Alle Artikel in: HOHE LUFTpost

Frauen. Leben. Freiheit.

Es flattert etwas durch die Luft… Text: Lena Frings  … es sind Haarsträhnen. Unter Lebensgefahr laufen Frauen (und Männer) gerade über die Straßen iranischer Städte, klettern auf Container, halten Bilder von Jîna Mahsa Amini in die Luft, ziehen ihre Hijabs vom Kopf und rufen: „Zan, Zendegi, Azadi!“ Vielleicht geht es Ihnen wie mir und diese Bilder und Worte lösen eine Gänsehaut bei Ihnen aus. Vielleicht fragen auch Sie sich, wo diese Frauen den Mut hernehmen. Die Journalistin Gilda Sahebi zitiert die Slogans der Protestierenden und dadurch wird mir etwas klarer. „Wenn wir nicht alle gemeinsam sind, dann zerstückeln sie uns einer nach dem anderen“, sollen Menschen während der Proteste rufen. Und das trifft wohl eine bittere Wahrheit. Die Philosophin Hannah Arendt (1906 – 1975) setzt sich in ihrem Essay „Macht und Gewalt“ mit den gleichnamigen Phänomenen auseinander. Dort heißt es: „Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur solange existent, als die Gruppe zusammenhält.“ Tatsächlich protestieren gerade im Iran alle gemeinsam. Da sind Ölarbeiter, Schülerinnen, Kurd:innen, Frauen und …

Warum wir Räume zum Träumen brauchen

Ein Interview mit Ozan Zakariya Keskinkilic über antimuslimischen Rassismus und mögliche Perspektivwechsel Der Autor, Lyriker und Politikwissenschaftler Ozan Zakariya Keskinkılıç (*1989) forscht an Berliner Hochschulen unter anderem zu antimuslimischem Rassismus, Antisemitismus und Orientalismus. Er beschreibt etwa, wie einzelne Muslim:innen als Vertreter:innen eines Kollektivs wahrgenommen werden und sich für Taten anderer rechtfertigen müssen. Was daran problematisch ist und warum wir progressive Utopien brauchen, erklärte er unserer Autorin Lena Frings  in einem kurzen Interview. Was sind die Auswirkungen einer Kollektivierung von muslimisch gelesenen Menschen? Die Kollektivierung führt zu einem Klima des Misstrauens, das in sehr konkrete Diskriminierung umschlägt, etwa im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche oder in Form von Racial Profiling durch Polizeikräfte und Sicherheitsbehörden. Indem Muslim:innen zum Sündenbock, zu einem fremden, dämonischen Kollektiv konstruiert werden, können sie in ihrer Individualität und Komplexität nicht wahrgenommen werden, schon gar nicht als Teil dieser Gesellschaft. Abgesehen von den Ausschlüssen und der Gewalt, die sie erfahren, hinterlässt das Feindbild Spuren im Bewusstsein der Betroffenen. Es frisst sich ins Innere und begleitet im Alltag. Das Gefühl der Entfremdung wird …

Zwischen den Geschlechtern

Text: Rebekka Reinhard … es sind die Fetzen der Debatten rund um das „Geschlechter”-Thema. Die Frage, ob es jenseits von Mann und Frau noch ‚etwas anderes’ gibt, geben darf, geben sollte, erhitzt die Gemüter weit stärker als die Erderwärmung. Mit ‚etwas anderes’ meine ich: das T-Wort. Die Transsexualität. Da ist die Biologin Marie-Luise Vollbrecht, die in ihrem erst abgesagten, dann nachgeholten Vortrag an der Humboldt Universtät erklärt, warum es aus biologischer Sicht zwei und nur zwei Geschlechter („sexes”) gibt. Da ist die Gender Studies-Soziologin Paula Villa-Braslavsky, die in der TAZ von der individuellen „Selbstgestaltung des auch körperlichen Geschlechts” spricht.  „Ich bin eine Frau.” Caitlyn Jenner Worum geht es wirklich? Die (begriffliche) Verwirrung ist groß. In den Medien ist abwechselnd mal von „Transsexualität”, mal von „Transgender” die Rede. Der erste Begriff lässt einen Zusammenhang mit bestimmten sexuellen Präferenzen assoziieren, der zweite suggeriert den Kontext des sozialen Geschlechts („gender”), also der geschlechtlichen Rolle, die wir im Alltag einnehmen. Häufig liest und hört man zudem von „in das jeweils andere Geschlecht” „umgewandelten” oder „umoperierten” Personen, wenn es um …

Die neue HOHE LUFT ist da!

