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Serie: Die Weisheit der Gefühle / Teil 4 / Liebe und Hass

Die Bande, die uns zusammenhalten

Von Tobias Hürter

Kein anderes Gefühl ist so überladen mit Ansprüchen wie die Liebe. Sie soll uns glücklich machen, die Gesellschaft einen und uns mit Gott verbinden. Kann sie das alles? Und was ist mit ihrem missratenen Bruder, dem Hass?

 

Fragt man Biologen, dann ist Liebe das Einfachste auf der Welt: Frauen lieben Männer mit breiten Schultern, dichtem Haarwuchs und dickem Geldbeutel. Männer lieben Frauen mit gebärfreudigem Becken, großen Brüsten und straffer Haut. Ginge es nur um die Verbreitung der Gene, dann wäre das Rätsel Liebe schnell gelöst: Man käme zusammen, um die Brut zu pflegen, und geht auseinander, wenn diese Aufgabe erledigt ist. Aber jeder, der gelegentlich Radio hört oder in die Ratgeber-Abteilung einer Buchhandlung schaut, weiß, dass Liebe das Komplizierteste auf der Welt ist. Die meisten Popsongs handeln von der Liebe, und unzählige Lebenshilfe-Bücher davon, wie man das Glück seines Lebens findet und bewahrt – sprich: die Liebe seines Lebens.

Die Liebe seines Lebens«, da fängt es schon an mit den Merkwürdigkeiten. Viele  Menschen sehnen sich nach der ewigen, unverbrüchlichen Liebe. Aber wie kann ein Gefühl ewig sein? Dieses Paradox ist es nicht zuletzt, das die Liebe so rätselhaft macht. Gefühle fliegen uns zu und wieder weg. Wie kann man die Liebe festhalten? Vielleicht liegt die Lösung darin, dass die Liebe zwar auch ein Gefühl ist, aber mehr als das. Nur was?

Seit undenklichen Zeiten lieben Menschen und denken über die Liebe nach, und dennoch bleibt sie ein großes Rätsel. Das liegt auch daran, dass jede Zeit die Liebe neu für sich erfinden muss. Liebe ist nicht nur ein biologisches ­Phänomen und ein existenzielles Bedürfnis des Menschen, sondern auch ein kulturelles Phänomen. Wer anders lebt, der liebt auch anders.

Der Urtext der Liebe in unserer abendländischen Kultur ist Platons Dialog »Das Gastmahl« (Symposion). Es erzählt von einem Gelage, das vermutlich im Jahr 416 vor Christus in der Stadtvilla des Athener Dichters Agathon stattfand. Ein Arzt ist da, ein Redner und ein Feldherr, der Philosoph Sokrates und der Komödiendichter Aristophanes. Sie beschließen, gemäßigt zu trinken und über die Liebe zu reden. Einer nach dem anderen legt seine Sicht der Liebe dar: Woher sie kommt, worin sie besteht, was sie soll, ob sie den Menschen schadet oder nutzt. Dabei geht es ausdrücklich um erotische Liebe, was damals bedeutete: um körper­liche Liebe zwischen Frauen und Männern, oder zwischen Männern. Doch Platon hob den Begriff auf eine ganz neue Ebene. Das wird deutlich, wenn man die Reden von Aristophanes und Sokrates vergleicht.

Aristophanes erklärt das Wesen der Liebe mit einer Art Comic-Geschichte: Ursprünglich habe es neben Frauen und Männern noch ein drittes Geschlecht gegeben – die ­Kugelmenschen, eine Mischung aus Mann und Frau. Die Kugelmenschen waren tatsächlich kugelrund, mit vier Armen, vier Beinen, zwei Köpfen mit zwei Gesichtern und zwei Geschlechtsorganen rollten sie glücklich durch die Welt. Doch ihr Glück stieg ihnen so weit zu Kopf, dass Zeus und seine Mitgötter beschlossen, sie in die Schranken zu weisen, und sie entzweischnitten. Heraus kamen jene arm­seligen Wesen mit zwei Armen, zwei Beinen, einem Kopf, einem Geschlecht und unstillbarer Sehnsucht, die wir sind. Statt zu rollen, stolpern wir auf der Suche nach unserer anderen Hälfte durchs Leben. Das ist die Liebe, sagt Aristophanes, die Sehnsucht nach der verlorenen Vollständigkeit.

Jetzt ist Sokrates dran. Er versucht, Aristophanes’ Bild der Liebe zu demontieren. Zwar stimmt er Aristophanes darin zu, dass Liebe eine Suche ist. Nicht aber nach einem anderen Menschen, sondern nach dem Guten und Schönen. In Unsterblichkeit mit dem Guten und Schönen vereint sein, danach strebt die wahre Liebe. Sie strebt ins Jenseits. Aristophanes’ Liebe sei davon nur ein Abklatsch, der schon im Diesseits verklingt.

Die Liebesphilosophie Platons prägte das Christentum

Platon verschaffte der Liebe einen Ehrenplatz in der abendländischen Philosophie. Aristoteles hat seine Ethik zum großen Teil auf die Liebe gegründet, Augustinus von Hippo (354–430) seine gesamte Philosophie. Vor allem aber hatte Platons Philosophie der Liebe einen gewaltigen Einfluss auf die bedeutendste Religion unserer Kultur: das Christentum. Die christliche Liebe ist Platons Liebe in Verkleidung.

Für die frühen Christen war Liebe der Angelpunkt der Welt. Paulus, ihr erster Theologe, schrieb in seinem ersten Brief an die Korinther: »Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe.« Die Liebe zählt also noch mehr als der Glaube. Allerdings sagte Jesus selbst wenig zur Liebe, zumindest ist wenig davon überliefert. Das blieb seinen Anhängern überlassen, ­allen voran Augustinus – und der war Platon-Fan. So prägte die Liebesphilosophie des Heiden Platon das Christentum. Es etablierte sich ein christliches Ideal der Liebe, das sich an der göttlichen Liebe orientierte. Wenn ein Christ jemanden liebt, so sagt es dieses Ideal, dann liebt er in Wahrheit Gott. Die Liebe weist dem Christen den Weg zu Gott – so wie sie Platon den Weg zum Schönen und Guten wies.

Verlässliche Bindungen sind ein menschliches Grundbedürfnis

Die israelische Soziologin Eva Illouz, Autorin des Bestsellers »Warum Liebe weh tut«, vermutet, dass dieses christliche Ideal der Liebe das Vorbild war für die »große Liebe«, von der seit dem 12. Jahrhundert alle Welt träumt. »Mono­theismus und grand amour sind Wahlverwandte«, erklärt Illouz. Die große Liebe hat keinen Plural, ebenso wenig
wie der Gott der Christen.

Die große Liebe – ist sie nicht ohnehin ein Nostalgiethema? Glaubt man Umfragen und Zeitgeist-Exegeten, dann geht der Trend zur Kurzfristbeziehung: Sex, Spaß und
Unverbindlichkeit statt Liebe, Romantik und ewiger Treue. Seit Mitte der 1990er-Jahre ist das Wort »love« auf dem Rückzug aus den Texten der Popsongs, stattdessen wird mehr über Sex, Gewalt und Kiffen gesungen. Man kann diesen allmäh­lichen Themenwechsel als Ausdruck einer allgemeinen Desillusionierung deuten. Die Zeit der Romantik ist vorbei, wir wenden uns realistischeren Zielen zu.

Wozu auch noch? Im Unterschied zu alten Zeiten kommen Menschen heute gut allein zurecht. Ehe und Familie sind weder zur ökonomischen noch zur sozialen Absicherung erforderlich. Man erspart sich eine Menge Ärger, wenn man die Liebe sein lässt.
Allerdings deuten die Umfragen, die einen Trend zu individualisierten Lebensformen zeigen, auch darauf hin, dass die Sehnsucht nach der einen, großen Liebe lebendig bleibt. Noch immer geben die meisten Menschen an, dass eine beständige Partnerschaft für sie zum Lebensglück gehört. Dabei ist die Lebensform der dauerhaften Zweisamkeit nicht etwa nur eine Laune unserer abendländischen Kultur: Fast alle Gesellschaften kennen und pflegen die Institution der Ehe. Laut den Daten der UN-Statistikkommission, die seit den 1940er-Jahren Aufzeichnungen zu den Ehen in aller Welt sammelt, waren zwischen den Jahren 2000 und 2011 im Durchschnitt 90,2 Prozent aller Frauen und 88,9 Prozent aller Männer bis zu einem Alter von 49 Jahren verheiratet.

Wenn solch ein Phänomen wie die Ehe fast eine kulturelle Universalie ist, dann muss etwas Bedeutendes dahinterstecken. Es ist ein Grundbedürfnis des Menschen, in verläss­lichen Bindungen zu anderen Menschen zu leben. Nicht nur Babys brauchen sie, sondern auch erwachsene Menschen.

Schönheit mag einen Menschen für andere attraktiv machen, aber bei der Liebe geht es um etwas anderes.

Die Liebe von heute wirkt wie ein Durcheinander verschiedener widerstreitender Praktiken. Ohne Romantik geht nichts, doch auch gute Zusammenarbeit muss sein, nebenbei soll noch der soziale Status gesichert werden – und das alles mit dem einen, einzig richtigen Partner fürs Leben. Liebe ist manchmal Erotik und Abenteuer, manchmal Vertrauen und gute Zusammenarbeit, manchmal Trost und Fürsorge. Es ist gar nicht mehr klar, was uns die Liebe zu geben hat. Sex? Abenteuer? Anerkennung? Ökonomische Sicherheit? Emotionale Geborgenheit? Vielleicht gar voll­endete Tugend, ewige Wahrheit und Schönheit, wie Platon und Aristoteles glaubten?

Schönheit mag einen Menschen für andere attraktiv machen, aber bei der Liebe geht es um etwas anderes. Fragt man Menschen in langen, glücklichen Beziehungen, was die Liebe mit ihnen gemacht hat, dann bekommt man oft Antworten wie diese: »Ich habe das Gefühl, in der Liebe zu XY zu mir selbst gefunden zu haben.« Das kann man als Egoismus auslegen. Man kann es aber auch so verstehen, dass diese Menschen in ihrer Liebesbeziehung eine existenzielle Heimat gefunden haben. Die Liebe gibt ihnen den Ort in der Welt, an den sie gehören – eine feste Basis, von der aus sie nicht nur nehmen, sondern ebenso geben können. Auch die Menschen, mit denen die Liebe sie verbindet, können darin das Gleiche finden.

