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Müssen wir Europa wollen?

Europa ist uns zur Gewohnheit geworden. Setzen wir die Idee der Gemeinschaft deshalb aufs Spiel? Haben wir überhaupt begriffen, was die EU bedeutet?
Wir sind Europäer. Wir kaufen italienischen Parmesan, lieben französischen Bordeaux und fahren mal schnell über die Grenze nach Österreich. Wir zahlen in Euro. Unsere Fliesenleger kommen aus Polen. Wir studieren für sechs Semester in Venedig, arbeiten in Luxemburg oder sparen, um unseren Kindern ein Schuljahr an einer guten britischen Lehranstalt zu finanzieren. Europa ist selbstverständlich. Aber was ist Europa?

Europa – das war in der griechischen Mythologie eine Königstocher, die vom Gott Zeus entführt und vernascht wurde. Europa – das ist ein Kontinent. Europa – das ist aber auch eine Idee, die nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs geboren wurde. Die Idee, dass es bei uns nie wieder Krieg geben darf. Es ist die Vorstellung, dass es möglich ist, unter­schiedliche, teils widersprüchliche nationale Identitäten und In­teressen demokratisch zu einen. Wenn wir von Europa ­sprechen, meinen wir auch die Europäische Union: 27 unterschiedliche Sichtweisen, zwischen denen in Brüssel in nächtelangen Sitzungen vermittelt werden muss.

Wir haben uns an Europa gewöhnt. Genau das ist das Problem. Denn, was wir gewohnt sind, darin richten wir uns behaglich ein, auch wenn wir manchmal darüber schimpfen und denken, wir bräuchten es gar nicht. Vor allem den Jüngeren erschiene es geradezu absurd, an einem Grenzübergang zu warten oder vor dem Urlaub noch schnell D-Mark in Bündel von Lire-Scheinen zu wechseln.
Doch das scheinbar Selbstverständliche ist heute nicht mehr selbstverständlich. »Die Flüchtlingskrise hat die Lage grundlegend verändert«, schreibt der bulgarische Politologe Ivan Krastev in seinem Essay »Europadämmerung«. »Die Flüchtlingskrise erweist sich als Europas 11. September.« Plötzlich wird uns bewusst, dass uns doch mehr trennt als nur unsere unterschiedlichen Sprachen und Interessen. Die neuen Autokraten in Ungarn oder Polen lassen uns unsere Nachbarn plötzlich fremd erscheinen. In Italien und Österreich sind Populisten an der Macht. Plötzlich attackiert der italienische Innenminister Matteo Salvini nicht nur Europa, sondern auch dessen größte Wirtschaftsmacht: Deutschland. Auf einmal scheint es denkbar, dass Europa auseinanderbricht. Großbritannien ist gespalten: Im Zuge des Streits um den Brexit droht ein zweites Referendum – und dann? Ein Bürgerkrieg?

Die Idee eines gemeinsamen Europas gründet in der historischen Einsicht, dass der Nationalismus überwunden werden muss. Der Boden des Nationalismus aber ist der ­Nationalstaat. Die ursprüngliche Idee der EU war, die wirtschaftliche Zusammenarbeit zu fördern, um den nationalstaatlichen Egoismen das Wasser abzugraben. Die zu­neh­mende Verflechtung des Marktes sollte nach und nach die Identifikation mit einem Gemeinsamen ermöglichen. Italiener sollten sich daran gewöhnen, Oliven nach Deutschland zu exportieren, Deutsche daran, in Rimini Devisen zu lassen. Schritt für Schritt sollte es selbstverständlich werden, über »europäische Werte« und »europäische Kultur« zu sprechen – und diese zu leben.

Das gemeinsame europäische »Wollen« wurde vom »Müssen« mehr und mehr überlagert.

Die Balkankonflikte in den Neunzigerjahren zeigten, dass Krieg in Europa sehr wohl immer noch möglich war. 2010 entbrannte der Streit um die Schuldenkrise in Griechenland und damit die Debatte über europäische Solida­rität in einer Welt des globalen Finanzkapitalismus, der vor keiner Grenze Halt macht. Warum sollten wir tüchtigen Deutschen, die es aus eigener Kraft geschafft hatten, zur viertgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufzusteigen, die faulen Griechen bezahlen? Warum mussten immer wir es sein, die die anderen subventionieren?
Plötzlich war aus Europa ein »Muss« geworden, eine Verpflichtung, deren Sinn für viele fragwürdig schien. Wer etwas muss, der hat keine Wahl. Er fühlt sich in seiner Freiheit eingeschränkt. Das gemeinsame europäische »Wollen« wurde vom »Müssen« mehr und mehr überlagert. Zugleich verblasste der historische Hintergrund des Krieges zunehmend. Es gibt immer weniger Zeitzeugen, wie KZ-Über­lebende oder Kriegswitwen. Auschwitz wurde immer mehr zur abstrakten Chiffre des Grauens – im Bewusstsein junger europäischer Bürger ist der Holocaust heute nicht mehr ­automatisch präsent.

Europa ist eine Notwendigkeit – aber eine bedingte

Die Gewohnheit, zu »müssen«, drohte zugleich jegliche ­europäische Lebendigkeit zu ersticken. Und damit begannen die Diskussionen über die sogenannten europäischen Werte. Je weniger diese Werte gelebt und gefühlt wurden, desto mehr war es nötig, sie heraufzubeschwören – als Vision, als Ideologie, die niemanden mehr so richtig begeistern konnte. Mit der Ära Berlusconi in Italien und Haider in Österreich begann der Aufstieg der populistischen Bewegungen, die lange vor Trump das »Eigene« der Nationalität betonten und gegen den europäischen »Zentralismus« wetterten. Italien first! Österreich first! Deutschland first?
Heute ist die Lage unübersichtlich geworden. Auf der einen Seite stehen die, die am liebsten aus dem europä­ischen Staatenbund ausbrechen wollen, auf der anderen jene, die als Reaktion darauf mit selbst organisierten Versammlungen für die Reaktivierung der europäischen Idee kämpfen – und dann ist da noch die schweigende Masse der Gleichgültigen, die nicht verstehen, warum es so etwas wie eine Europawahl gibt, warum man überhaupt noch wählen gehen soll.

Das zentrale Problem Europas heute ist die Demokratie. ­Europa besteht nur, wenn man es will, nicht wenn man es muss. Europa mag eine historische Notwendigkeit sein, aber solange es nationalstaatliche Demokratien gibt, können Wähle­­r auch gegen Europa votieren – siehe Brexit – oder darauf verzichten, ihr Wahlrecht auszuüben. Die nationalstaatliche Demokratie, so meint der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, könne das europäische Projekt gefährden, das in einen Widerspruch gerate: »Nationale Demokratie blockiert die nachnationale Entwicklung, nachnationale Entwicklung zerstört Demokratie.« Dieser Widerspruch, so der Hegelianer Menasse, könne jedoch aufge­hoben werden, indem wir die nationalstaatliche Demokratie gleich ganz »vergessen« – und als europäische, nachnationale Demokratie neu erfinden.

Nicht Europa selbst ist das Ziel. Es geht vielmehr um eine bestimmte Vorstellung vom guten Leben, von Humanität und Freiheit.

Die europäische Idee, das ist für Menasse eine histo­rische Notwendigkeit, die in Brüssel verwirklicht ist – eine Art höhere Vernunft, vertreten durch die gebildete EU-Elite, in der die nationalstaatlichen Interessen automatisch aufgehen. Was bei Robert Menasses glühender Verteidigung Europas fehlt, das ist eine Antwort auf die Frage: Was, wenn das gemeine Volk keine Einsicht in diese historische Notwendigkeit hat? Wenn es nicht will, was es muss?

