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Sex, Lügen und Ontologie

Philosophen sind Liebhaber der Weisheit. Aber sind sie auch weise Liebhaber? Ein Blick in ihre Biografien zeigt: meistens nicht.

Text: Tobias Hürter

Wenn Philosophie das Ringen mit den großen Fragen des Lebens ist, dann ist jeder verliebte Teenager ein Philosoph: »Ist sie die Richtige?« – »Liebt sie mich auch?« – »Ist sie mir treu?« Wer kann ihm da helfen? Am ehesten müsste es ein Berufsphilosoph können, der den großen Fragen sein Leben widmet. Wenn man aber die Lebensläufe der Philosophen betrachtet, so zeigt sich: Liebhaber der Weisheit sind oft keine weisen Liebhaber.

Der Existenzialist Jean-Paul Sartre (1905–1980) adoptierte seine Geliebte als Tochter. Der Stoiker Seneca (ca. 1–65 n. Chr.) wurde wegen einer außerehelichen Affäre vom Kaiser aus seiner Heimat Rom verbannt. Der Marxist Louis Althusser (1918–1990) erdrosselte gar seine Frau. Kann man einem Teenie guten Gewissens empfehlen, sich bei diesen Leuten Rat zu holen? Die Misere begann schon mit dem großen Philosophentrio der Antike: Sokrates, Platon und Aristoteles. Sie alle hatten einiges über die Liebe zu sagen, und die Beziehungen zwischen den Charakteren in ihren Werken waren oft alles andere als platonisch. Aber mit den Bilanzen ihrer eigenen Liebesleben stehen sie ziemlich schlecht da. Sokrates blieb die längste Zeit seines Lebens Junggeselle, nutzte aber auch seinen Single-Status nur halbherzig für Abenteuer. Als er von dem jungen, schönen Alkibiades frontal angebaggert wurde, versagte ihm die Libido. Nicht einmal als die beiden nackt miteinander rangen, bekam er einen hoch. Der Junge sei nicht reif genug, redete Sokrates sich heraus. So entstand das Konzept der platonischen Liebe. Als Sokrates mit ungefähr 60 Jahren doch noch heiratete, geriet er an die 40 Jahre jüngere und sprichwörtlich garstige Xanthippe. Nach einer Anekdote soll sie ihm nach einem Streit einen Kübel Schmutzwasser über den Kopf gegossen haben, worauf er sagte: »Nach dem Donner kommt der Regen.« Als er zum Tode verurteilt wurde, verwies er alle Frauen des Ortes, inklusive seiner Ehefrau und Mutter seiner drei Kinder, um in Ruhe sterben zu können.

»DIE VERNUNFT IST NUR EINE SKLAVIN DER LEIDENSCHAFTEN«, SO HUME

Platon blieb gar sein ganzes Leben unverheiratet, was ihn aber nicht davon abhielt, über die Beziehungen zwischen Männern und Frauen zu schreiben. In dem utopischen Staat, den er in seinem Dialog »Politeia« entwarf, sollten Ehefrauen nicht nur zu einem Mann gehören, sondern sozusagen Allgemeingut sein. Er schlug vor, die Fortpflanzung planmäßig zu organisieren – ähnlich der Nutztierzucht und erschreckend ähnlich, wie die Nazis es später versuchten. Aristoteles ist unsterblich berühmt für seine Ethik und
Metaphysik, aber auch für seine Verachtung der Frauen. Die hielt er für mangelhafte Wesen, mit kälterem Blut, kürzerer Lebensspanne und weniger Zähnen als Männer. Mit all diesen Urteilen lag er falsch, aber zumindest das mit den Zähnen hätte er nachprüfen können. Er war zweimal verheiratet. René Descartes (1596–1650) gilt als Begründer der neuzeitlichen Philosophie – und auch in seiner Lebensform war er bahnbrechend. Nachdem er mit 38 seine Jungfräulichkeit an seine Dienstmagd Helena Jans van der Strom verlor und dabei gleich eine Tochter zeugte, kämpfte er um das Sorgerecht für sie – und bekam es. Er war einer der wenigen alleinerziehenden Väter der Philosophiegeschichte und kümmerte sich rührend um seine kleine Francine. Doch das Glück endete jäh, als Francine mit fünf Jahren an Scharlach starb. Sie zu verlieren, nannte Descartes später »den größten Schmerz meines Lebens«. Nun wandte er sichganz der Philosophie zu. In seinem Essay »Die Leidenschaften der Seele« dachte er auch über die Liebe nach. Doch er liebte nie mehr.

