Alle Artikel in: Heftartikel

Pro und Contra: Politische Karikaturen

Die »New York Times« veröffentlicht künftig keine politischen Karikaturen mehr. Was soll man davon halten? Brauchen wir sie zur Meinungsbildung?   pro Zu jeder ordentlichen Zeitung eines freien, demokratischen Landes gehört eine Meinungsseite, zu jeder Meinungsseite die Kritik an den herrschenden Verhältnissen, Normen, Akteuren. In einem Umfeld, in dem es von allem zu viel zu geben scheint – zu viele Fakten, Meinungen, Bilder –, erhebt sich die Frage, welche Form von Kritik heutige Leser überhaupt noch zum Nachdenken bringen kann. Die draufhauerische? Als sich die »New York Times« entschied, künftig auf politische Karikaturen zu verzichten, votierte sie damit auch gegen kritische Ambivalenz. Denn keine Karikatur, sie mag noch so platte Stereotype befördern, »sagt«, was sie meint. Wie jedes Bild produziert sie unkontrollierbare rhetorische Effekte, die die mutmaßliche Intention ihres Schöpfers an Wirkkraft weit überragen. Wo die Existenzberechtigung politischer Karikaturen in Zeitungen verneint wird, weil diese (auch) beleidigen, empören und kränken können, wird nicht nur die Notwendigkeit von Freiheit bestritten – mit all ihren Chancen und Gefahren. Dort wird auch so getan, als könnte man Menschen …

Die politischen Akteure 2019 – eine kleine Typologie

DER JUNGMANAGER besticht durch seine algorithmische Perfektion und Reinheit. Sein Denken ist so glatt wie seine Haut. Er ersetzt Ideologie mit Empathie, Wut mit Geduld. Gleich einem selbstlernenden System findet er Lösungen für jedes Problem. Prototyp des Jungmanagers ist Sebastian Kurz, der den Systemfehler »Strache« durch die allseits anschlussfähige Rhetorik der Sanftheit beseitigte. Spontan wirkt das inhaltsfreie Programm des Jungmanagers höchst sympathisch. Seine wahren Absichten und sein Haltbarkeitsdatum sind (noch) hinter der glänzenden Oberfläche verborgen. DER BÄR strahlt eine behagliche pelzige Wärme aus, welche die authentische Atmosphäre guter alter Zeiten evoziert. Seine Autorität speist sich aus einer unaufdringlichen Attraktivität, wie sie paradigmatisch von Robert Habeck repräsentiert wird. Diese Augen, dieses Lächeln! Ein Mensch, der sich vor den menschenverachtenden Effekten von Twitter fürchtet, kann nicht lügen. Er verspricht vielmehr eine neue Übersichtlichkeit. Er krempelt die Ärmel hoch und karrt selbst die Erde an, mit der die Kluft zwischen traditioneller Poli‑ tik und globalem digitalen Chaos zugeschüttet werden soll. DIE SUPERINTELLIGENZ operiert anders als die elegante Polit- und PR-Maschine des Jungmanagers, anders auch als der warme Bär …

Serie: Die Weisheit der Gefühle / Teil 4 / Liebe und Hass

Die Bande, die uns zusammenhalten Von Tobias Hürter Kein anderes Gefühl ist so überladen mit Ansprüchen wie die Liebe. Sie soll uns glücklich machen, die Gesellschaft einen und uns mit Gott verbinden. Kann sie das alles? Und was ist mit ihrem missratenen Bruder, dem Hass?   Fragt man Biologen, dann ist Liebe das Einfachste auf der Welt: Frauen lieben Männer mit breiten Schultern, dichtem Haarwuchs und dickem Geldbeutel. Männer lieben Frauen mit gebärfreudigem Becken, großen Brüsten und straffer Haut. Ginge es nur um die Verbreitung der Gene, dann wäre das Rätsel Liebe schnell gelöst: Man käme zusammen, um die Brut zu pflegen, und geht auseinander, wenn diese Aufgabe erledigt ist. Aber jeder, der gelegentlich Radio hört oder in die Ratgeber-Abteilung einer Buchhandlung schaut, weiß, dass Liebe das Komplizierteste auf der Welt ist. Die meisten Popsongs handeln von der Liebe, und unzählige Lebenshilfe-Bücher davon, wie man das Glück seines Lebens findet und bewahrt – sprich: die Liebe seines Lebens. Die Liebe seines Lebens«, da fängt es schon an mit den Merkwürdigkeiten. Viele  Menschen sehnen sich nach …

