Heftartikel, HOHE LUFT, Interview
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Worauf es wirklich ankommt

Derek Parfit (1942 – 2017) war einer der bedeutendsten Moralphilosophen der Gegenwart. 2013 gewährte uns der öffentlichkeitsscheue Großdenker ein außergewöhnliches E-Mail-Interview, das nicht nur im Zuge um die Fakten und Debatten um den Klimawandel von bleibender Aktualität ist. Im Interview mit HOHE LUFT spricht er über personale Identität, den Tod und seinen epochalen Entwurf einer universellen Moraltheorie.

Fragen und Text: Thomas Vašek
Fotos: Steve Pyke

Derek Parfit war vielleicht einer der größten Moralphilosophen seit Immanuel Kant. Parfits Theorie in seinem monumentalen Werk »On what matters« (»Worauf es ankommt«) lässt sich, in aller Kürze, so zusammenfassen: Als Vernunftwesen haben wir starke Gründe, uns um das Wohl anderer zu sorgen. Menschlichkeit ist rational. Was wir tun sollten, ist nicht subjektiv. Es gibt universelle moralische Wahrheiten, die genauso existieren wie etwa mathematische Wahrheiten: Dass Leiden schlecht ist, ist genauso wahr wie die Tatsache, dass 1+1 = 2 ist.
Schon Parfits erstes Buch »Reasons and Persons« war eine Sensation. Der Philosoph attackierte darin tiefsitzende Auffassungen von Moral und Vernunft. Mit ungewöhnlichen Gedankenexperimenten zeigte er etwa, dass es nicht immer am besten ist, wenn wir das tun, was für uns selbst am besten ist. Dass es sogar moralisch falsch sein kann, seinen eigenen Kindern Vorrang zu geben. Oder dass wir irren, wenn wir unseren eigenen Beitrag zum Klimawandel für moralisch vernachlässigbar halten. Dahinter stehen nach Parfit falsche Auffassungen über die menschliche Natur.
Wir haben nicht nur ein irriges Verständnis von Gründen. Wir liegen auch falsch in unserem Glauben, dass unsere Fortexistenz über die Zeit von unserer personalen Identität abhängt. Nach Parfit ist unser »Selbst« keine eigene Entität, sondern nichts als eine Kette von »psychologischen Verbindungen«. Das kommt buddhistischen Auffassungen sehr nahe. Parfits Theorie hat große Konsequenzen: Sie verändert nicht nur unser Verständnis von Moral, sondern relativiert sogar den Tod. In »On What Matters« liefert Parfit die philosophische Begründung, warum wir uns selbst nicht allzu wichtig nehmen sollten: »Worauf es am meisten ankommt, ist, dass wir reichen Leute etwas von unserem Luxus aufgeben, dass wir die Erde nicht weiter aufheizen und dafür Sorge tragen, dass es auf diesem Planeten weiter intelligentes Leben gibt.«

Gründe

Was uns als Menschen einzigartig macht, ist nach Parfit, dass wir Gründe verstehen und aus ihnen handeln können. Wir haben Gründe, etwas zu glauben, etwas zu wünschen oder zu tun. Nicht immer sind uns unsere Gründe dabei überhaupt bewusst. Nach Parfits Auffassung hat etwa ein Obstallergiker einen Grund, kein Obst zu essen – und zwar auch dann, wenn er von seiner Allergie nichts weiß. Das klingt selbstverständlich, doch für Philosophen ist es alles andere als das. Viele gehen nämlich davon aus, dass Gründe immer auf Wünschen basieren. Das scheint zunächst plausibel. Ohne einen Handlungswunsch können wir ja nicht frei handeln. Derek Parfit bekämpft diese Ansicht jedoch vehement. Unsere Handlungsgründe beruhen nach seiner Auffassung nicht auf Wünschen, sondern auf Tatsachen. Und wenn unsere Gründe für eine Handlung gewichtiger sind als unsere Gründe, etwas anderes zu tun, dann sollten oder müssen wir auf diese Weise handeln – ob wir es wünschen oder nicht. Das hat Auswirkungen auf unser Verständnis von Rationalität – und damit letztlich auch auf unser moralisches Handeln. In »On What Matters« illustriert Parfit sein Verständnis von Gründen mit folgendem Gedankenexperiment: Angenommen, Sie befinden sich in einem brennenden Hotel und können Ihr Leben nur retten, indem Sie aus dem Fenster in einen Kanal springen. Nach Parfit würde ein Zuschauer in diesem Fall nicht denken, dass Sie bloß den Wunsch haben zu springen. Vielmehr würde er glauben, dass Sie einen maßgeblichen Grund haben zu springen – und dass Sie einen schweren Fehler machen würden, wenn Sie es nicht täten. Die Tatsache, dass Ihr Leben bedroht ist, ist demnach ein Grund. Nach Parfit sind Gründe fundamentaler als Rationalität: Wir handeln erst dann vernünftig, wenn wir auf Gründe reagieren.

HOHE LUFT: Angenommen, ich bin in einem brennenden Hotel und kann mein Leben nur retten, indem ich aus dem Fenster springe. Aus Ihrer Sicht habe ich einen objektiven »Grund« zu springen – und nicht nur einen subjektiven »Wunsch«. Warum ist das so?
DEREK PARFIT: Ich behaupte nicht, dass wir »objektive« Gründe haben. Ich verwende das Wort »objektgegeben«, das eine andere Bedeutung hat. Gründe sind objektgegeben, wenn sie auf Tatsachen über den Gegenstand eines Ziels oder Wunsches basieren. Das sind oft Tatsachen, die diesen Dingen einen Wert verleihen.

Aber ich könnte doch einen starken Wunsch haben, in dem Hotel zu bleiben – etwa weil ich es liebe, mein Leben zu riskieren. Warum wäre dieser Wunsch kein Grund?
Nach meiner Auffassung gibt es keine Handlungsgründe, die durch unsere Wünsche gegeben sind. Wenn wir Gründe haben, einen Wunsch zu erfüllen, dann sind diese Gründe gegeben durch die Tatsachen, die uns Gründe für unseren Wunsch liefern. Wenn wir keinen Grund für einen Wunsch haben, dann haben wir auch keinen Grund, diesen Wunsch zu erfüllen. Es mag oft so scheinen, dass uns Wünsche Gründe liefern, aber sie tun es nicht wirklich.

Sie behaupten, dass Gründe auf gewisse Weise »existieren«. Was meinen Sie damit?
Nach meiner Auffassung gibt es normative Gründe. (Anmerkung: also Gründe, warum wir etwas tun sollten.) Aber ich lege kein Gewicht auf die Behauptung, dass solche Gründe in einem gewichtigen metaphysischen Sinn »existieren«. Wir können allerdings sagen, dass eine

Etwas ist nur dann wichtig, wenn und weil wir Gründe haben, es für wichtig zu halten.

Tatsache uns einen Grund für eine bestimmte Überzeugung, einen Wunsch oder eine Handlung liefert, wenn diese Tatsache dafür spricht, diese Überzeugung oder diesen Wunsch zu haben oder so zu handeln. Aber dieser Gebrauch der Phrase »spricht dafür« ist nichts anderes als zu sagen: »Das gibt uns einen Grund«.

In Ihrem Buch verwenden Sie viele Seiten darauf zu zeigen, warum es wichtig ist, dass es objektgegebene Gründe gibt. Aber was wäre so schlimm daran, wenn es solche Gründe nicht gäbe?
Wenn es keine objektgegebenen Gründe gäbe, dann wäre überhaupt nichts wichtig. Etwas ist nur dann wichtig, wenn und weil wir Gründe haben, es für wichtig zu halten. Manche Leute glauben, auch wenn nichts in diesem Sinn wichtig ist, seien manche Dinge doch für Menschen wichtig. Das ist zwar wahr, aber es bedeutet nur, dass diese Menschen einige Dinge für wichtig halten. Das ist keine normative Wahrheit.

Sie behaupten, wir seien die »Tiere, die Gründe sowohl verstehen als auch darauf reagieren können«. Wie passen die Emotionen in Ihr Bild?
Wir haben triftige Gründe, bestimmte Emotionen zu haben, und triftige Gründe, andere Emotionen nicht zu haben. So haben wir starke Gründe, keine vergeltenden Emotionen zu haben. Es ist niemals gerechtfertigt, anderen Menschen Böses zu wollen, weil sie falsch gehandelt haben.

Warum soll ich nicht einfach immer nur das tun, was mein Leben so gut wie möglich macht?
Aus meiner Sicht haben Sie durchaus triftige Gründe zu tun, was Ihr Leben am besten macht. Das liegt zum Teil daran, dass Sie Gründe haben, das wichtig zu nehmen, was für Sie am besten ist. Nach wunschbasierten Theorien haben wir keine solchen Gründe. Was ich ablehne, ist lediglich die Behauptung, dass unsere Gründe, das zu tun, was für uns selbst am besten ist, immer andere kollidierende Gründe überwiegen. Unser eigenes zukünftiges Wohlergehen ist nicht das höchste rationale Anliegen.

Wenn wir Handlungen beurteilen, konzentrieren wir uns oft auf die Einzelhandlung: Wenn ich mit meinem Auto zum Klimawandel beitrage, kann das nicht so schlimm sein. Ich bin ja nur einer von vielen.
Es ist hilfreich zu überlegen, was wir im Zusammenwirken mit anderen tun. Oft schätzen wir die Auswirkungen unserer eigenen Handlungen falsch ein. Eines meiner Hauptbeispiele ist der »harmlose Folterer«. Stellen Sie sich vor, jeder von tausend Folterern bereitet einem Opfer jeweils nur geringfügige Schmerzen. Doch alle zusammen fügen ihm schweres Leid zu. Jeder dieser Folterer, so behaupte ich, fügt anderen Menschen großes Leid zu, obwohl keiner das Leiden seines Opfers wahrnehmbar schlimmer macht. Wenn wir glauben, dass solche geringfügigen Effekte keine Rolle spielen, dann fügen wir anderen großes Leid zu. Zur globalen Erwärmung beizutragen, ist ein Beispiel dafür.

Personen

Menschen verändern sich ständig. Trotzdem gehen wir davon aus, dass wir die »gleiche Person« bleiben. Aber was macht die Kontinuität einer Person über die Zeit hinweg aus? Was verbindet die Person heute mit der Person in der Vergangenheit oder in der Zukunft? In »Reasons and Persons« attackiert Derek Parfit unsere gewohnte Vorstellung, was es heißt, eine Person zu sein. Nach seiner Auffassung ist eine Person keine Entität, die es nur »ganz oder gar nicht« geben kann – sondern etwas Graduelles, das auch in Abstufungen existiert, ähnlich einem Volk. Die Einheit unseres Lebens beruht nicht auf unserem »Selbst«, sondern vielmehr auf den Verbindungen, die zwischen unseren Erfahrungen bestehen.
Stellen Sie sich vor, man würde Ihr Gehirn (mit allen Ihren Erinnerungen und sonstigen mentalen Zuständen) in den Kopf eines anderen Menschen transplantieren – zurück bliebe Ihr Körper ohne Gehirn. Offensichtlich geht mit Ihrem Gehirn auch Ihr Geist auf einen anderen Körper über. Der Empfänger Ihres Gehirns würde also plötzlich denken, dass er »Sie« ist. Schließlich hat er alle Ihre Erinnerungen. Unsere personale Identität hängt demnach nicht von körperlichen Kriterien ab, sondern von gewissen »psychologischen« Verbindungen über die Zeit hinweg.
Nehmen wir etwa Erinnerungen: Wenn ich mich daran erinnern kann, dass ich gestern eine Pizza gegessen habe, dann gibt es offenbar eine Verbindung zwischen mir und dieser Person. Doch diese Person muss nicht notwendigerweise »ich« sein. Man könnte mir ja auch die Gedächtnisspuren eines anderen eingepflanzt haben, der eine Pizza gegessen hat. Dann wüsste ich, wie es für diesen Menschen war, eine Pizza zu essen. Parfit nennt das eine q-Erinnerung. Solche Verbindungen können nach Parfit aber auch zwischen unseren Überzeugungen, Wünschen und anderen mentalen Zuständen bestehen. Solange diese Verbindungen bestehen, existiert auch die Person in gewissem Sinne fort. Parfit stützt seine Sicht mit Gedankenexperimenten, die unsere gewohnten Intuitionen erschüttern sollen. Das berühmteste handelt von Teletransportation, also vom »Beamen«:

Stellen Sie sich vor, dass Sie in einen solchen Teletransporter einsteigen, der Sie in Lichtgeschwindigkeit zum Mars beamt. Das Problem ist nur: Ein Scanner muss dafür Ihren Körper auf der Erde zerstören, und ein Replikator setzt Sie auf dem Mars wieder neu zusammen. In dem Moment, in dem Sie auf dem Mars erwachen, merken Sie an sich keinen Unterschied. Doch es gibt eine Variante zu diesem Szenario: Diesmal werden Sie zwar auf dem Mars repliziert, doch Ihr Körper auf der Erde wird nicht zerstört. Jetzt existieren Sie doppelt. Aber was ist nun, wenn Sie auf der Erde sterben, während Ihr Replikant auf dem Mars weiterlebt? Ist dieser dann Sie? Oder sterben Sie, während nur eine Kopie von Ihnen weiterhin existiert?
Im ersten Szenario ist es irgendwie plausibel, dass Sie auf dem Mars einfach weiterexistieren. Schließlich hat sich für Sie ja nichts verändert. Im zweiten Szenario hingegen überschneidet sich Ihr Leben auf der Erde mit Ihrem Leben auf dem Mars.
Offenbar müssen Sie zur Kenntnis nehmen, dass der Typ auf dem Mars eine andere Person ist: Denn wenn Sie sich in den Finger stechen, spürt er nichts. Und während Sie auf der Erde sterben, lebt Ihr Replikant weiter. Aber wenn wir Parfit folgen und die Vorstellung aufgeben, dass es für unsere Fortexistenz auf persönliche Identität (unser »Selbst«) ankommt, dann können wir das Szenario in einem ganz anderen Licht sehen. Dann ist Ihr Replikant auf dem Mars zwar nicht Sie, da Sie ja tot sind. Aber wenn er noch genügend Erinnerungen und andere psychologische Verbindungen zu Ihrer früheren Person hat, dann existiert Ihre frühere Person gewissermaßen in ihm fort.
Aus Parfits Sicht ist das sogar »fast genauso gut wie die gewöhnliche Fortexistenz«. Eine solche radikal neue Sicht der Person hat natürlich Auswirkungen auf unser Verständnis von Rationa­lität und Moral. Von diesen »psychologischen Verbindungen« hängen nämlich unsere Verantwortung für frühere Handlungen und unsere moralischen Verpflichtungen ab. Wenn ich mich ­heute zum Beispiel nur an meinem Eigeninteresse orientiere – und beispielsweise beschließe, eine Karriere als Investmentbanker zu machen –, dann gehe ich davon aus, dass ich ein und dieselbe Person bleibe. Wenn ich aber in zehn Jahren nicht mehr dieselbe Person bin wie heute, dann habe ich heute wo­möglich keinen Grund, mich ausschließlich um meine Karriere zu sorgen – schließlich bin »ich« dann ja eine andere Person, die inzwischen womöglich ganz andere Überzeugungen und Ziele hat: etwa Geld oder Karriere nicht mehr so wichtig findet.
Worauf es nach Parfit ankommt, ist nicht die Weiterexistenz unseres »Selbst«, sondern die Stärke der psychologischen Verbindungen, die zwischen der Person heute und jener in zehn Jahren noch bestehen. Parfits Sicht kommt damit der buddhistischen Auffassung vom »Nicht-Selbst« sehr nahe. Parfits Moraltheorie geht daher nicht von einem Akteur über sein ganzes Leben hinweg aus, sondern von dem Akteur zum Zeitpunkt seiner Handlung. Was jemand vernünftigerweise tun sollte, hängt davon ab, was er zu diesem Zeitpunkt will oder glaubt.

HOHE LUFT: Ich sorge mich um meine Zukunft, weil ich denke, dass es »meine« Zukunft ist – also dass »ich« weiterexistiere. Aus Ihrer Sicht liege ich damit falsch…
DEREK PARFIT: Ich sage nur, dass unsere persönliche Identität keinen Grund dafür liefert, uns um unsere Zukunft zu sorgen. Das heißt jedoch nicht, dass wir keine Gründe hätten, uns um unsere Zukunft zu sorgen. Diese Gründe sind aber nicht durch die Tatsache gegeben, dass es »unsere« Zukunft ist, sondern durch verschiedene Tatsachen, die diese Zukunft zu unserer machen. Nehmen Sie folgenden fiktiven Fall: Angenommen, mein Gehirn wird in zwei Hälften geteilt, und jede Hälfte wird erfolgreich in den leeren Schädel eines anderen, ähnlichen Körpers transplantiert. In diesem Fall wäre keine der beiden resultierenden Personen ich, aber meine Beziehung zu jeder dieser beiden zukünftigen Personen wäre die gleiche wie die Beziehung, auf der meine persönliche Identität über die Zeit hinweg beruht. Diese zukünftigen Personen würden psychologisch zusammenhängen mit demjenigen, der ich jetzt bin. Und die Kontinuität hätte ihre normale Ursache, nämlich die fortgesetzte Existenz eines genügend großen Teils meines Gehirns. Zwar würde ich aufhören zu existieren. Aber die Gründe, mich um jede dieser beiden zukünftigen Personen zu sorgen, wären die gleichen wie meine gewöhnlichen Gründe, mich um meine eigene Zukunft zu sorgen. Und die gleichen Gründe hätten wir, uns um eine zukünftige Person zu sorgen, die ein perfekter Replikant von uns wäre, wenn auch ohne jegliche körperliche Kontinuität. Das ist der positive Gehalt meiner Sicht zur personalen Identität. Wichtiger ist mir allerdings, dass wir persönliche Identität missverstehen, wenn wir sie für eine gewichtige Tatsache halten, die nur »ganz oder gar nicht« existiert. Wenn wir erkennen, dass das nicht so ist, dann sollten und würden wir uns weniger um unsere eigene Zukunft sorgen, verglichen mit der Sorge um die Zukunft anderer.

Aber wie kann man anders als »ganz oder gar nicht« existieren?
Die meisten von uns sehen ein, dass die Fortexistenz der meisten komplexen Objekte keine »Ganz oder gar nicht«-Tatsache ist. Das zeigt sich zum Beispiel, wenn wir uns vorstellen, verschiedene Teile dieser Objekte durch neue Teile zu ersetzen. Wenn wir erst zehn Prozent ersetzen, dann 20 und 30 Prozent und so weiter, dann erkennen wir, dass es keine genau festgelegte »Alles oder nichts«-Wahrheit gibt, die uns sagt, ob dieses Objekt weiterhin existiert oder nicht. In verschiedenen fiktiven Fällen würde das auch für die Frage gelten, ob wir weiterexistieren, weil eine zukünftige Person »wir« ist. Ich beschäftige mich mit solchen Science-Fiction-Fällen, weil unsere Reaktionen auf diese Fälle zeigen, dass wir glauben, unsere Fortexistenz müsse eine Tatsache sein, die genau festgelegt und »ganz oder gar nicht« ist.

Ihre Sicht der persönlichen Identität ähnelt der Sicht des Buddhismus.
Das stimmt. Ich war begeistert, als ich von dieser Ähnlichkeit erfuhr. Die buddhistische Sicht heißt »Nicht-Selbst«. Das ist eine Übertreibung. Aber wenn diese Buddhisten die Existenz des Selbst bestreiten, dann bestreiten sie meiner Meinung nach, dass das Selbst eine Entität ist wie das kartesianische Ich (Anmerkung: sprich »Ich denke, also bin ich«), deren Fortexistenz genau festgelegt ist – und die nur »ganz oder gar nicht« existiert. Buddhisten glauben auch, wie ich, dass es schwer ist, diese falschen Annahmen über unsere Existenz aufzugeben.

Sind Menschen mit schweren kognitiven Defiziten, wie Demenzkranke, nach Ihrer Theorie noch Personen, auch wenn ihre Erinnerung und Persönlichkeit weitestgehend verschwunden sind?
Menschen mit fortgeschrittener Demenz sind ein Grenzfall. In solchen Fällen würde sicherlich der gleiche Mensch weiterexistieren. Allerdings habe ich meine Ansicht über Personen geändert. Ich würde jetzt unterscheiden zwischen Menschen und Personen, indem ich behaupte, dass eine Person kein Mensch ist, sondern der bewusste, denkende, steuernde Teil eines Menschen. Wenn mein Großhirn aus meinem Schädel entnommen und künstlich am Leben erhalten würde, dann würde ich als bewusstes denkendes Wesen weiterexistieren, dessen physische Basis eben dieses Großhirn ist. Und was zuvor mein Körper war, das wäre immer noch der Körper eines Menschen, der nun kein Bewusstsein mehr hat. Diese Unterscheidung hat eine gewisse Ähnlichkeit mit Unterscheidungen, die Menschen früher akzeptiert haben – wie etwa jene zwischen dem Menschen und dem, was man für die Seele dieses Menschen hielt.

Ich glaube, dass es insgesamt besser für uns wäre, wenn wir zeitlich neutral wären. Ich glaube sogar, das wäre die rationalste Haltung.

Wenn wir Sie richtig verstehen, dann meinen Sie, dass wir eine sogenannte »Bias«, also eine Verzerrung im Denken, in Richtung Zukunft haben – dass wir also dazu neigen, unsere eigene Zukunft überzubewerten.
Ich meine damit Folgendes: In unserer Sorge um Erfahrungen, die gut oder schlecht sein können, halten wir unsere zukünftigen Erfahrungen für wichtiger als jene, die in der Vergangenheit liegen. Nehmen Sie folgenden Fall: Ich liege im Krankenhaus und habe eine Operation. Da diese Art Operation als sicher gilt und immer erfolgreich ist, fürchte ich mich nicht vor den Auswirkungen. Die Operation könnte kurz sein oder länger dauern. Da ich mit dem Chirurgen kooperieren muss, bekomme ich keine Narkose. Ich hatte diese Operation schon einmal zuvor und kann mich erinnern, wie schmerzhaft sie ist. Nun wurde aber eine neue Richtlinie eingeführt: Weil die Operation so schmerzhaft ist, sorgt man dafür, dass die Patienten sie hinterher vergessen. Einige Medikamente löschen ihre Erinnerungen der letzten Stunden. Ich bin gerade aufgewacht. Nun frage ich die Schwester, wann meine Operation stattfindet und wie lange sie dauern wird. Sie sagt mir, dass sie zwar die Fakten über mich und einen anderen Patienten kennt, aber sie kann sich nicht erinnern, welche Fakten auf welche Person zutreffen. Sie kann mir nur sagen, dass Folgendes zutrifft: Ich könnte der Patient sein, der seine Operation gestern hatte. In diesem Fall war meine Operation die längste, die jemals durchgeführt wurde, sie dauerte zehn Stunden. Stattdessen könnte ich aber auch der Patient sein, dem heute noch eine kurze Operation bevorsteht. Es trifft also entweder zu, dass ich zehn Stunden leiden musste, oder dass ich heute noch eine Stunde leiden werde. Ich bitte die Krankenschwester herauszufinden, welche Version stimmt. Während sie weg ist, wird mir klar, welche Version ich bevorzuge. Wenn ich höre, dass die erste stimmt, werde ich erleichtert sein. Wegen meines »Bias« in Richtung Zukunft bin ich erleichtert, dass mein Leiden in der Vergangenheit liegt. Nun stelle ich mir einen zeitlich neutralen Menschen vor, der keine solche Schlagseite Richtung Zukunft hat. Ich glaube, dass es insgesamt besser für uns wäre, wenn wir zeitlich neutral wären. Ich glaube sogar, das wäre die rationalste Haltung.

Haben Sie persönlich Angst vor dem Tod?
Ich fürchte mich nicht wirklich vor dem Zustand der Nichtexistenz, obwohl ich manchmal die instinktive Angst vor dem Tod erlebe, die anscheinend die natürliche Selektion in uns erzeugt hat. In meinen Gedanken über den Tod beschäftige ich mich mehr mit einem anderen Thema, das Sie angesprochen haben: mit unserem »Bias« gegenüber der Zukunft. Von jenen Menschen, die sich große Sorgen über den Tod machen, sorgen sich viele nicht wegen des zukünftigen Zustandes der Nichtexistenz, sondern wegen der Tatsache, dass sie, je näher der Tod heranrückt, immer weniger haben, auf das sie vorausblicken können. Auf meinen fiktiven, zeitlich neutralen Menschen, den ich »Timeless« nenne, würde das nicht zutreffen. Wenn Timeless dem Tod entgegenginge, würde er denken: »Ich habe zwar nichts, auf das ich vorausblicken kann, aber ich habe mein ganzes Leben, auf das ich zurückschauen kann.« Und wenn Timeless ein gutes Leben hatte, dann wäre das genauso gut für ihn. Diese Haltung unterscheidet sich sehr von unserer. Wie die Harvard-Philosophin Frances Kamm einmal geschrieben hat: Einer der Einwände gegen den Tod ist, dass alles vorbei ist, wenn wir sterben. Wenn wir gerade zur Welt gekommen wären, mit unserem Leben vor uns, könnten wir ganz ähnlich denken: Alles liegt noch vor uns! Aber das wäre für uns kein so bedrückender Gedanke. Mein Interesse am »Bias« gegenüber der Zukunft hängt eng zusammen mit der zentralen metaphysischen Frage, über die ich noch mehr nachdenken will. Wie manche andere neige ich dazu zu glauben, dass das Verstreichen der Zeit, wie wir es oft nennen, eine Illusion ist. Wir glauben an das Verstreichen der Zeit, wenn wir glauben, dass wir uns irgendwie durch die Zeit in die Zukunft bewegen oder dass zukünftige Ereignisse näher rücken. Nach der »zeitlosen« Sicht machen diese Metaphern keinen Sinn. Zeit ist dann mehr wie der Raum. Wenn wir aufhören, an das Verstreichen der Zeit zu glauben, dann beginnen wir anzuerkennen, was manche die »Stille« der Zeit genannt haben. Wie der Leiter meines Colleges einmal schrieb, am Ende jeder Strophe eines düsteren Gedichts über seinen Tod: »Näher jetzt als gestern«. Wenn das Verstreichen der Zeit eine Illusion ist, wie ich zu glauben neige, dann können wir antworten: »Es ist wahr, dass unser Tod heute näher ist, als er gestern war. Aber das ist nur wie die Tatsache, dass New York näher bei Boston liegt als Washington.« Dieser Vergleich macht die Dinge so friedvoll.

Worauf es ankommt

Seit Kant ist die Moralphilosophie in zwei große Lager gespalten, die einander scheinbar unversöhnlich gegenüberstehen. »Konsequenzialistische« Theorien wie der Utilitarismus beurteilen Handlungen nach ihren Folgen für alle Beteiligten. Moralisch richtig ist eine Handlung, wenn sie unterm Strich zu einem guten Ergebnis führt. Auf die persönliche Perspektive des Akteurs kommt es dabei nicht an. Am Ende zählen nur die objektiven Auswirkungen seiner Handlung. Eine konsequenzialistische Sicht kann sogar fordern, Menschen zu töten oder ihnen sonstwie zu schaden, um das Wohlergehen anderer zu fördern. So betrachtet, kann es etwa moralisch gerechtfertigt sein, ein Versprechen zu brechen, wenn das zu besseren Konsequenzen führt.
Die »deontologische« Ethik in der Tradition Kants hingegen lehnt diese Sicht radikal ab. Nach dieser Auffassung hängt die moralische Beurteilung einer Handlung nicht von deren Ergebnis ab. Moralisch gerechtfertigt ist eine Handlung nur dann, wenn sie einer moralischen Norm entspricht. Und moralisch falsche Handlungen sind auch dann verboten, wenn sie Schlimmeres verhindern. Die Perspektive des Handelnden spielt dabei eine zentrale Rolle. Nach Kant müssen unsere Handlungsgründe allerdings nach folgender Regel verallgemeinerbar sein: Wenn ich aus einem bestimmten Grund handele, dann muss ich wollen können, dass jeder andere in der gleichen Situation aus dem gleichen Grund handelt.
Beide Ansätze haben jedoch ihre Schwächen. Viele Philosophen glauben heute, dass Kants kategorischer Imperativ (»Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«) ein leerer Formalismus ist und nicht immer weiterhilft, um moralisch problematische Handlungen auszusortieren. Nach Kant darf ich kein falsches Versprechen abgeben, denn wenn jeder das tun würde, würde das die Institution des Versprechens ruinieren – mit der Konsequenz, dass es auch für mich selbst keinen Sinn mehr hätte, ein Versprechen abzugeben. Allerdings könnte jemand die Institution des Versprechens überhaupt ablehnen – und damit in Kauf nehmen, dass auch ihm gegenüber falsche Versprechen gemacht werden.
Jede deontologische Ethik kämpft zudem mit einem Paradox: Aus ihrer Sicht darf man eine Pflicht auch dann nicht verletzen, wenn dadurch die Verletzung mehrerer anderer Pflichten verhindert wird. Aber wenn ein Mord in sich moralisch falsch ist, dann ist schwer einzusehen, warum es falsch sein soll, einen Mord zu begehen, um zwei weitere zu verhindern. Ein typisches Beispiel wäre ein Tyrannenmord: Ein deontologischer Ethiker müsste eine solche Tat auch dann ablehnen, wenn dadurch weitere Verbrechen des Diktators verhindert werden könnten. Aber auch der Konsequenzialismus hat gravierende Schwächen, weil er die Perspektive des Akteurs weitgehend ignoriert. Zugleich fragt sich, ob Akteure wirklich immer in der Lage sind, die Konsequenzen ihres Handelns abzuschätzen.
In seinem Buch versucht Parfit, die scheinbar unvereinbaren Auffassungen zusammenzubringen. Nach Parfits Lesart läuft eine von Kants berühmten Formeln – »Handle stets nach einer Maxime, die zugleich als allgemeines Gesetz gelten kann« – auf folgende sehr ähnliche Formel hinaus: »Jeder sollte Prin­zipien folgen, deren universelle Akzeptanz jeder vernünftiger­weise will.«
Das können nach Parfit aber nur Prinzipien sein, deren An­wendung das bestmögliche Ergebnis produziert. Das ist die utilitaristische Sicht. Wir sollten ihnen aber nicht deshalb folgen, weil sie die besten Konsequenzen haben – sondern weil wir vernünftigerweise wollen, dass sie von allen akzeptiert werden. Das ist die Kant’sche Perspektive. Sogenannte Kontraktualisten, das ist die dritte große Strömung, vertreten die Auffassung, dass Moral auf einer Art Vertrag beruht. Besonders einflussreich ist die Version des amerikanischen Philosophen Thomas Scanlon. Seine Kurzformel lautet: »Jeder sollte Prinzipien folgen, die niemand vernünftigerweise zurückweisen kann.« Und diese wiederum läuft auf etwas Ähnliches hinaus wie Parfits revidierte Fassung des kategorischen Imperativs.
Letztlich versuchen nach Parfit alle drei Theorien – also die Kant’sche Ethik, der Utilitarismus und der Kontraktualismus – den »gleichen Berg von verschiedenen Seiten aus zu besteigen«. Das führt schließlich zu Parfits »Triple Theory« – seiner vorläufigen Endversion: »Eine Handlung ist dann falsch, wenn solche Handlungen von einem Prinzip untersagt werden, welches das beste Ergebnis produziert, universell gewollt werden und von niemandem vernünftigerweise abgelehnt werden kann.« Am Ende steht eine große Versöhnungsformel – und die Hoffnung, dass es eben doch nur eine wahre Moraltheorie gibt.

HOHE LUFT: In Ihrer Philosophie zielen Sie auf unpersönliche, sachliche Prinzipien. Warum ist Ihnen diese »Unpersönlichkeit« so wichtig?
DEREK PARFIT: Es geht mir nicht um »unpersönliche« Prinzipien. Allerdings glaube ich an die große Bedeutung bestimmter unparteilicher Prinzipien, nach denen das Wohlergehen jedes Menschen gleich viel zählt. Nach meiner Auffassung können manche Resultate in einem unpersönlichen Sinn besser oder schlechter sein. Das bedeutet allerdings nur, dass sie nicht einfach nur besser oder schlechter für bestimmte Menschen sind. Wenn ein Erdbeben mehr Menschen tötet als ein anderes, dann wäre das Ergebnis in diesem »unpersönlichen« Sinn schlechter, aber nur, weil es schlechter ist für die Menschen, die getötet werden, ihre Angehörigen usw. Weniger Bedeutung messe ich in bestimmten Kontexten auch Wahrheiten über persönliche Identität bei, das ist eine andere Art, »unpersönlich« zu sein. Wenn wir die Auswirkungen unserer Handlungen und Richtlinien auf künftige Generationen betrachten, müssen wir die Annahme aufgeben, dass eins von zwei Ergebnissen nicht schlechter als das andere sein kann, wenn es niemanden gibt, für den es schlechter wäre. Der Grund liegt darin, dass es in den verschiedenen Ergebnissen verschiedene Menschen wären, die später leben. Wenn wir die Lebensqualität in der fernen Zukunft stark reduzieren, könnte das sehr schlecht sein, und zwar auch dann, wenn es für niemanden schlechter wäre – und zwar aus dem Grund, dass die Menschen, die später leben, ein lebenswertes Leben führen wollen. Diese bestimmten Menschen hätten in dem anderen, besseren Szenario aber gar nicht existiert.

Normative Wahrheiten müssen nicht durch etwas anderes wahr gemacht werden.

Gibt es ein Fundament, auf dem ein ethisches System aufgebaut werden kann?
Ich bin der Auffassung, dass die Ethik ein solches Fundament weder braucht noch haben kann. Normative Wahrheiten müssen nicht durch etwas anderes wahr gemacht werden. Diese Sicht wurde von vielen religiösen Leuten vertreten. Statt zu glauben, dass Handlungen falsch sind, weil Gott sie verbietet, glauben diese Leute, dass Gott diese Handlungen verbietet, weil sie falsch sind. Ich glaube mich zu erinnern, dass Thomas von Aquin einer der vielen Christen war, die diese Sichtweise hatten. Kein wahres ethisches System kann in den Geboten Gottes gründen.

Sie sagen, dass es objektive moralische Wahrheiten gibt.
Aber wie kann es moralische Wahrheiten geben, wenn es keine moralischen Fakten gibt?
Ich unterscheide nicht zwischen moralischen Wahrheiten und moralischen Tatsachen. Wir haben eine gewisse Tendenz, das Wort »Tatsache« zu verwenden, wenn wir uns auf Tatsachen über die natürliche Welt beziehen. Moralische Wahrheiten sind nicht von dieser Art. Darin ähneln sie logischen und mathe­matischen Wahrheiten, die wir auch nicht ohne Weiteres als Tatsachen ansehen.

Sie behaupten, moralische Wahrheiten seien wahr in dem Sinne, in dem mathematische Wahrheiten wie 1+1 = 2 wahr sind, also auch wenn Zahlen nicht tatsächlich existieren. Würden Sie die Ethik also mit der Mathematik vergleichen, wo völlige Übereinstimmung über wahre Sätze erzielt werden kann?
Ich behaupte zweierlei: Platonisten und Nominalisten stimmen darin überein, dass Zahlen nicht in Raum und Zeit existieren, sie sind sich aber uneinig, ob Zahlen in einem bestimmten ontologischen Sinn existieren, wenn auch nicht in Raum und Zeit. Ich behaupte, diese Frage ist nicht klar genug gestellt. Ich glaube tatsächlich, dass Zahlen in einem anderen, nicht ontologischen Sinn existieren, wie viele andere abstrakte Gegenstände auch. Statt zu versuchen zu entscheiden, welche Entitäten unsere Ontologie zulässt, sollten wir über die verschiedenen Arten diskutieren, in denen verschiedene Arten von Dingen existieren, und in welcher Beziehung diese Dinge zueinander stehen.

Ihr Projekt zielt darauf ab, Uneinigkeit in der Moralphilosophie zu beseitigen. Werden die Philosophen in ethischen Fragen jemals zu einer Übereinstimmung kommen?
Wir kommen ihr zumindest näher. Wir können plausiblerweise hoffen, dass wir, unter idealen Bedingungen, alle hinreichend ähnliche normative Überzeugungen haben.

Warum glauben Sie an Fortschritt in der Moral?
Wir haben große Fortschritte auf dem Weg zur Überzeugung gemacht, dass das Wohlergehen jedes Menschen gleich wichtig ist, und dass das Leiden anderer Tiere, wenn es genauso groß ist, auch genauso wichtig ist wie unser eigenes.

Was macht Sie so sicher, dass es überhaupt ein höchstes moralisches Prinzip gibt, das alle moralischen Werte erfasst?
Ich glaube nicht, dass es ein solches Prinzip gibt. Ich versuche nur zu zeigen, dass die drei Haupttheorien der Moralphilosophie – der Kantianismus, Kontraktualismus und Utilitarismus – auf bestimmte Art revidiert werden müssen und dass sie in ihren besten Formen grob übereinstimmen. Aber das Prinzip dieser Triple Theory erhebt nicht den Anspruch, Fragen zu allen Werten zu beantworten.

Sie behaupten, dass die bisherigen Moralphilosophen nur von verschiedenen Seiten auf den gleichen Berg gestiegen seien. Aber was macht Sie so sicher, dass es einen einzigen Gipfel gibt – und nicht viele davon?
Ich behaupte nicht, dass alle systematischen Theorien versuchen, auf den gleichen Berg zu steigen. Meine zentrale Behauptung ist, dass Kants kategorischer Imperativ auf zwei Arten revidiert werden muss: Erstens, indem man den Begriff der Maxime im Sinne von Prinzipien aufgibt. Zweitens, indem man daran appelliert, was jeder rationalerweise wollen kann. Diese revidierte Kant’sche Formel kann funktionieren, aber nur in der Weise, dass sie grob mit dem Regelkonsequenzialismus (Anmerkung: eine Spielart des Konsequenzialismus) zusammenfällt.

Niemand verdient es zu leiden, unabhängig davon, wie moralisch abstoßend eine solche Person ist.

Aber warum sollten universelle Prinzipien wie Ihre Triple Theory irgendjemanden kümmern? Wie könnten sie unser ethisches Leben verändern?
Ich versuche die Sicht zu verteidigen, dass einige Dinge wichtig sind, weil wir Gründe haben, sie um ihrer selbst für wichtig zu halten. Moral ist eines der Dinge, die wichtig sind. Aber ich glaube nicht, dass die meisten von uns sich sehr um die Triple Theory sorgen sollten. Mit dieser Theorie verfolgte ich ein eingeschränkteres philosophisches Ziel. Es wäre beunruhigend, wenn die meisten wichtigen systematischen Moraltheorien in tiefem Konflikt miteinander stünden. Aber die meisten von uns akzeptieren bereits eines oder mehrere Prinzipien von der Art, wie sie von der Triple Theory unterstützt werden, weil sie zu den Prinzipien gehören, deren allgemeine Akzeptanz zum besten Ergebnis führt, vor allem wegen ihrer Wirkungen auf das Wohlergehen der Menschen und anderer fühlender Wesen.

Nach Ihrer Theorie ist alles Leiden schlecht. Aber können wir wirklich so unparteiisch sein? Wäre es wirklich schlecht, wenn ein Hitler leiden müsste?
Meine Antwort lautet: Ja. Niemand verdient es zu leiden, unabhängig davon, wie moralisch abstoßend eine solche Person ist.

Manche Menschen leiden freiwillig. Handeln die dann unethisch?
Es verblüfft mich, dass Sie mir diese Frage stellen. Nichts in meinen Büchern legt diese Sicht nahe. Allerdings bin ich der Auffassung, dass es manchmal irrational ist, freiwillig Schmerz zu erleiden. Aber das hängt von den Gründen ab, warum jemand das will.

Worauf es aus meiner Sicht am meisten ankommt, ist tatsächlich, dass wir die Menschheit in die Lage versetzen zu überleben.

Sie versuchen eine tragfähige, nichtreligiöse Ethik zu entwickeln. Eine Reihe von ethischen Prinzipien verwerfen Sie, indem Sie zeigen, dass diese zu Konsequenzen führen, die unseren Intuitionen widersprechen. Es scheint, als würde Ihr ganzes ethisches System in der Intuition gründen. Aber legen Sie damit nicht zu viel Gewicht auf etwas, das uns oft auch täuschen kann?
Wie viele andere Philosophen glaube auch ich, dass wir sonst nichts haben, an das wir appellieren können. Wir können unsere ethischen Prinzipien nicht verteidigen, indem wir an die moralische Sprache appellieren. Noch glaube ich, dass wir an die Gebote Gottes appellieren sollten. Unsere Intuitionen können uns tatsächlich in die Irre führen. Und ich zeige anhand einiger hypothetischer Beispiele, wie sie uns in die Irre führen können. Aber normative Wahrheiten sind eben keine empirisch feststellbaren Fakten über die Welt. Sie sind stattdessen wie logische oder mathematische Wahrheiten. Wir müssen an unsere Intui­tionen appellieren auf die gleiche Weise, in der sogar Logiker und Mathematiker an die Intuition appellieren. Diese Intuitionen betreffen oft selbstevidente Wahrheiten, was nicht heißt, dass wir diese Wahrheiten anerkennen müssen. Aber es bedeutet, dass unsere Rechtfertigung, warum wir diese Wahrheiten glauben, nicht durch Beweise gegeben ist, sondern durch den Inhalt dieser Wahrheit – also durch das, was wir glauben. Eine solche Intuition ist etwa die Überzeugung, dass kein Satz zugleich wahr und falsch sein kann. Eine andere ist: Wenn wir wissen, dass ein Argument gültig ist und wahre Prämissen hat, dann muss auch die Konklusion wahr sein, diese Tatsachen geben uns entscheidende Gründe, diese Konklusion zu glauben. Diese Behauptung über epistemische Gründe ist eine normative Wahrheit, die in diesem Sinne selbstevident ist. Eine andere solche Wahrheit ist, dass wir alle Gründe haben, zukünftiges Leiden zu vermeiden. Es ist erstaunlich, dass so viele gebildete Menschen immer noch glauben, dass alle unsere Handlungsgründe durch unsere Wünsche gegeben sind, und dass wir keine Gründe haben können, diese Wünsche zu haben oder uns um etwas um seiner selbst willen zu sorgen. Manche von diesen Leuten verstehen nicht einmal das Konzept eines normativen, objektgegebenen Grundes, einen Wunsch zu haben. Und es ist ebenso überraschend – und deprimierend –, wie sehr manche gebildete Menschen normative Fragen missverstehen. Ich denke da an einen Ökonomen, der in seiner Vorlesung erklärte, er habe kein Werturteil abgegeben. »Haben Sie doch«, sagte jemand, »schließlich haben Sie behaup­tet, dass wir eine Politik, die für einige Leute gut ist und für niemanden schlecht, annehmen sollten.« – »Das ist doch kein Werturteil«, sagte der Ökonom: »Jeder akzeptiert das.«

Läuft die »unparteiliche« Stoßrichtung Ihrer Theorie nicht letztlich darauf hinaus, dass wir am meisten Grund haben, unser Überleben als rationale menschliche Wesen zu sichern?
Worauf es aus meiner Sicht am meisten ankommt, ist tatsächlich, dass wir die Menschheit in die Lage versetzen zu überleben. Denn zukünftige Menschen werden womöglich ein viel besseres Leben führen als die meisten von uns heute – und viel größere Dinge erreichen. Wir wissen noch nicht, ob es andere rationale Wesen irgendwo im Universum gibt. Da rationale Wesen auf der Erde für eine weitere Milliarde Jahre überleben könnten, wäre es furchtbar, wenn wir das verhindern würden.

Ihre Art, Philosophie zu treiben, erinnert uns ein wenig an Spinoza. Sind Sie glücklich mit diesem Vergleich?
Der Vergleich ist sehr schmeichelhaft. Aber ich kenne Spinozas Ansichten zu wenig.

Was haben Sie als Nächstes vor?
Ich werde weiter an moralphilosophischen Fragen arbeiten. Derzeit muss ich allerdings auf Kommentare zu meiner Theorie antworten. Es freut mich zu sehen, dass meine Ansichten und die anderer immer mehr zusammengehen. Vielleicht versuche ich auch noch, eine weitere Triple Theory zu entwickeln.

Dieses Interview erschien in HOHE LUFT 2/2013, sowie in HOHE LUFT kompakt »Die großen Philosophen unserer Zeit im Gespräch«

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