David Hume (1711–1776) war laut der »Stanford Encyclopedia of Philosophy« der wichtigste englischsprachige Philosoph der Geschichte. Er prägte die Erkenntnistheorie, – und sein wohl meistdiskutiertes Zitat lautet: »Die Vernunft ist nur eine Sklavin der Leidenschaften«. Eine Episode aus seinem eigenen Leben illustriert, was er damit meinte. Es geschah natürlich in Paris: Von dort schrieb Marie-Charlotte Hippolyte de Campet de Saujon, die getrennte Ehefrau des Comte de Boufflers, einen Fanbrief an Hume. Sein neuester Bestseller müsse von »einem himmlischen Wesen« geschrieben sein, »frei von menschlichen Leidenschaften«. Damit traf sie einen Nerv bei Hume, der in seiner Gelehrtenstube im schottischen Edinburgh fast nur Körperkontakt mit seinen Büchern hatte. Als er bald darauf nach Paris an die britische Botschaft versetzt wurde, verfiel er der inzwischen verwitweten Comtesse – doch die zeigte ihm die kalte Schulter und nahm sich einen attraktiveren Geliebten, den Prinzen de Conti. Hume sah sich in die Rolle des platonischen Freunds – heute würde man sagen: »auf die Kumpelschiene« – gedrängt. Der unglücklich verliebte Denker akzeptierte die Rolle, mahnte die Comtesse aber, bei Vernunft zu bleiben. Der Prinz würde sie nie heiraten. Die Vernunft sei zwar nur die Sklavin der Leidenschaften, aber eine nützliche Sklavin, denn sie helfe uns, unsere widerstreitenden Leidenschaften zu verstehen und zu lenken. Noch von seinem Sterbebett schrieb Hume der Comtesse einen Brief, in der er sie »zum letzten Mal mit großer Zuneigung« grüßt.

Wenn es einen Film über Kant, Hegel & Co. gäbe, was würden Sie darin am liebsten sehen? »Ihr Sexleben«, antwortete der französische Dekonstruktivist Jacques Derrida (1930–2004) unverblümt, als ihm diese Frage in einer Fernsehdokumentation gestellt wurde. Allerdings wäre solch ein Film wohl ziemlich langweilig geworden. Wenn es einen Philosophen gibt, den man nicht mit Liebe und Sinnlichkeit in Verbindung bringt, dann ist es Immanuel Kant (1724–1804). Laut seinem Zeitgenossen Johann Friedrich Reichardt war er »ein an Leib und Seele ganz trockener Mann. Magerer, ja dürrer als sein kleiner Körper hat vielleicht nie einer existiert; kälter, reiner in sich abgeschlossen, wohl nie ein Weiser gelebt.«

SCHOPENHAUER BLIEB SEIN LEBEN LANG SINGLE – VÖLLIG VERDIENT

»Der wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht«: Nie ist Sex weniger sexy definiert worden als von Kant in seiner »Metaphysik der Sitten«. Kant selbst hatte keine Zeit für so etwas. Er verlebte jeden Tag so streng nach einem festen Plan, dass die Nachbarn ihre Uhren nach seinen Abendspaziergängen stellten. Sex aus purer Lust fand er unmoralisch, weil darin der Partner bloß als Mittel behandelt werde, nicht als Zweck, was dem kategorischen Imperativ widerspräche. Nur vertraglich geregelter Sex sei zulässig, zum Beispiel in einer Ehe. Kant selbst ging solch einen Vertrag nie ein und hatte konsequenterweise auch keinen Sex. Vermutlich auch nicht mit sich selbst. »Wollüstige Selbstschändung« (sprich: Masturbation) sei eine Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, fand er, und noch schlimmer als Selbstmord, weil dieser »wenigstens nicht eine weichliche Hingebung an tierische Reize ist, sondern Mut erfordert«. Der deutsche Idealismus, der mit Kant begann, fand seinen End- und Höhepunkt in der Philosophie Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831). Auch in der Praxis der Liebe war Hegel weiter als Kant – aber das ist ja keine Kunst. In der Theorie pries Hegel die Liebe als »Bewusstsein der Einheit« eines Menschen mit einem anderen. Die Ehe war für ihn eine Quelle der Sittlichkeit, die Keimzelle der Familie, und die Familie war die Keimzelle des Staates – und überhaupt des »geordneten Bilds des Universums«. Sein eigenes Familienleben indes war alles andere als geordnet. Mit 40 heiratete er die halb so alte Marie von Tucher. Die beiden hatten zwei Söhne miteinander – und später noch einen dritten nicht miteinander, weil Hegel ihn mit der Hauswirtin zeugte. Die Patchwork-Familie zerbrach, weil der dritte Sohn von seinen Halbbrüdern nicht respektiert und schließlich verstoßen wurde. Die hohen moralischen Maßstäbe, die Hegel an die Familie im Allgemeinen legte, missachtete er bei seiner eigenen. Auch gegenüber den Frauen zeigte Hegel sich erschreckend respektlos, selbst für damalige Verhältnisse. In seiner Ehe wolle er nicht glücklich, sondern lediglich »befriedigt« werden, vertraute er seiner Schwester an, die daraufhin entsetzt das Haus verließ. Und überhaupt sei »der Unterschied zwischen Mann und Frau der des Tieres und der Pflanze«, fand er, den sein Zeitgenosse und Berufskollege Arthur Schopenhauer (1788–1860), ebenfalls nicht für seine Frauenfreundlichkeit bekannt, als »Denkmal deutscher Niaiserie« beschimpfte. Mit Schopenhauer erreichte die Misogynie der Philosophen ihren historischen Höhepunkt. Seine Tiraden gegen die Frauen sind so oft zitiert, dass sie hier nicht mehr wiederholt werden müssen. Immerhin gaben die Frauen ihm etwas von der Verachtung zurück. Als der 43-jährige Schopenhauer sich auf einer Party der 17-jährigen Flora Weiß näherte und sie mit einem Bündel Weintrauben (Rosen waren ihm offenbar zu teuer) für sich gewinnen wollte, ließ sie ihn kalt abblitzen. Sie habe die Trauben nicht gewollt, weil »der olle Schopenhauer« sie angefasst habe, notierte sie in ihr Tagebuch. Völlig verdient blieb Schopenhauer bis zu seinem Tod ein unglücklicher Single.

