenschaftsdialog befördert.

Erschwert der andere kulturelle Kontext nicht die Lektüre von Habermas’ Theorie der Moderne? 

 Nicht zwangsläufig. Habermas hat zum Beispiel in China deshalb die Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil er dort das Problem der Menschenrechtsverletzungen angesprochen hat und ganz generell darauf besteht, dass weltweit demokratische Verhältnisse geschaffen werden. Er hält an der von Kant entwickelten Idee einer „Weltbürgergesellschaft“ fest – einer, wie er sagt, Weltgesellschaft ohne Weltregierung. Ein solches Postulat macht natürlich die Runde.

Habermas war an allen großen theoretischen Debatten der Bundesrepublik beteiligt, mischte sich stets in gesellschaftspolitische Kontroversen ein. Wie hat er die politischen Debatten der Bundesrepublik geprägt? 

Historikerstreit, Bioethik, Wiedervereinigung, Irak-Krieg, Europa und eine Europäische Verfassung – ihn treibt alles Politische an und ich wüsste nicht, um welches Thema er einen Bogen gemacht hätte. Sein Lebensthema ist eindeutig die Demokratie und im Kontext dieser Frage nach Selbstbestimmung, Solidarität und Gerechtigkeit ist politisch eigentlich alles diskutierbar. Er hat als öffentlicher Intellektueller Jahrzehnte bundesrepublikanischer Geschichte begleitet und mit seinen Kritiken Einfluss auf die Mentalitätsgeschichte unseres Landes genommen.

Ist der öffentliche Intellektuelle denn heutzutage eine gefährdete Spezies?

Ja, definitiv. Heute ist der Medienintellektuelle, der sich selbst in Szene setzt, die dominante Figur. Der seriöse Intellektuelle, der mit Argumenten in die Öffentlichkeit geht und sich dort exponiert, ist eine aussterbende Figur. Gerade deswegen ist Habermas immer noch so eminent wichtig für uns! Mit dem Vertrauen auf den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« wendet er sich an die Öffentlichkeit und hofft, dass wir über das Argumentieren Lernprozesse durchmachen und zu intelligenten Lösungen bezüglich anstehender Probleme kommen.

Habermas ist Vertreter der »Kritischen Theorie« und wird nach Horkheimer, Adorno und Marcuse zur zweiten Generation gerechnet. Stellvertretend für eine dritte Generation wird Axel Honneth genannt, dieser schreibt jedoch, Habermas sei »einzig legitimer Nachfolger«. Ist Habermas der letzte bedeutende Repräsentant der kritischen Theorie?

Der Aspekt einer Generationenfolge ist in Bezug auf die kritische Theorie wenig ergiebig, denn ihre Erkenntnisse und Einsichten haben einen Zeitindex. Adorno hat immer wieder darauf bestanden, dass alle Gesellschaftstheorie einen Zeitkern hat. Die kritische Theorie ist selbsstreflexiv, kein Dogma. Habermas steht zwar im Traditionszusammenhang der kritischen Theorie, hat aber mit der frühen Version einer radikalen Vernunftkritik gebrochen   Er hat sich von Adornos Diagnose, wonach das »Ganze das Unwahre« ist, verabschiedet und eine nachmetaphysische Theorie entwickelt, die kein geschlossenes Weltbild liefert. Er geht davon aus, dass es keine letztgültige Wahrheit gibt und dass wir uns in unserem geschichtlich und gesellschaftlich situierten Denken immer irren können, weil es hypothetischer Natur ist. Am »alten Programm« hält er jedoch insofern fest, als er nicht davon ablässt, in kritischer Perspektive die Ursachen für Diskriminierung und Leid zu analysieren. Er ist sicherlich die entscheidende Figur, die die kritische Theorie in mehreren Schüben weiterentwickelt hat.

Seine Gesellschaftstheorie hat Habermas deshalb auch immer als Projekt bezeichnet – nicht abgeschlossen und endgültig, sondern vor dem Hintergrund neuer Erkenntnisse und Erfahrungen anschlussfähig. Wo lässt sich heute anknüpfen?

Habermas spricht beispielsweise an, dass durch den eigendynamischen Prozess der Digitalisierung eine neue Medienrevolution ansteht. Wir müssen uns darauf einstellen, in ganz neuen Dimensionen zu kommunizieren. Seiner Diagnose zufolge kann man noch nicht abschätzen, ob es zum Guten oder Schlechten gereicht, ob die neuen Medien die Partizipation befördern oder eher zentrifugale Tendenzen haben. Sind diese neuen Kommunikationsformen wie Twitter, Wikis, Blogs, Newsgroups der Demokratie zuträglich oder eine Gefahr? Habermas fordert an erster Stelle, dass sich die nationalen Medienöffentlichkeiten füreinander öffnen müssen. Der These einer Postdemokratie, also des Auslaufens der Demokratie angesichts neuer medialer Verhältnisse, steht Habermas skeptisch gegenüber. Denn er hält daran fest, dass der öffentliche Gebrauch der Vernunft immer noch aufklärerische Effekte hat, die dazu beitragen, dass wir zu intelligenten Lösungen kommen.

Welche Frage würden Sie selbst gerne an Jürgen Habermas richten?

Mit einem Gestus der Hochachtung würde ich fragen: »Lieber Herr Habermas, wie schafft man es bis ins Alter von 90 Jahren politisch so aktiv und wissenschaftlich so produktiv zu sein, dass man nach etwa 60 Büchern ein weiteres Werk von 1500 Seiten zustande bringt?«

Bald soll in Frankfurt über sein neues Werk diskutiert werden. Sie haben das Manuskript bereits gelesen, was können Sie verraten?

Es ist der faszinierende Versuch, durch einen Rückblick auf die abendländische Philosophiegeschichte zu erklären, wie sich das weltliche Vernunftdenken entwickelt hat, das er nachmetaphysiches Denken nennt. Im Vordergrund steht die Frage, in welchem Verhältnis Glauben und Wissen stehen. Er geht der osmotischen Beziehung zwischen Theologie und Philosophie nach und analysiert, wie sich diese beiden Denkweisen wechselseitig inspiriert haben alles in Hinblick auf einen modernen, säkularen Kontext.

 

Das Interview führte Marie Illner

1 Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert