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»Während wir sprechen ist eine kulturelle Revolution im Gange«

Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama hat ein Buch über »Identität« ­geschrieben. Wir sprachen mit ihm über die ­Gefahren einer Politik, die sich einzelnen Gruppen verschreibt, über die Gründe für Nationalismus und ­darüber, was es braucht, damit ­Gesellschaften offen bleiben und sich dennoch als Einheiten verstehen.

Anfang der 1990er-Jahre rief Francis Fukuyama das »Ende der Geschichte« aus – damals ahnte er noch nicht, in welchem Zustand die westlichen Demokratien im Jahr 2019 sein würden. Die berühmt gewordene These des Politikwissenschaftlers, der an der kalifornischen Stanford Universität lehrt, wurde von vielen missverstanden. Fukuyama wollte nicht sagen, dass die Weltgeschichte in dem Sinne zu Ende sei, dass ab diesem Zeitpunkt nichts Nennenswertes mehr geschähe. Seine Aussage war in einem Hegel’schen Geschichtsverständnis gemeint, nach welchem sich die weltgeschichtliche Entwicklung auf ein Ziel hin bewege. Nicht im Kommunismus, wie Karl Marx (1818–1883) dachte, sondern in der liberalen Marktwirtschaft fänden die gesellschaftlichen Entwicklungskämpfe ihr Ende, so Fukuyama.

Einer der Gründe, weshalb sich die Demo­kratie als System durchsetzen würde, sei, dass Demokratien ihren Bürgern die Anerkennung ihrer Identität am besten zusichern könnten. Davon, wie dieser Prozess der Anerkennung heute jedoch vielerorts in der Krise steckt, handelt Fukuyamas neues Buch »Identität«. Er übt darin Kritik sowohl an linker als auch an rechter Identitätspolitik und vertritt zugleich die These, dass Demokratien das Bedürfnis der Menschen nach Anerkennung ernster nehmen müssen, um stabil zu bleiben. Für unser Skype-Gespräch nahm sich Fukuyama recht spontan Zeit – noch bevor er nach Europa flog, um sein Buch vorzustellen.

 

HOHE LUFT: Herr Fukuyama, Ihr neues Buch heißt »Identität«. Warum schreiben Sie als Politikwissenschaftler ein Buch über Identität?

FRANCIS FUKUYAMA: Das hat mit dem globalen Aufstieg des Populismus zu tun. In vielen Ländern, inklusive meines eigenen, der USA, haben wir Populisten gewählt, die versuchen, den Diskurs zu verschieben von der ursprünglichen Links-Rechts-Polarisierung des 20. Jahrhunderts, die größtenteils von ökonomischen Fragen bestimmt war, hin zu ­einer, die von Identität bestimmt wird. Donald Trump zum Beispiel hätte sehr gut Wahlkampf machen können mit der amerikanischen Wirtschaft, aber er wählte die Bedrohung durch eine Migranten-Karawane und die Grenzen, die er mit Truppen schützen will. Das ist eine Verschiebung zu einer Politik der Identität. Ich denke, das Thema ist entscheidend geworden, auf eine Art sogar eine Bedrohung der liberalen Demokratie, und ich denke, es ist ein vielfältigeres Phänomen, als gemeinhin angenommen wird.

Was begreifen wir denn nicht an der Identität?

Bei Platon fragt Sokrates, ob die Seele nicht eigentlich drei Teile hätte, neben den Bedürfnissen und der Vernunft auch einen, den er Thymos nennt, was oft mit Stolz oder Lebenskraft übersetzt wird. Er steht für das Bedürfnis jedes Menschen, anerkannt zu werden, geschätzt zu werden für seinen inneren Wert und seine Würde. Und ich denke, das ist ein wichtiges Konzept, denn die moderne Ökonomie, die – zumindest in den USA – dominiert, wie wir über menschliches Verhalten nachdenken, zieht diesen dritten Teil der Seele nicht in Betracht. Ökonomen sagen, wir agieren entweder nach unseren Bedürfnissen oder eben vernünftig, aber sie verstehen diesen dritten Teil der Seele, diese Sehnsucht nach Würde, nicht.

Was genau verstehen Sie unter Thymos?

Thymos ist eine universelle menschliche Eigenschaft, aber es gibt eine bestimmte moderne Form, die dieser annimmt, die ich auf Martin Luther zurückführe. Denn die Idee der Reformation war ja, dass das innere Selbst eigentlich das Wertvolle ist. Luther meinte, dass die katholische Kirche am äußeren Menschen arbeitet mit ihren Ritualen und Beichten, aber vor den Augen Gottes zähle das alles nicht, sondern nur der Glauben, das Innere des Menschen. Ich denke, das war eine entscheidende Veränderung im westlichen Denken, weil die meisten sozialen und politischen Systeme auf äußere Regeln bestehen, sie möchten, dass sich die Menschen der Gesellschaft anpassen. Aber mit Luther war plötzlich jemand da, der sagte: Nein, das innere authentische Selbst ist eigentlich das Wichtige, und später haben Denker wie Rousseau, Kant und Hegel das auch auf das säkulare Ich übertragen. Ich denke, das steht im Kern des westlichen Nachdenkens über Identität: dass wir alle ein inneres Selbst haben, das wertvoll ist und das oft nicht akzeptiert oder anerkannt wird von der äußeren Gesellschaft.

Und Sie meinen, dieses innere Selbst ist uns heute so wertvoll geworden, dass wir es der Gesellschaft nicht mehr anpassen wollen?

Genau, die Aufgabe ist heute nicht mehr, sich der Gesellschaft anzupassen, sondern die Aufgabe ist, die Gesellschaft so anzupassen, dass sie das Individuum anerkennt. Und ich denke, das ist auch die Basis vieler Identitätsbewegungen in der Politik heute. Denken Sie zum Beispiel an die Ehe für Homosexuelle. Dabei geht es fast nur um Anerkennung durch die Gesellschaft. Die rechtlichen und ökonomischen Aspekte, wer darf erben etc., hätte man auch mit einem anderen Bund, wie etwa der civil union, regeln können. Aber für die LGBTQ-Community war das nicht genug, denn was sie wollte, war die Anerkennung, dass eine homosexuelle Verbindung einer heterosexuellen moralisch ebenbürtig ist. Das war ein Punkt, an dem die Gesellschaft sich verändern musste. Während wir hier sprechen, ist eine kulturelle Re­volution im Gange, in der diese Beziehungen neu definiert ­werden. Das ist moderne Identität.

Wenn Anerkennung für Menschen so wichtig ist, dann ist es doch etwas Gutes, mit solchen Bewegungen dafür kämpfen zu können.

Das, was moderne Identitätspolitik genannt wird, basiert auf diesem Gefühl, dass man nicht recht respektiert wird, obwohl gleicher Respekt für alle doch die Idee jeder modernen Demokratie ist. Eine moderne Demokratie erkennt ihre Staatsbürger an, indem sie allen die gleichen Rechte gibt. Aber offenbar reicht das nicht, deshalb gibt es diese Bewegungen. Aber ich denke, das ist auch problematisch.

Wissen Sie, das erste Mal, dass moderne Identitätspolitik in Erscheinung getreten ist, war eigentlich der Nationalismus des 19. Jahrhunderts. Aus der Französischen Revolution waren zwei große Stränge hervorgegangen, eine universalistisch-­liberale Lehre der Menschenrechte und der französische Nationalismus, der meinte, Frankreich müsse sich gegen seine Feinde verteidigen. Dabei ging es nicht um eine universale Identität als Mensch, sondern um die Menschen, die Französisch sprachen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelten sich diese nationalistischen Ideen weiter und führten letztlich zu zwei Weltkriegen. Aus der Forderung nach gleichen Rechten entwickelt sich oft die Forderung nach einer höheren Würde, danach, andere zu dominieren. Das macht Identität als Bewegung politisch so problematisch.

Das ist interessant. Sie sagen einerseits, wir sollten stärker bedenken, wie sehr jeder Mensch Anerkennung braucht, andererseits kritisieren Sie die Identitäts­poli­tik, die genau dafür kämpft. Wann ist Identitäts­politik nun gut, und wann ist sie schlecht?

Eines der grundlegenden Probleme ist die Verschiebung von der Forderung nach Anerkennung meiner Individualität zu meiner Anerkennung als Mitglied einer Gruppe. Ich denke, viele frühere Versionen von Identitätspolitik waren eher Ersteres. Es ging darum, sich individuell auszuleben. Bei der anderen Form geht es um die kollektive Identität meistens marginalisierter Gruppen wie Minderheiten, Frauen, Homosexuelle, behinderte Menschen – all diese Menschen wurden ignoriert und respektlos behandelt von der Gesellschaft, die sie als Gruppe diskriminiert. Und nun schlagen sie als Gruppe zurück. Aber das ist der Punkt, an dem Identitäts­politik nicht mit den Prinzipien der liberalen Demokratie ­zusammengeht, denn die Idee der liberalen Demokratie ist keine Idee von Gruppenrechten, sondern die Idee der Rechte des Individuums.

Aber dass jedes Individuum gleich respektiert wird, das ist doch Fiktion. Und in einer Demokratie beruht der politische Prozess immer darauf, Gruppen zu formen, die ihren Forderungen auf diese Weise mehr Nachdruck verleihen können.

Es ist immer ein Stück weit Fiktion, denn in keiner Gesellschaft werden tatsächlich alle gleich behandelt. Aber der Theorie nach sind wir freie und gleiche Individuen, die für kollektive Zwecke, wie etwa Politik, zusammenkommen. Deshalb werden Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, die auf einer kollektiven Identität beruhen, da problematisch, wo sie starr werden und man die Fähigkeit verliert, Menschen individuell zu beurteilen, sondern sie nur noch aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe beurteilt. Und meiner Ansicht nach ist dieses Gruppenidentitätsdenken jetzt von links nach rechts migriert. Also rechte Gruppen fordern jetzt gleiche Anerkennung. In den USA haben wir weiße Nationalisten, die behaupten, Weiße seien die Minderheit, die von den Eliten diskriminiert würden. Und das wird sehr gefährlich für die Demokratie.

Aber es besteht doch ein Unterschied zwischen marginalisierten Gruppen und der weißen Mehrheit.

Ja, keine Frage. Ich möchte diese beiden Gruppen mit ihren Forderungen nicht moralisch gleichsetzen. Ich möchte da­rauf hinweisen, dass das Konzept von rechts gekapert wird. Und ich denke, Menschen, die der gebildeten Elite angehören, neigen manchmal dazu zu übersehen, dass manche der Beschwerden der weniger Gebildeten nicht einfach aus Rassismus oder Ressentiments über den Verlust ihrer dominanten Stellung geboren werden, sondern auch aus dem Gefühl, dass die Eliten ihnen und ihren Problemen keine Beachtung schenken. Und ich denke, das ist ein Stück weit eine legitime Beschwerde.

Man liest jetzt oft die These, diese Menschen seien wütend, weil sie davon vor den Kopf gestoßen seien, dass etwa mit Unisex-Klos auf die Befindlichkeiten von transsexuellen Menschen Rücksicht genommen wird – dabei wird ihnen ja dadurch nichts weggenommen. Oder ist der Gewinn an Anerkennung für den einen immer der Verlust von Anerkennung für einen anderen?

Das ist eher eine Frage von zwei Arten der Anerkennung, über die ich in meinem Buch spreche. Ich habe aus dem griechischen Wort Thymos zwei weitere entwickelt: Isothymia und Megalothymia. Isothymia ist die Forderung nach gleicher Anerkennung und Megalothymia die danach, als überlegen anerkannt zu werden. Ich denke, das Problem mit der Würde-Politik ist, dass das eine sich schnell zu dem anderen entwickeln kann, wie wir am Nationalismus gesehen haben. Das ist der linken Identitätspolitik noch nicht passiert. Aber es gibt auch hier eine bestimmte Tendenz, Kategorien von Hautfarben oder Geschlechtern als feste Kategorien anzunehmen, die mehr Einfluss darauf haben, wie man etwas oder jemanden beurteilt, als andere Kriterien, die man vielleicht heranziehen könnte.

Wenn es so schnell umschlägt, heißt das, das Streben nach Anerkennung ist immer schon fehlerhaft?

Nein, es ist universell. Es ist eine allgemeine menschliche ­Eigenschaft, Menschen werden immer nach Würde streben. Und das ist auf der anderen Seite auch etwas Gutes, sonst hätten wir keine exzellenten Sportler oder Musiker oder Künstler. Selbst die Sehnsucht danach, besser zu sein als die anderen, ist, obwohl sie problematisch ist, auch ein notwendiger Teil unserer Existenz. Und auch die moderne Demokratie basiert im Grunde auf dem Bedürfnis (demand) nach Würde.

Nehmen Sie den Fall von Mohamed Bouazizi, dem tunesischen Gemüsehändler, dessen Wagen 2011 von der Polizei beschlagnahmt wurde und der den Arabischen Frühling ausgelöst hat, weil er zu den Verantwortlichen ging und fragte: Wo ist mein Wagen? Warum nehmen Sie mir mein Auskommen? Und niemand gab ihm eine Antwort. Aus Verzweiflung zündete er sich selbst an, und das sorgte für Resonanz in der arabischen Welt, weil viele Menschen das Gefühl kannten. Viele autoritäre Regierungen behandeln ihre Bürger nicht mit dem minimalen Respekt. Wenn sie ihnen einfach ihren Wagen beschlagnahmen ohne meinen, sich erklären zu müssen, dann verweigern sie ihnen eine grundlegende Würde. Die moderne Lösung in Form einer Kombination aus Liberalismus und Demokratie, die wir in westlichen Ländern haben, erkennt die Notwendigkeit von Würde an und macht sie offiziell in Form von Rechten. Sie haben das Recht zu sprechen, zu wählen, an Dinge zu glauben, an die andere nicht glauben. Das beschützt das Gesetz: das, was wir »agency« nennen (Anm. d. Red.: »agency« bedeutet so viel wie Autonomie, Selbstständigkeit, Handlungsfähigkeit).

Der erste Artikel des deutschen Grundgesetzes lautet: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

In einer ganzen Reihe von Verfassungen steht die Würde des Einzelnen als Recht festgeschrieben, das ist ein Grundbestand der Demokratie, wie wir sie verstehen. Aber darf ich eine weitere Komplikation hinzufügen?

Ja, bitte.

Das liberale Versprechen, dass alle Menschen gleich sind, steht vor dem praktischen Problem, dass wir in Wahrheit aber nicht in einer kosmopolitischen Welt leben, sondern in einer, die in Nationalstaaten aufgeteilt ist. Staatsbürgerschaft und damit die Fähigkeit einer Regierung, ihren Bürgern Rechte zu verleihen, ist abhängig von Regierungen an der Spitze von Nationalstaaten. Das heißt, dass Rechte in Wahrheit nicht universell sind, sie werden von bestimmten ­Staaten unter bestimmten Bedingungen vergeben. Das ist meines Erachtens nach eine der großen Lücken der Demokratie­theorie, dass es keine Idee dazu gibt, wo ein Staat beginnt und wo er endet. Also was qualifiziert Menschen dazu, ­Mitglied einer bestimmen nationalen Gemeinschaft zu sein? Es gibt immer diese Spannung zwischen den universalis­tischen Versprechen des Liberalismus und der Tatsache, dass Macht nun einmal in diesen Blöcken organisiert ist, die wir Nationen nennen.

Oder in größeren Verbänden wie der EU.

Die Europäische Union wurde entwickelt, um darüber hinaus zu kommen, und das ist sehr verständlich, wenn man die nationalistischen Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bedenkt. Es gibt also die Bemühung, diese Teilung in Nationalstaaten gewissermaßen auf eine europäische Ebene anzuheben und mit so etwas wie einer europäischen Identität oder einer EU-Bürgerschaft zu ersetzen. Das ist ein nobles Unterfangen, aber ich denke, es ist nicht sehr realistisch. Die Eurokrise, die 2010 begann, hat die Grenzen einer solchen paneuropäischen Identität aufgezeigt. Und jetzt stecken wir irgendwie fest. Wir haben ein politisches System, das auf universeller Anerkennung beruht, und wir glauben zum Beispiel, dass Geflüchtete eine Art von internationalen Rechten haben. Sie sind Menschen, sie müssen mit Respekt behandelt werden. Und auf der anderen Seite sind wir organisiert in diese Einheiten, die wir Nationalstaaten nennen, von denen weiterhin die Macht ausgeht und die weiterhin die Basis unserer politischen Ordnung sind. Das ist das Dilemma, das vielen Kontroversen heute zugrunde liegt.

Sie glauben, wir sollten nicht weiter nach einer europäischen Identität streben?

Wir sollten weiter daran arbeiten. Ich bin ganz dafür, aber ich denke auch, wir sollten realistisch sein und sehen, dass es da sehr große Hürden gibt. Vor allem jetzt, da viele europäische Länder mit der wachsenden Macht von rechtspopulistischen, anti­europäischen Parteien kämpfen. Das begrenzt einfach das Ausmaß, in dem die europäischen Eliten diesen Prozess ­vorantreiben können. Deshalb brauchen wir in der Zwischenzeit andere Mechanismen, um das Unternehmen zusammenzuhalten.

Welche zum Beispiel?

Ich bin der Ansicht, dass die integrative Einheit nach wie vor ein Nationalstaat sein muss, denn der ist immer noch der Ort, an dem sich die Macht zentriert. Und ich denke, das ist entscheidend. Moderne Regierungen sind so gebaut, dass sie Macht anwenden können und sie gleichzeitig beschränkt ist. Deshalb hat man eine Verfassung, Gesellschaften brauchen eine Regierung, die Gesetze erlässt und die Gemeinschaft nach innen und außen verteidigt. Aber diese Macht ist auch gefährlich, und deshalb muss sie vom Gesetz beschränkt werden. Solange das der Fall ist, solange die Zen­tren der Macht auf der Ebene der Staaten liegen, muss das auch die Gemeinschaft sein, an der sich die Identität orientiert. Es gibt ja zum Beispiel so etwas wie eine EU-Bürgerschaft gar nicht, das ist ja nur metaphorisch, juristisch ist man Bürger eines EU-Landes. Und das wird sich wahrscheinlich in naher Zukunft nicht ändern.

Wenn man also ­einige der Spaltungen, die dieses moderne Konzept von Identität hervorruft, überwinden will, dann muss man auf der Ebene des Nationalstaats ansetzen. In Europa hat zum Beispiel jedes Land Probleme mit der Integration kultureller Minderheiten. Und ich denke, das muss Nation für Nation gelöst werden, denn die Diskussionen beinhalten so komplexe Fragen wie etwa jene, was es bedeutet, niederländisch, deutsch, italienisch oder britisch zu sein. Wofür öffnen wir uns? Und auf der anderen Seite, was hält uns zusammen?

Aber wie lässt sich vermeiden, dass man dabei wieder in Nationalismus abrutscht?

Das ist ein Problem, das für Amerikaner viel weniger schwierig ist als für Europäer. Denn in den USA haben wir nach der Bürgerrechtsbewegung ein Konzept von nationaler Identität entwickelt, die gleichzeitig universell und inklusiv war, weil sie es ermöglicht, Amerikaner zu sein und gleichzeitig unterschiedliche ethnische, kulturelle und religiöse Hintergründe zu haben. Und es war nicht mit einem aggressiven Streben danach verbunden, andere Nationen zu dominieren. Viele beschweren sich über die Außenpolitik der USA, und das sind durchaus legitime Beschwerden. Aber es gibt auch eine liberale Version der nationalen Identität, die in den USA entstanden ist und die man so ähnlich auch in Kanada, Australien oder Neuseeland beobachten kann.

Diese Länder haben nationale Identitäten, und sie sind gleichzeitig sehr divers, habe hohe Migrationsraten, und ich glaube nicht, dass jemand Kanada in der jungen Vergangenheit vorgeworfen hat, aggressiv nationalistisch zu sein. Das ist die Art nationale Identität, die man haben kann und die nicht in den aggressiven Nationalismus des 20. Jahrhunderts umschlägt. Und ich denke, das ist wirklich entscheidend – ich denke, man kann keine Demokratie haben, ohne dass man einige Werte teilt, die es uns erlauben zu kommunizieren, gemeinsam nachzudenken und zu Entscheidungen zu kommen. Man muss an die Legitimität der demokratischen Institutionen glauben, und man muss ein bestimmtes Maß an Vertrauen in seine Mitbürger haben, sodass man auch Streit und Uneinigkeiten akzeptiert, weil man grundsätzlich daran glaubt, dass man Teil ein und derselben Gemeinschaft ist.

In meinem Buch erwähne ich zum Beispiel Länder wie Syrien, Irak, Afghanistan oder Jemen, die auseinandergefallen sind. Sie waren zwar nie Demokratien, aber jetzt sind sie nicht einmal mehr Nationalstaaten, weil diese Gruppenidentitäten und Untergruppen, aus denen sie bestehen, mächtiger sind als eine übergreifende Idee einer Identität. Die Idee Syrien ist für die meisten Gruppen, die heute in Syrien leben, einfach nicht wichtig. Das ist ein Extrembeispiel für Identitätspolitik, die Amok gelaufen ist. Identität wird die dominante politische Kategorie, und es gibt keinen Sinn für eine nationale Identität, was die Basis eines stabilen Landes wäre.

Ist es das, was Sie mit »Bekenntnisidentität« meinen?

Ja, ich glaube auf Deutsch gibt es das Wort »Verfassungspatriotismus«, was eine Minimalversion davon ist. Das heißt, man glaubt an die Verfassung und stimmt den Grundgesetzen zu als fundamentale demokratische Prinzipien. Aber ich denke, das ist nicht ausreichend, um eine moderne verlässliche Identität auszubilden, denn Menschen brauchen auch ­einen emotionalen Bezug. Irgendetwas muss ihnen das Gefühl geben, dass sie den Menschen in ihrer Gemeinschaft vertrauen können.

Was könnte das sein?

Die Religion kann das heute nicht mehr sein, es muss etwas sein, das von allen geteilt wird. Aber ich gebe Ihnen ein anderes Beispiel. In den USA war die Bevölkerung nach dem Bürgerkrieg in den 1860ern tief gespalten. Nachdem der ­Süden besiegt war, erfand man in den 1870ern den Baseball. Es war ein neuer Sport, bei dem der Norden und der Süden zusammenkommen konnten und der ihnen etwas anderes gab, an das sie denken konnten. Der Süden wurde 1876 ­wieder in die Union eingegliedert, aber der Sport galt als der Weg, eine nationale Identität aufzubauen, die nichts mit ­Sklaverei oder den anderen Fragen, um die gekämpft wurde, zu tun hatte. Das mag trivial klingen. Man wird nicht eine ganze nationale Identität auf Sport aufbauen, aber über ­symbolische Ereignisse dieser Art können Menschen eine Idee von nationaler Identität bekommen, die nicht nationa­listisch und aggressiv ist.

Was schlagen Sie außerdem vor?

Ich denke, wir sollten mehr darüber nachdenken, wie wir Menschen in eine demokratische Gemeinschaft integrieren, als wir es in der Vergangenheit getan haben. Wir haben viele Anführerfiguren, die versuchen, die Gefühle derer, die sich ausgeschlossen fühlen, noch zu verstärken. Das ist gefährlich für die Demokratie, deshalb müssen wir uns dafür engagieren, dass sich etwas in die andere Richtung bewegt. Es mag trivial klingen, aber so etwas wie ein soziales Jahr verpflichtend für jeden würde viel beitragen zur Integration und zum Gemeinschaftsgefühl.

Das Interview führten Greta Lührs und Maja Beckers
Foto: Stephane Grangier/Corbis via Getty Images

 


HOHE LUFT 4/2019

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 4/2019
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