Es liegt etwas in der Luft…
Text: Lena Frings
… es sind die moralischen Fehlschlüsse durch Laborbedingungen des Denkens. Philosoph:innen lieben moralische Dilemmata. Da wäre das Trolley-Problem, welches in vielen Schulbüchern vorkommt. Anhand der Vorstellung einer aus der Kontrolle geratenen Straßenbahnfahrt müssen Lernende beurteilen: Darf ich aktiv eine Person opfern, um das Leben mehrerer zu retten? Es gibt ferner das Problem von Buridans Esel, in dem sich dieser zwischen zwei identischen Heuhaufen nicht entscheiden kann und darum verhungert. Und auf das Dilemma, dass sich die Existenz Gottes ebenso wenig beweisen lässt wie ihr Gegenteil, findet Blaise Pascal eine amüsante Antwort für richtiges Verhalten, die sich den Mitteln der Spieltheorie zu bedienen scheint. Dabei lässt er außer Acht, dass Götter auch in ihm ganz undenkbaren Formen existieren könnten. Diese und andere Gedankenspiele sind Beispiele für Zwickmühen im Baukastensystem, von jeder Vielschichtigkeit des Lebens befreit.
Einst wie heute stecken wir in ganz realen Dilemmata, die nichts von der theoretischen Verspieltheit haben. Sie sind vielschichtig und grausam bis in die undurchschaubarsten Tiefen. Aktuell müssen wir Antworten auf einen Krieg im Nachbarstaat finden. Soll man eingreifen und den Ausbruch eines dritten Weltkrieges riskieren? Soll man es nicht tun und beim Blutvergießen Unschuldiger zuschauen? Gibt es Abstufungen all dessen? Was genau sind unsere Möglichkeiten und welche davon lassen sich moralisch rechtfertigen? Was ist taktisch klug? Es kann keine „gute“ Antwort auf den Krieg geben. Es gibt höchstens die am wenigsten schlechte. In einer Zwickmühle zu sein, heißt, zwischen verschiedenen ähnlich schlechten Handlungsoptionen wählen zu müssen. Zumindest diese bittere Tatsache zeigt sich auch an den abstrakten Gedankenspielen à la Trolley-Frage: Gerade noch Unbeteiligte werden in eine Situation gebracht, in der sie zwischen mehreren Unzumutbarkeiten entscheiden müssen. Ob sie handeln oder nicht, sie tragen eine Mitverantwortung. Und: Sie haben das Privileg Entscheidungen treffen zu können, ohne dass ihr Leben in gleichem Maße auf dem Spiel steht, wie das derer, über die sie entscheiden.
Für Albert Camus war vielleicht die gesamte menschliche Existenz ein Dilemma. In einer sinnlosen Welt hört der Mensch nicht auf nach dem Sinn zu suchen. Camus Antwort liegt gerade in der Akzeptanz dieser Absurdität und dem Annehmen der „hoffnungslosen Kluft zwischen der Frage des Menschen und dem Schweigen der Welt“. Camus bleibt jedoch nicht bei einer Haltung stehen, die man als nihilistisch bezeichnen könnte. Vielmehr leitet er daraus eine Revolte gegen die Unzumutbarkeiten des Lebens ab, die zwar wie Sisyphus niemals an ein Ziel kommen wird, aber dennoch „die erste und einzige Gewissheit“ angesichts der absurden Erfahrung darstellt. Sich zum Leid und der Absurdität menschlicher Schicksale revoltierend zu verhalten, immer aufbegehrend, nie nachlassend, ist nach Camus der einzige Sinn, der uns bleibt.
Wie wir uns zum russischen Angriffskrieg verhalten, ist die große ethische (und taktische und politische und persönliche) Frage unserer Tage. Es heißt auch, sich der Sinnlosigkeit des Sterbens Unschuldiger zu stellen und nicht in der naiven Überheblichkeit theoretischer Gedankenspiele dem Gräuel etwas Gutes abverlangen zu wollen. Sich auf eigene Werte zu besinnen kann eine Reaktion aber niemals eine „gute Seite“ des Krieges sein. Gleiches gilt für den erstarkten Zusammenhalt der Länder Europas. Dass Krieg irgendeine gute Seite haben könnte, ist ein moralischer Fehlschluss, entstanden unter weltfremden und wohlig warmen Laborbedingungen des (noch) verschonten Denkens. Was man angesichts realer Vergewaltigungen und unzähliger Tode und Kriegsverbrechen braucht, ist kein philosophisches Schönreden. Es ist eine ehrliche, differenzierte Auseinandersetzung damit, was der Mensch ist. Und wie dieser Mensch, wie jeder einzelne von uns – wie wir alle zusammen mit dem Krieg umgehen und gegen ihn revoltieren können.
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