Das Wrack des Unglaublichen

Was hat Kunst mit alternativen Fakten zu tun? Mittlerweile vieles. Der Künstler Damien Hirst liefert den Beweis. Im Jahr 2008 fand man auf dem Grund des Indischen Ozeans ein riesiges Schiff voller Schätze, das »Wrack des Unglaublichen« (»Apistos«). In seinem Inneren: 100 Statuen und Torsi von Pharaonen, Göttinnen und Dämonen, Masken und andere, teils mit Korallen, Algen und Seewürmern bedeckte Objekte aus Afrika, China, Griechenland, Indien – alles Besitztümer des ehemaligen Sklaven Cif Amotan II, der nach seiner Freilassung zu großem Reichtum gelangt war. Die Bergung dieser einzigartigen Sammlung nahm fast zehn Jahre in Anspruch und wurde von dem schwerreichen Künstler Damien Hirst mitfinanziert. Zu bestaunen waren die Schätze im Frühjahr 2017 auf der Biennale in Venedig, verteilt über zwei Museen, die dem Unternehmer, Multimilliardär und Kunstsammler François Pinault gehören. Im Atrium des Palazzo Grassi wird man von einem über 18 Meter hohen mesopotamischen Dämon begrüßt, der Kopie einer kleineren Bronze, die man auf dem Schiff fand. Eine Unterwasser-Videodokumentation zeigt die aufwendigen Bergungsarbeiten. Man schreitet durch die Säle voller Kostbarkeiten aus Bronze, Jade, Achat, Carrara-Marmor …

Müssen wir Europa wollen?

Europa ist uns zur Gewohnheit geworden. Setzen wir die Idee der Gemeinschaft deshalb aufs Spiel? Haben wir überhaupt begriffen, was die EU bedeutet? Wir sind Europäer. Wir kaufen italienischen Parmesan, lieben französischen Bordeaux und fahren mal schnell über die Grenze nach Österreich. Wir zahlen in Euro. Unsere Fliesenleger kommen aus Polen. Wir studieren für sechs Semester in Venedig, arbeiten in Luxemburg oder sparen, um unseren Kindern ein Schuljahr an einer guten britischen Lehranstalt zu finanzieren. Europa ist selbstverständlich. Aber was ist Europa? Europa – das war in der griechischen Mythologie eine Königstocher, die vom Gott Zeus entführt und vernascht wurde. Europa – das ist ein Kontinent. Europa – das ist aber auch eine Idee, die nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs geboren wurde. Die Idee, dass es bei uns nie wieder Krieg geben darf. Es ist die Vorstellung, dass es möglich ist, unter­schiedliche, teils widersprüchliche nationale Identitäten und In­teressen demokratisch zu einen. Wenn wir von Europa ­sprechen, meinen wir auch die Europäische Union: 27 unterschiedliche Sichtweisen, zwischen denen in Brüssel in nächtelangen Sitzungen vermittelt werden …

Serie: Die Weisheit der Gefühle / Teil 3 / Wut und Traurigkeit

Energie des Lebens Von Thomas Vašek; Illustration: Charles Wilkin Wut und Traurigkeit gehören zum Intensivsten, was wir fühlen können. Sie sind klare Signale für das, was uns verstimmt oder sehr berührt. Viel zu oft sind sie verpönt, dabei zeigen sie uns auch Grenzen auf oder vermitteln uns wichtige Einsichten. Überall brennende Autos, geplünderte Läden, verwüstete Straßenzüge: Als Anfang Dezember die »Gelbwesten« durch Paris zogen, blieb sogar der Louvre geschlossen. Es waren die gewalttätigsten Ausschreitungen in Frankreich seit der Studentenrevolte 1968. Doch hinter den Protesten steht keine Organisation, keine politische Bewegung, keine Ideologie. Es ist vielmehr die Wut, die die Menschen auf die Straße bringt – die Wut auf »die da oben«, auf die Eliten, aufs politische Establishment. Wut ist unser mächtigstes, unser gefährlichstes Gefühl. Kein anderes bringt uns so leicht aus der Fassung, kein anderes trübt so sehr unseren Verstand. Wut treibt Menschen zur Raserei, ja zu Morden, sogar zum Töten des eigenen Ehepartners. Sie kann Menschenmassen mobilisieren, Volksaufstände auslösen und Revolutionen entfachen; auf ihr Konto gehen Amokläufe ebenso wie die Selbstmordattentate islamistischer Fanatiker. Wut …

Kann ich, was ich will?

Oft ist die Rede von Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung. Was aber ist die Selbstständigkeit? Ein wichtiger Begriff, da sie vom Umgang mit unserem eigenen Können handelt. Und genau darüber werden wir noch nachdenken müssen – im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz. Als der griechische Held Ödipus an der Sphinx vorbeiwollte, jenem mythischen Ungeheuer, das die Stadt Theben belagerte, musste er wie alle Reisenden eine Frage beantworten, um nicht auf der Stelle gefressen zu werden: »Was geht am Morgen auf vier Füßen, am Mittag auf zweien und am Abend auf dreien?« Als einziger knackte Ödipus das Rätsel. Die Antwort lautet: der Mensch. Als Kleinkind krabbelt er auf allen vieren, als Erwachsener geht er aufrecht auf zwei Beinen, im Alter braucht er womöglich einen Stock. Die Sphinx stürzte sich daraufhin vom Felsen. Wir aber verdanken dem schlauen Ödipus nicht nur eine schöne Metapher für das menschliche Leben. Im »Rätsel der Sphinx« steckt bis heute auch die vielleicht einfachste, intuitivste Definition dessen, was wir unter dem rätselhaften Begriff »Selbstständigkeit« verstehen. Selbständig sind wir dann, wenn wir gewissermaßen »aufrecht gehen« können, …