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Kann ich, was ich will?

Oft ist die Rede von Freiheit, Autonomie, Selbstbestimmung. Was aber ist die Selbstständigkeit? Ein wichtiger Begriff, da sie vom Umgang mit unserem eigenen Können handelt. Und genau darüber werden wir noch nachdenken müssen – im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz.

Als der griechische Held Ödipus an der Sphinx vorbeiwollte, jenem mythischen Ungeheuer, das die Stadt Theben belagerte, musste er wie alle Reisenden eine Frage beantworten, um nicht auf der Stelle gefressen zu werden: »Was geht am Morgen auf vier Füßen, am Mittag auf zweien und am Abend auf dreien?«

Als einziger knackte Ödipus das Rätsel. Die Antwort lautet: der Mensch. Als Kleinkind krabbelt er auf allen vieren, als Erwachsener geht er aufrecht auf zwei Beinen, im Alter braucht er womöglich einen Stock. Die Sphinx stürzte sich daraufhin vom Felsen. Wir aber verdanken dem schlauen Ödipus nicht nur eine schöne Metapher für das menschliche Leben. Im »Rätsel der Sphinx« steckt bis heute auch die vielleicht einfachste, intuitivste Definition dessen, was wir unter dem rätselhaften Begriff »Selbstständigkeit« verstehen.

Selbständig sind wir dann, wenn wir gewissermaßen »aufrecht gehen« können, ohne Hilfe zu benötigen. Aber was unterscheidet die Selbständigkeit von der Autonomie oder der Freiheit? Ist Selbständigkeit ein Ideal? Und was heißt das möglicherweise für unser Leben in einer Welt, in der uns digitale Technologien immer mehr Tätigkeiten abnehmen?
Von Selbständigkeit reden wir in vielen Kontexten. Man sagt es von einem Kleinkind, das sich früh allein anziehen lernt, von einer Neunzigjährigen, die ohne Gehilfe auskommt, von einem Hochschulabsolventen, der das Jungunternehmertum dem Angestelltendasein vorgezogen hat: Er oder sie sei selbständig.

Der aus dem Mittelhochdeutschen stammende Begriff meint die »für sich bestehende« Person. Selbstständig: Je öfter man das Wort wiederholt, desto rätselhafter wird es. Was steckt dahinter? Ein ständiges Selbstsein? Ein Selbst, das einem bestimmten Stand angehört?
Neben der lebensphasenspezifischen oder entwick­lungspsychologischen Selbstständigkeit denkt man zunächst an die berufliche Selbstständigkeit, die (im Vergleich zum Angestellten) ein grundsätzliches »Mehr« bedeutet. Mehr Entscheidungsfreiheit, Mehrarbeit, ein Mehr an Verantwortung: Verantwortung für die eigenen Finanzen, die eigene Gesundheit(­svorsorge), die künftigen Geschäftsaussichten (strategische Planung und Selbstvermarktung) und das Privatleben, sofern es mit der Selbstständigkeit (nicht) inter­feriert. Wer selbstständig ist, kann es sich einfach nicht leis­ten, endlose tränenreiche Liebesdramen mit dem Partner auszuagieren (wütendes Tellerwerfen inklusive) – er muss Aufträge an Land ziehen, Rechnungen schreiben und Event­ Hopping betreiben, um sein Netzwerk zu pflegen.

Als besondere Form der Selbstständigkeit gilt der oft irgendwie kreativ tätige Freiberufler, auch »Freischaffen­ der« genannt. Der Texter, Designer oder spirituelle Coach. Er hat kein Gewerbe (Unternehmen) – er ist eine Ich-­AG. Die Selbstständigkeit des Freiberuflers erstreckt sich weit über das Professionelle hinaus in ein umfassendes lebens­praktisches Können. Ist er nicht hinreichend mobil und gut gelaunt, hat er keinen verlässlichen Partner, auf den er sich in schwierigen Zeiten verlassen kann, ist er nicht in der Lage hochaufgelöste Porträtfotos, auf denen er extrem motiviert in die Kamera lacht, hochzuladen und mit den für seine Zwecke gerade angesagtesten Hashtags zu versehen, ist er unfähig, seine kaputte Waschmaschine während finanzieller Flauten selbst zu reparieren, drohen ihm sukzessive Vereinsammung, Krankheit, Prekariat.

Philosophisch lässt sich Selbständigkeit definieren als angeborene oder erlernte Fähigkeit, etwas praktisch zu können – und dieses Können in regelmäßige Praktiken, die für eine Lebensform charakteristisch sind, umzusetzen. Etwa: im Fach Mathematik Prüfungen zu bestehen. Oder: Lebensmittel auszuwählen, sie einzukaufen und zu einem Gericht zu verarbeiten. Oder: sein ganzes Leben nach Maßgabe der eigenen Möglichkeiten und Umstände selbst zu gestalten. Die Philosophie hat den Begriff der Selbständigkeit bisher kaum als eigenständigen Begriff verwendet, sondern ihn in die Begriffe von Freiheit, Autonomie und Autarkie als Teilaspekt integriert. Es ist daher höchste Zeit, ihn zu würdigen und seinen alltagspraktischen Status zu ermessen. Dazu müssen wir zunächst die Begriffe abgrenzen.

Selbstständigkeit ist nicht das Gleiche wie Freiheit, wenn man darunter versteht, tun und lassen zu können, was man will. Wir können frei sein und doch nicht selbstständig, weil wir zwar von niemandem behindert werden, aber eben nicht die Fähigkeit besitzen, das zu tun, was wir tun wollen. Selbstständigkeit heißt aber auch nicht Autonomie, also Selbstbestimmung, wenn wir damit die Fähigkeit mei­nen, unsere eigenen vernunftbestimmten Ziele zu verfolgen. Jemand kann durchaus selbstständig sein und doch nicht ganz selbstbestimmt, weil ihm dazu einfach die nötigen Mittel fehlen. Zum Beispiel könnte jemand Inhaber eines kleinen Ladens, also »Selbstständiger«, sein und doch seine Vorstellung von einem gelingenden Leben nicht ver­wirklichen können, weil er unter perma­nentem Existenzdruck steht.

Umgekehrt kann jemand aber auch völlig unselbstständig selbstbe­stimmte Ziele verfolgen. Zum Beispiel können Autofahrer per Navigations­system ein Ziel erreichen, obwohl sie selbstständig, also aus eigenem Kön­nen, niemals hinfinden würden. Das gilt natürlich erst recht für autonome Fahr­zeuge. Schließlich ist Selbständigkeit auch nicht Autarkie im Sinne von Selbstgenügsamkeit, wie es die Griechen verstanden. Ein selbständiger Mensch muss nicht in sich vollendet sein, sodass es ihm an nichts fehlt, ganz im Gegenteil. Gerade selbständige Menschen fehlt es oft an etwas, wie jeder weiß, der jemals »selbständig« gearbeitet hat.

Selbständigkeit meint eine Potenz – Ich kann, wenn ich will

Man kann sagen: Selbständigkeit steht für eine tatsächliche Könnenspraxis, in und mit der sich der Mensch freiwillig beschränkt auf das, was er selbst kann – oder versucht, diese Beschränkung schrittweise auszuweiten. Wer zwar Auto fahren, aber nicht einparken kann, kann versuchen, sich auch diese Kompetenz anzueignen oder in Parksituationen weiterhin auf die Hilfe anderer angewiesen zu bleiben. Der Autofahrer-minus-Einparker-Typ verfügt dann über eine relative mobile Selbstständigkeit. Selbst wenn er beschließt, über­haupt nicht mehr zu fahren, sein Auto gar zu verkaufen, ist er immer noch potenziell mobil selbstständig.

So gesehen ist Selbstständigkeit ein ontologischer Be­griff. Er meint eine Potenz, ein Vermögen, das wir nicht reali­sieren müssen, um es zu haben. Ich bin selbstständig – das heißt: Ich kann, wenn ich will. Aber diese Selbstständigkeit können wir auch verlieren oder bewusst abgeben, wie eben der Autofahrer, der sich so sehr ans Navi gewöhnt hat, dass er »ohne« gar nicht mehr nach Hause findet. Das kennen wir übrigens nicht nur aus dem Umgang mit neuen Technolo­gien, sondern auch mit nahestehenden Menschen. Manche »verlassen« sich eben darauf, dass der Partner den Weg findet (oder an die Einkäufe denkt) – es klappt ja auch so.

In einer gewissen Weise können wir völlig unselbst­ständig durchs Leben gehen und dennoch immer erreichen, was wir wollen. Wir müssen nur die richtigen Menschen (und Technologien) um uns herum haben. Dahinter steht ein Paradoxon, nennen wir es das Paradox der Selbstständig­keit: Selbstständigkeit kann unfrei machen, Unselbstständig­keit dagegen frei. Insofern kann man sich fragen, was das Problem mit der Unselbstständigkeit ist.

Der »Unselbstständige« braucht ja nur jemanden, der ihm alle Wünsche erfüllt und für ihn alle Ziele realisiert. Er braucht keine Ausbildung, kein Geld, sondern einfach nur einen Wohltäter, der für sein »gutes Leben« sorgt. Natürlich würden wir intuitiv denken, dass ein Leben in völliger Un­selbstständigkeit nicht gut sein kann. Aber das ist voreilig, man denke an die Berichte von querschnittgelähmten Roll­stuhlfahrern oder selbst Locked­in­Patienten, die rein gar nichts selbstständig tun können – und doch von sich behaup­ten, mit ihrem Leben zufrieden zu sein.

Machen Smartphones uns mehr oder weniger selbständig?

Allerdings würden wir ein Leben in völliger Unselbstständig­keit kaum freiwillig wählen. Der Grund liegt aber offenbar nicht in unserem Wunsch nach Freiheit und Selbstbestim­mung, sondern darin, dass wir unser Leben aus eigenem »Können« heraus »selbstständig« gestalten wollen – also aus uns selbst heraus und nicht nur mit der Hilfe von Freunden, Kollegen und Robotern.
Das Gegenteil, aber auch – paradox formuliert – die extremste Form der Selbstständigkeit ist die Unselbstständig­keit: eine Könnenspraxis als bloße Potenzialität. Je weniger die Selbstständigkeit willentlich, intentional oder bewusst von Autonomie und Autarkie informiert wird, desto geringer ist sie. Ein Einjähriger hat keine Ahnung von Autonomie, geschweige denn von Kant. Er kann keine Ahnung haben. In seiner Welt gibt es keine Ideale, nur Konkretion. Eine Demenz­Patientin dagegen hatte womöglich sehr wohl einen Begriff davon, was es heißt, unabhängig von äußeren Pflichten zu sein beziehungsweise sich selbstgenügsam der Lektüre und anderen kontemplativen Tätigkeiten hinzu­ geben. Sie hat es nur vergessen. Während Einjährige ihre Unselbstständigkeit meist zunehmend verlieren, nimmt sie bei Demenz­Patienten immer mehr zu.

Künstliche Intelligenz – Stichwort Roboter – könnte pflegebedürftigen Menschen ein Stück ihrer Autonomie zurückgeben, auch wenn sie immer unselbstständiger werden. Bei einer nur körperlich eingeschränkten Person ist das offensichtlich. Vielleicht kann sie bestimmte Dinge im Haus­ halt nicht mehr selbstständig erledigen und damit ihr Ziel nicht realisieren, so lange wie möglich in den eigenen vier Wänden zu wohnen. Der Roboter kann ihr helfen, autonom zu bleiben – und damit dem Pflegeheim zu entgehen.

In einem gewissen Sinn gilt das auch für Menschen mit Demenz. Schwer demente Menschen können ihre Wün­sche nur mehr rudimentär artikulieren. Aber sie könnten im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte bereits verfügt haben, wie sie bei fortschreitender Demenz behandelt werden wollen. Auch im Zustand vollständiger Unselbstständigkeit könnten sie damit in gewisser Weise die Ziele verfolgen, die sie im geistig gesunden Zustand hatten.

Ein relativ junges Lebensalter ist allerdings keine Garantie für wachsende Selbstständigkeit. Für Angehörige der Generation Z, die in mehreren Jobs gleichzeitig tätig sind, um sich einen bestimmten Lebensstandard und Lifestyle leisten zu können, bedeutet das freiberufliche Jobben oft eine Pseudoselbstständigkeit. Sofern an ihr chronisch fest­ gehalten wird, droht ihre Selbstständigkeit sich zunehmend in Unselbstständigkeit zu verkehren. Das kunstvolle freie Spiel mit den jeweiligen verschiedenen Lebensentwürfen, die die einzelnen selbst gewählten beruflichen Könnens­praktiken in nuce enthalten, kann einem sich selbst behin­dernden Zwang weichen. »Designer/Betriebsleiter/Blogger/ Masseur«: Menschen, die, statt in einer Profession durchzu­starten, in mehreren, durch Querstriche (slashes) voneinander getrennten Berufen performen, nennt man heute »Slasher«. Sie »können« praktisch viel – im Hinblick auf das Ganze des Lebens, auf das Verrinnen der individuellen Lebenszeit, kann diese multiprofessionelle Könnenspraxis aber Ausdruck einer Unfähigkeit sein, im jeweils rechten Moment selbst­ ständig Lebensentscheidungen zu treffen.

Die digitalen Technologien verändern heute unseren Begriff von Selbstständigkeit fundamental. Wir lagern im­ mer mehr unseren Geist, ja unser Selbst auf das Smartphone aus. Das gibt uns einerseits ein Mehr an Autonomie, weil wir überall und jederzeit Zugang zu allen Informationen haben, die wir brauchen. Zugleich aber nimmt es uns sukzessive die Selbstständigkeit. Man kann sich fragen, ob jemand noch selbstständig ist, der seine eigene Telefonnummer nicht mehr weiß. Wie uns das Smartphone unselbstständig macht, das merken wir spätestens dann, wenn es einmal nicht funk­tioniert, wenn wir also plötzlich »auf uns selbst« gestellt sind.

Das Smartphone bedeutet eine Selbstständigkeit, die vom Ladezustand der Batterie abhängt (das Gerät als Exten­sion des Selbst). Man könnte es eine »Scheinselbstständigkeit« nennen, fast analog zum arbeitsrechtlichen Begriff. Der Scheinselbstständige ist nicht wirklich selbstständig, son­dern tut nur so. Insofern ist auch der Smartphone­Junkie ein »Scheinselbstständiger«, dessen Grad an Selbstständigkeit umgekehrt proportional ist zu seiner Distanz zur nächsten Steckdose.
Freiheit erhält ihren umfassenden positiven Sinn (Wahlfreiheit, freiwillige moralische Selbstbeschränkung, Bewegungsfreiheit) erst dann, wenn Selbstständigkeit, Auto­nomie und Autarkie in einem ausgewogenen, immer neu zu verhandelnden Verhältnis stehen. Zugunsten eines Mehr an Autonomie kann man auf ein gewisses Maß an Selbstständigkeit verzichten, ohne deshalb unfrei zu werden. Aber wir können nicht völlig darauf ver­zichten, wenn uns daran liegt, wir selbst zu sein. Die Entfrem­dung der Unselbstständigkeit liegt darin, dass wir uns gewis­sermaßen unserem Leben entfremden, weil es nicht mehr das Produkt unserer eigenen Tätig­keit ist. Insofern könnte der Marx’sche Entfremdungsbegriff eine neue lebenspraktische Rele­vanz bekommen, wenn wir näm­lich derart unselbstständig wer­ den, dass uns das eigene Leben nicht mehr als unser eigenes vorkommt. In einem autonomen Auto gelangen wir zwar selbstbestimmt von A nach B. Aber wir fahren eben nicht selbst, aus eigenem Können, sondern wir werden gefahren. Analog leben wir ein völlig unselbst­ständiges Leben nicht selbst, egal wie frei und selbstbe­stimmt wir sind.

Wieder auf allen Vieren

Die künstliche Intelligenz wird in Zukunft immer mehr anspruchsvolle kognitive Tätigkeiten übernehmen und damit unsere Selbstständigkeit weiter unterminieren. Es hat kei­nen Sinn, darüber zu klagen. Wir müssen allerdings darüber nachdenken, wie wir unsere Selbstbestimmung bewahren, wenn die Maschinen alles können – und wir vergleichsweise nichts. Das muss nicht heißen, dass uns die Maschinen ver­sklaven. Es könnte auch einfach bequem sein, nichts mehr selbst können zu müssen, solange gewährleistet ist, dass die Maschinen unsere Ziele verfolgen und nicht ihre eigenen. Zumeist lachen wir heute darüber, dass wir ohne Navi nicht mehr richtig Auto fahren können. Aber wir würden nicht behaupten, dass das Navi uns die Freiheit raubt, eher im Gegenteil.
Der Witz ist ja: Navigationssysteme, Einparkhilfen und Ähnliches ermöglichen selbst jenen das Autofahren, die es eigentlich gar nicht können. Das könnte auch für unseren künftigen Umgang mit der künstlichen Intelligenz gelten.
In letzter Konsequenz könnte Freiheit bedeuten, dass wir gar nichts mehr können – und doch alles »können«, was wir wollen. Am Ende wäre es sogar möglich, dass uns die künstliche Intelligenz selbstbestimmter und freier macht, als wir es jemals waren, obwohl wir gleichsam wieder auf allen vieren krabbeln.

AUTARKIE
Der Begriff Autarkie (griech.: autarkeia) bedeutet Selbstgenügsamkeit oder Selbstständigkeit. Im politisch- wirtschaftlichen Sinn versteht man darunter die Fiktion einer »geschlossenen«, völlig vom Ausland abgeschotteten Ökonomie. In der griechischen Philosophie ist die Autarkie ein erstrebenswerter Zustand der Selbstgenügsamkeit, in dem es dem Leben »an nichts fehlt« (Aristoteles). Aus Sicht der Stoiker müssen wir uns auf die Dinge konzentrieren, die in unserer Macht liegen. Durch lebenslanges Üben erreichen wir Leidenschaftslosigkeit (apatheia) sowie Selbstständigkeit (autarkeia) – und damit Seelenruhe (ataraxia).

Illustration: Sarah Mazetti

Der Artikel stammt aus der Ausgabe 2/2019:

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