„Was gibt uns Zuversicht?” fragen wir in unserer neuen Ausgabe. Mit gutem Grund, meinen wir, denn was wir angesichts der düsteren Nachrichtenlage brauchen ist, ist vor allem: Vertrauen, Optimismus, Mut, die eigenen Fähigkeiten zur Überwindung von Krisen (neu) zu entdecken. Der Mensch kann allen, oder zumindest sehr vielen Widrigkeiten trotzen. Denn was uns eint, ist die Fähigkeit und die Kraft zur Zuversicht. In unserem Schwerpunkt ‚Zukunft’ geht es darum, was Zuversicht wirklich heißt; außerdem fragen wir, wie und was wir aus vergangenen Irrtümer für die Zukunft lernen können; im großen Schwerpunkt-Interview fordert die Philosophin, Umwelt- und Tierethikerin Corine Pelluchon eine neue Aufklärung, die für mehr Naturschutz und Gerechtigkeit sorgt.Außerdem im Heft: Ein Essay über den Sinn der Eifersucht; ein Porträt von Nikolaus Kopernikus; ein Lob des Lasters; sowie: Enfant terrible der Philosophie Slavoj Zizek im Gespräch über Freiheit, Freud – und das Nirvana; …und vieles mehr!

Wenn Einfälle zur Falle werden, oder: Über die Wirkmacht des Denkens

Es liegt etwas in der Luft… Text: Lena Frings … es ist die Frage nach der Wirkmacht des Denkens. Ich habe mich selbst dabei ertappt: Bomben fallen, Klimaziele werden nicht erreicht – angesichts der Katastrophen mangelt es nicht an intellektuellen Gedanken, so redet meine innere Ungeduld, sondern an schlauen Taten. Doch eigentlich weiß ich natürlich, dass das eine das andere bedingt. Intellektuelle reflektieren nicht nur das Zeitgeschehen. Sie prägen es auch. Und das leider nicht immer zum Guten. Das Denken kann sehr erfindungsreich sein und die absurdesten oder grausamsten Dinge politisch zu rechtfertigen versuchen. Xi Jinping braucht seine Ideologie für die „Umerziehungslager“ der Uiguren, Putin die seine für einen grausamen Krieg. Er beruft sich dabei auf Alexander Dugin (siehe unten). Die Philosophin Hannah Arendt (1906 – 1975) hat dieses Elend in ihrem Interview mit Günter Gaus einmal treffend auf den Punkt gebracht: „Zu Hitler fiel [den Intellektuellen] etwas ein. Zum Teil ungeheuer interessante Dinge. Ganz fantastische und komplizierte und hoch über dem Gewöhnlichen schwende Dinge. Das habe ich als grotesk empfunden. Sie gingen ihren eigenen …

Wo steckt die Philosophie?

Es liegt etwas in der Luft… Text: Lena Frings … es sind neue Fragen und eine tiefe Sehnsucht nach Antworten. Waldbrände, Fluten und Tornados sind keine dystopischen Zukunftsszenarien mehr. In den letzten Tagen fegten Stürme über Deutschland und Kanada, während Sandstürme im Irak Menschen den Atem nahmen. Katastrophen dieser Art werden in Zukunft immer wahrscheinlicher. Wie begegnen wir dieser rauen Welt? Wir gehen wir mit Klimaflüchtlingen um, zu denen wir gleichermaßen zählen können? In seinem Hauptwerk »Das Prinzip Verantwortung« stellte der jüdische Philosoph Hans Jonas im Jahre 1979 heraus, dass wir für das Leben kommender Generationen mitverantwortlich sind – ein Gedanke, der heute bereits Konsens ist. Was machen wir daraus? Maschinelles Lernen wird unsere Arbeitswelt und unseren Alltag auf den Kopf stellen. Es gibt nun künstliche Intelligenzen zum Chatten, die immer ein »offenes Ohr« haben. Zoom und andere Anbieter von Video-Calls versuchen mittels Software Emotionen ihrer User:innen zu analysieren. Künstliche Intelligenz ist in der Lage, Lieder zu komponieren, Texte zu schreiben und Bilder herzustellen. Unzählige Philosoph:innen haben über das Verhältnis von Mensch und Technik nachgedacht. …

Welzer und Melnyk

Es liegt etwas in der Luft… … Es ist diskursive Apathie. Letzten Sonntag bei »Anne Will«: Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk und der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer geraten aneinander. Es geht um die Frage der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine, es geht um Pazifismus oder Bellizismus – um die Dilemmata der Politik im Umgang mit einer Atommacht. Es geht um die Frage, wie man der Ukraine helfen kann, ohne selbst zur Kriegspartei zu werden. Als einer der Erstunterzeichner des von Alice Schwarzer initiierten »offenen Briefes« an Olaf Scholz votiert Welzer für Zurückhaltung, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern. Dabei beruft er sich auf die historische Erfahrung der Deutschen im und mit dem Zweiten Weltkrieg, die bis heute in vielen Familien präsent sei. Während Welzer von Melnyk »Zuhören« fordert, wirft Melnyk Welzer vor, was dieser anzubieten habe, sei »moralisch verwahrlost«. Das entgleiste Gespräch in einer Sonntagabend-Talkshow ist beispielhaft für die Schwierigkeiten der öffentlichen Debatte in einer Mediendemokratie. Wie soll man über den Krieg denken und diskutieren? Wieviel soll überhaupt darüber geredet werden – und wer …

