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Welzer und Melnyk

Es liegt etwas in der Luft…

… Es ist diskursive Apathie. Letzten Sonntag bei »Anne Will«: Der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk und der deutsche Sozialpsychologe Harald Welzer geraten aneinander. Es geht um die Frage der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine, es geht um Pazifismus oder Bellizismus – um die Dilemmata der Politik im Umgang mit einer Atommacht. Es geht um die Frage, wie man der Ukraine helfen kann, ohne selbst zur Kriegspartei zu werden. Als einer der Erstunterzeichner des von Alice Schwarzer initiierten »offenen Briefes« an Olaf Scholz votiert Welzer für Zurückhaltung, um eine Eskalation der Gewalt zu verhindern. Dabei beruft er sich auf die historische Erfahrung der Deutschen im und mit dem Zweiten Weltkrieg, die bis heute in vielen Familien präsent sei. Während Welzer von Melnyk »Zuhören« fordert, wirft Melnyk Welzer vor, was dieser anzubieten habe, sei »moralisch verwahrlost«.

Das entgleiste Gespräch in einer Sonntagabend-Talkshow ist beispielhaft für die Schwierigkeiten der öffentlichen Debatte in einer Mediendemokratie. Wie soll man über den Krieg denken und diskutieren? Wieviel soll überhaupt darüber geredet werden – und wer soll darüber reden? Reden und Debattieren ist nur solange sinnvoll, wie es notwendige Entscheidungen in einer akuten Krise nicht unnötig verzögert. Das Zögern der Politik selbst muss nicht falsch sein. Aber ein endloser öffentlicher Diskussionsprozess führt auch nicht unbedingt zu einer Lösung – vor allem nicht in einer Situation, in der Putin genau damit kalkulieren kann, dass sich der Westen durch ebensolche Diskussionen in eine Apathie manövriert, die ihn erst recht handlungsunfähig macht.

Statt endlose Variationen solcher Diskussionen, mit den immer gleichen Protagonisten, auf den immer gleichen Bühnen zu führen, mit Verlängerung in den sozialen Medien, sollten wir lieber darüber diskutieren, wie solche Diskussionen in der heutigen Öffentlichkeit überhaupt sinnvoll geführt werden können: Wie kann man Kriterien für einen vernünftigen Diskurs finden, die den besonderen Umständen einer unberechenbaren Kriegsdynamik, bis hin zurrealen Gefahr eines Atomwaffeneinsatzes, gerecht werden? Wie können wir diese Kriterien aus einem gemeinsamen Vorverständnis entwickeln? Und wie können wir offen bleiben für immer neue Perspektiven, die Dogmatismus in der einen wie der anderen Richtung verhindern?

Die Beantwortung dieser und ähnlicher Fragen, so möchten wir vorschlagen, hätte jetzt Priorität vor dem nächsten Streittheater bei »Anne Will« oder sonstwo.

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