Europa ist eine Notwendigkeit – aber eine bedingte. Wenn wir bestimmte Ziele erreichen wollen, ist Europa notwendig. Wenn wir verhindern wollen, dass es wieder krie­gerische Auseinandersetzungen gibt; wenn wir gegenüber der neuen Weltmacht China ein alternatives Lebens-Arbeits-Modell aufrechterhalten wollen; wenn wir der alten Gewohnheit neue Vitalität einhauchen wollen, dann ist Europa notwendig. Es ist keine historische Notwendigkeit, Europa zu erhalten – man muss es wollen. Nicht Europa selbst ist das Ziel. Es geht vielmehr um eine bestimmte Vorstellung vom guten Leben, von Humanität und Freiheit.

Das gemeinsame Europa ist ein Mittel zum Zweck – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Wir müssen nicht die Flüchtlingsfrage lösen, um das gemeinsame Europa zu retten, sondern wir müssen das gemeinsame Europa sein und leben, um die Flüchtlingsfrage zu lösen. Wenn wir es wollen. Wenn wir Europa leben wollen, brauchen wir kein »Muss« mehr, sondern die Fähigkeit zum Kompromiss.
Kompromiss ist die einzige Alternative zu zähem Streit. Zum Krieg. 2012 erhielt die EU für ihren Einsatz für Demokratie und Menschenrechte den Friedensnobelpreis. Also nicht dafür, dass sie ein Zweck an sich ist, sondern dafür, dass sie die Mittel, das heißt die Voraussetzungen für eine friedlichere Welt, bereitstellte: ökonomische Kraft, demokratische und rechtsstaatliche Institutionen, eine Vielfalt an unterschiedlichen Kulturen und lebenswerten Regionen.
Was immer Europa ist – es ist keine Utopie. Es ist eine konkrete Realität, um die wir immer wieder aufs Neue streiten müssen – wenn wir wollen. Was wir brauchen, das ist weder eine hochfliegende neohegelianische Abstraktion, ein europäisches »Absolutes«, noch neue hitzige Visionen und Ideologien, die künstlich Emotionen in die erlahmte europäische Seele pumpen. Was wir brauchen, ist ein optimistischer Realismus – und ein realistischer Optimismus, wenn es um die Frage des Zusammenlebens geht.

Wie wäre es, wenn wir plötzlich wieder Grenzkontrollen hätten?

Wie können wir in Europa kooperieren, um die Digitalisierung auf humane Weise voranzutreiben? Wie können wir auf europäischer Ebene neue soziale Modelle entwickeln und praktisch erproben, wie etwa ein bedingungs­loses Grundeinkommen? Welche gemeinsamen Praktiken können die Demokratie in Europa stärken und dem Populismus den ­Boden entziehen? Der Ansatz wäre immer der Gleiche: Wie können wir Europa dazu nutzen, um kompromissbereit konkrete Probleme des Zusammenlebens zu lösen?
Gewohnheiten haben viele gute Seiten. Sie geben uns Sicherheit, sie lassen uns in ihnen wohnen. So wie schon Aristoteles auf die Gewohnheit als Weg zur Tugend setzte, so können wir die Gewohnheit Europa nutzen. Aber gelegentlich muss man Gewohnheiten auch stören, zum Beispiel durch das folgende Gedankenexperiment: Wie wäre es, plötzlich wieder Grenzkontrollen zu haben, bei jedem Grenzübertritt Geld wechseln zu müssen oder bei jeder längeren Anwesenheit etwa in Italien eine Aufenthaltsgenehmigung zu benötigen?
In gewisser Weise ist die Flüchtlingskrise auch eine Störung unserer gewohnten Saturiertheit. Eine Erinnerung an Europa. An das, was wir sind und sein wollen. Jetzt ist ein guter Zeitpunkt, die alte, ausgeleierte Gewohnheit durch neue »kurze Gewohnheiten« (Friedrich Nietzsche) zu beleben, um nicht der gefährlichen Langeweile des Selbstverständlichen zu verfallen. Zum Beispiel, indem wir unsere Freunde und Kollegen regelmäßig daran erinnern, die Europawahl am 26. Mai dieses Jahres nicht zu verpennen.

Von Rebekka Reinhard & Thomas Vašek
Illustration: Marco Oggian


HOHE LUFT 3/2019

Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 3/2019
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