DEREK PARFIT FAND WIRKLICH DIE LIEBE, MIED SIE ABER IN DER THEORIE

Im 20. Jahrhundert konnten die Philosophen sich so derb sexistische Sprüche nicht mehr erlauben, doch ihr Verhalten besserte sich kaum. Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre, Theodor W. Adorno, sie alle waren berüchtigt für ihre Affären. Die »offene« Beziehung zwischen Sartre und Simone de Beauvoir ist weithin beschrieben. Der verheiratete Professor Heidegger, 35, lockte eines Abends die 19-jährige Studentin Hannah Arendt in sein Büro und hatte Sex mit ihr. Ein weniger lockeres, aber nicht weniger schwieriges Verhältnis zur Sexualität hatte der französische Marxist Louis Althusser. Mit 28 Jahren wurde er von der acht Jahre älteren Hélène Rytman in die Welt der körperlichen Liebe eingeführt. Sein erstes Mal wühlte Althusser derart auf, dass er in eine tiefe Depression fiel und in der Psychiatrie mit Elektroschocks behandelt wurde. Hélène und Louis heirateten, doch er begann bald, sie zu betrügen. Sie stritten wieder und wieder, Louis kam wiederholt in die Psychiatrie, Hélène drohte, sich umzubringen. Das tat dann Louis: Eines Sonntagmorgens im Jahr 1980 erdrosselte er Hélène. In seiner Autobiografie erklärte er später, es sei versehentlich geschehen, als er ihren Nacken massieren wollte und stattdessen ihre Kehle erwischte. Er wurde für schuldunfähig erklärt und verbrachte einen großen Teil seines weiteren Lebens in Krankenhäusern. »Ich habe auch, glaube ich, gelernt, was es bedeutet, zu lieben«, schrieb Althusser in seiner Autobiografie, »bedacht zu sein in der Beziehung zu anderen, ihre Bedürfnisse und Rhythmen zu achten, niemals etwas zu fordern, sondern jedes Geschenk als Überraschung anzunehmen.« Vielleicht ist es auch schlicht zu viel verlangt, gleichzeitig über die Liebe zu philosophieren und sie im Leben zu meistern. Auch ein guter Fußballtrainer braucht kein guter Spieler zu sein.

Aber es gibt auch Philosophen, denen die Liebe gelang oder gelingt. Ein wunderbares Beispiel ist Derek Parfit (1942–2017), der britische Philosoph, der sonst nicht gerade für seine Lebenstüchtigkeit bekannt ist. Parfit, der vielleicht bedeutendste Moralphilosoph der letzten Jahrzehnte, verbrachte fast sein ganzes Leben in Institutionen, die ihn wohl behüteten. Als Schüler war er im Eliteinternat Eton, dann ging er nach Oxford, wo er mit 25 Jahren in das legendäre und wohlhabende All Souls College aufgenommen wurde. Nie musste Parfit einkaufen, kochen, waschen, putzen oder aufräumen. Er lebte ganz in seiner Philosophie. Bis er bei einem Seminar in der Old Library des College eine Frau sah, die etwas in ihm bewegte. »Wer ist sie?«, fragte er den ebenfalls anwesenden Ökonomen und späteren Nobelpreisträger Amartya Sen. Parfit fand ihren Namen und ihre Adresse heraus: Janet Radcliffe Richards, feministische Philosophin, gerade nach Oxford gezogen – und frisch getrennt! Parfit witterte seine Chance. Er schrieb ihr einen Brief. Er warb um sie. Statt Blumen oder Pralinen legte er ihr die gesammelten Klavierpartituren von Bach in die Arme. Janet war »völlig perplex«, wie sie später sagte, doch sie erwiderte seine Zuneigung. 2011 gingen sie gemeinsam aufs Standesamt. Als Parfit das Pensionsalter erreichte und seine Räume im All Souls College verlassen musste, zogen sie zusammen. Parfit blieb der Kauz, der er war, er aß jeden Tag das Gleiche, zog die gleichen Klamotten an, hasste Spaziergänge, las beim Zähneputzen, las auf seinem Heimtrainer. Doch er blieb auch ein zugewandter, liebevoller Ehemann. Als Philosoph allerdings machte Parfit stets einen Bogen um die Liebe. An seinem dreibändigen Hauptwerk »On What Matters« (»Worauf es ankommt«) kritisierte sein Berufskollege und Landsmann Roger Scruton: »Nichts, worauf es für Menschen wirklich ankommt – die Liebe, die Verantwortlichkeiten, die Bindungen, die Freuden, die ästhetischen Werte und die spirituellen Bedürfnisse – kommt in Parfits endloser Erzählung vor.« Vielleicht war Bob Dylan der Weiseste von allen, als er einmal sagte: »Man kann nicht gleichzeitig weise und verliebt sein.«

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