Ein Interview mit Ozan Zakariya Keskinkilic über antimuslimischen Rassismus und mögliche Perspektivwechsel
Der Autor, Lyriker und Politikwissenschaftler Ozan Zakariya Keskinkılıç (*1989) forscht an Berliner Hochschulen unter anderem zu antimuslimischem Rassismus, Antisemitismus und Orientalismus. Er beschreibt etwa, wie einzelne Muslim:innen als Vertreter:innen eines Kollektivs wahrgenommen werden und sich für Taten anderer rechtfertigen müssen. Was daran problematisch ist und warum wir progressive Utopien brauchen, erklärte er unserer Autorin Lena Frings in einem kurzen Interview.
Was sind die Auswirkungen einer Kollektivierung von muslimisch gelesenen Menschen?
Die Kollektivierung führt zu einem Klima des Misstrauens, das in sehr konkrete Diskriminierung umschlägt, etwa im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt, bei der Wohnungssuche oder in Form von Racial Profiling durch Polizeikräfte und Sicherheitsbehörden. Indem Muslim:innen zum Sündenbock, zu einem fremden, dämonischen Kollektiv konstruiert werden, können sie in ihrer Individualität und Komplexität nicht wahrgenommen werden, schon gar nicht als Teil dieser Gesellschaft. Abgesehen von den Ausschlüssen und der Gewalt, die sie erfahren, hinterlässt das Feindbild Spuren im Bewusstsein der Betroffenen. Es frisst sich ins Innere und begleitet im Alltag. Das Gefühl der Entfremdung wird oft unterschätzt.
Wie könnte ein Perspektivenwechsel ansetzen?
Ein erster Schritt ist, anzuerkennen, dass antimuslimischer Rassismus eine Realität ist. Es kursieren viele Missverständnisse und Leugnungsstrategien, die es schwer machen, überhaupt darüber zu sprechen, was Muslim:innen widerfährt. Stattdessen kommt es zur Täter-Opfer-Umkehr. Nach dem Motto: „Wir werden doch von der Minderheit unterdrückt und überfremdet“. Es ist wichtig, die Erfahrungen von Muslim:innen ernst zu nehmen und Gehör für ihre Anliegen zu schaffen, für ihre Bedürfnisse und Lebenssituationen. Auch sie dürfen ihr demokratisches Recht nutzen, sich zu beschweren und politische Forderungen zu stellen, zum Beispiel nach Repräsentation und Ressourcen. Da geht es nicht nur um religiöse Praxis, sondern um eine breite Teilhabe, auch im Berufsleben, in der Politik, im Kunst- und Kulturbetrieb. Ein Perspektivenwechsel wäre zu fragen, was bieten wir Muslim:innen, damit sie sich erfüllen können wie andere Bürger:innen auch?
Wie sollte sich unsere Gesellschaft idealerweise verändern?
Es ist Zeit, sich endlich von den defizitorientierten Integrations- und Migrationsdebatten zu lösen und den nächsten Schritt zu gehen. Rassismus lenkt uns ab von wichtigen Themen wie zum Beispiel sozialer Gerechtigkeit, auch von uns selbst und unserem Zusammenleben, er schadet sozialen Beziehungen und etabliert ein System der Gewalt und der Ausgrenzung genauso wie Antisemitismus, Sexismus und Queerfeindlichkeit. Um alternative Gesellschaftsmodelle imaginieren zu können, braucht es Räume, um grenzenlos zu träumen. Ich wünsche mir eine gesellschaftliche Lebenspraxis, die progressive Utopien erarbeitet und in die Wirklichkeit übersetzt. Das ist ein Prozess, der nur gemeinsam funktioniert. Ohne Solidarität und Sharing kommen wir nicht weiter.
Ozan Zakariya Keskinkılıç (*1989) ist Politikwissenschaftler, Lyriker und Autor. Er lehrt und forscht an Berliner Hochschulen. 2021 wurde er in die Expert:innenkommission gegen antimuslimischen Rassismus in Berlin berufen, im selben Jahr erschien sein Buch „Muslimaniac. Die Karriere eines Feindbildes“. Im August dieses Jahres erschien zudem der Lyrikband „Prinzenbad“. (Instagram/Twitter: @ozkeskinkilic)