Die Meinungen der selbsternannten Osteuropa-Versteher

Es liegt etwas in der Luft… … Es ist der Meinungsstreit zum Ukrainekrieg. Die einen sind für die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine, die anderen finden, dass man Wladimir Putin nicht reizen darf. Die einen fordern ein Gas-Embargo, um den Druck auf Russland zu erhöhen, die anderen sind dagegen, weil sie fürchten dass dann die deutsche Wirtschaft kollabiert. Und zum Geisteszustand des russischen Präsidenten hat ohnehin jeder seine eigene Meinung. Auf Facebook, Twitter &Co. wimmelt es von selbsternannten Generälen, Strategieexperten und Osteuropa-Verstehern, die fiebrig das Kriegsgeschehen kommentieren, der Politik Ratschläge geben oder Zensuren verteilen. Man kann der Meinung sein: Das nervt. Ob zum Ukrainekrieg, zur Coronapandemie und vielen anderen Fragen: Selbstverständlich darf jede Person ihre Meinung frei äußern, jedenfalls im gesetzlichen Rahmen. Wir nennen es Meinungsfreiheit, davon lebt die Demokratie. Die Frage ist allerdings, ob man zu allem eine Meinung haben muss.  Sie stellt sich gerade in den sozialen Medien, wo heute tatsächlich jede/r fast alles öffentlich sagen kann. So ist es nicht geboten (und auch nicht klug), seine Meinung zu Dingen zu äußern, von …

Sex, Lügen und Ontologie

Philosophen sind Liebhaber der Weisheit. Aber sind sie auch weise Liebhaber? Ein Blick in ihre Biografien zeigt: meistens nicht. Text: Tobias Hürter Wenn Philosophie das Ringen mit den großen Fragen des Lebens ist, dann ist jeder verliebte Teenager ein Philosoph: »Ist sie die Richtige?« – »Liebt sie mich auch?« – »Ist sie mir treu?« Wer kann ihm da helfen? Am ehesten müsste es ein Berufsphilosoph können, der den großen Fragen sein Leben widmet. Wenn man aber die Lebensläufe der Philosophen betrachtet, so zeigt sich: Liebhaber der Weisheit sind oft keine weisen Liebhaber. Der Existenzialist Jean-Paul Sartre (1905–1980) adoptierte seine Geliebte als Tochter. Der Stoiker Seneca (ca. 1–65 n. Chr.) wurde wegen einer außerehelichen Affäre vom Kaiser aus seiner Heimat Rom verbannt. Der Marxist Louis Althusser (1918–1990) erdrosselte gar seine Frau. Kann man einem Teenie guten Gewissens empfehlen, sich bei diesen Leuten Rat zu holen? Die Misere begann schon mit dem großen Philosophentrio der Antike: Sokrates, Platon und Aristoteles. Sie alle hatten einiges über die Liebe zu sagen, und die Beziehungen zwischen den Charakteren in ihren …

Von Gedankenspielen und der Absurdität des Realen

Es liegt etwas in der Luft… Text: Lena Frings … es sind die moralischen Fehlschlüsse durch Laborbedingungen des Denkens. Philosoph:innen lieben moralische Dilemmata. Da wäre das Trolley-Problem, welches in vielen Schulbüchern vorkommt. Anhand der Vorstellung einer aus der Kontrolle geratenen Straßenbahnfahrt müssen Lernende beurteilen: Darf ich aktiv eine Person opfern, um das Leben mehrerer zu retten? Es gibt ferner das Problem von Buridans Esel, in dem sich dieser zwischen zwei identischen Heuhaufen nicht entscheiden kann und darum verhungert. Und auf das Dilemma, dass sich die Existenz Gottes ebenso wenig beweisen lässt wie ihr Gegenteil, findet Blaise Pascal eine amüsante Antwort für richtiges Verhalten, die sich den Mitteln der Spieltheorie zu bedienen scheint. Dabei lässt er außer Acht, dass Götter auch in ihm ganz undenkbaren Formen existieren könnten. Diese und andere Gedankenspiele sind Beispiele für Zwickmühen im Baukastensystem, von jeder Vielschichtigkeit des Lebens befreit. Einst wie heute stecken wir in ganz realen Dilemmata, die nichts von der theoretischen Verspieltheit haben. Sie sind vielschichtig und grausam bis in die undurchschaubarsten Tiefen. Aktuell müssen wir Antworten auf einen …