»Liebe ist die Entrückung, die wir für Menschen und Dinge verspüren, die in uns die Hoffnung auf ein sicheres Fundament für unser Leben wecken«, sagt der Philosoph Simon May, der am King’s College in London lehrt. Dagegen verblasst alle Schönheit. Dabei meint May es ernst, wenn er von »Dingen« spricht. »Man kann auch eine Landschaft, eine Oper, vielleicht sogar einen Wein lieben«, sagt er. Für manche Menschen ist ihre Ehe oder ihre Familie der Ort, an dem sie sich aufgehoben fühlen, für manche sind es ihre Freundschaften, für andere ist es ihr Hobby oder ihr Beruf.
Simon May beruft sich bei seiner Erklärung der Liebe unter anderem auf Sigmund Freud, den Erfinder der Psychoanalyse, der die Liebe für den unbewussten Wunsch des Menschen hielt, in jene Geborgenheit zurückzukehren, die er als Säugling am Busen seiner Mutter erlebt hat.

Natürlich nicht wörtlich – die Geborgenheit, nach der ein Erwachsener sich sehnt, ist ein sinnvolles Leben in sicheren Umständen und Klarheit darüber, was wirklich wichtig
ist. All das verspricht die Liebe. Kein Wunder, dass die Sehnsucht nach ihr in einer Welt, die so unübersichtlich ist wie unsere heutige, lebendig bleibt.

Liebe ist mehr als ein Gefühl. Eine Haltung. Ein Entschluss

Kein Wunder aber auch, dass Liebe heute schwerer fällt als früher, wenn Menschen gleichzeitig Freiheit und Beständigkeit wollen; wenn sie die eine oder den einen suchen und sich dabei in der Menge der Möglichkeiten verlieren; wenn sie sich nach Nähe sehnen und nicht einmal wissen können, was der andere von ihnen will und erwartet.

Der französische Philosoph Alain Badiou nennt die Gemeinsamkeit der partnerschaftlichen Liebe die »Bühne der Zwei«. Auf dieser Bühne lernen die Liebenden, »was es bedeutet, zu zweit und nicht einer zu sein«. Das geht weit da­rüber hinaus, Dinge miteinander zu genießen. Es bedeutet, aus zwei Ichs ein Wir zu formen. Welche Herausforderung! Die Bühne der Zwei entsteht nicht früher, als dass »der andere mit seinem Sein bewaffnet in mein Leben getreten ist und es damit zerbrochen und neu zusammengesetzt hat«.

Das klingt nach einem Dilemma. Als gäbe es nur die Wahl zwischen wahrer Liebe und der eigenen Identität. In der Tat: Wer liebt, verändert seine Identität. Aber aufgeben muss er sie deshalb nicht. Eine Mutter wird durch die Liebe zu ihrem Kind nicht selbst zum Kind. Sie behält ihre eigenen Bedürfnisse. Aber wenn das Kind Hunger hat, dann macht die Liebe es automatisch zu einem Bedürfnis der Mutter, den Hunger zu stillen. Nicht aus irgendeiner Überlegung heraus oder aus Mitleid, viel unmittelbarer. Dein Hunger ist auch mein Bedürfnis. Ein liebender Mensch verleugnet nicht sein Wesen. Aber er ändert sein Leben. Wohl nicht zuletzt deshalb haben viele Menschen heute ein gespaltenes Verhältnis zur Liebe. Sein Leben ändern für jemand anderen? Das ist in einer Zeit, in der Individualisierung zu den »Mega­trends« gezählt wird, ziemlich viel verlangt.

Und warum liebt ein Mensch einen ganz bestimmten Menschen – ausgerechnet den und keinen anderen? Dafür kann es viele Gründe geben: gute, schlechte, aber keine zwingenden. Vielleicht ist derjenige mit uns verwandt, vielleicht haben wir uns spontan in ihn verliebt, oder er hat uns hartnäckig umworben. Vielleicht sind dabei genetische Programme am Werk – oder der Parship-Algorithmus. Die genauen Gründe sind nicht so wichtig. Es ist nicht so, dass man einen Menschen liebt, weil er ganz oben auf einer Rangliste steht. Sondern umgekehrt: Er steht ganz oben, weil man ihn liebt. Es geht nicht darum, Mr. oder Mrs. Perfect zu finden. »Wir sind alle mit der falschen Person verheiratet«, sagt der britisch-schweizerische Philosoph Alain de Botton. Die Liebe macht die »falsche« zur richtigen Person, darin eben besteht ihr Wunder.

Vom Zufall zur Liebe, von irgendeinem zum einzigen, von allein geht das allerdings nicht. Wer lieben will, muss sich dazu entschließen. »Ich werde aus dem, was ein Zufall war, etwas anderes machen«, sagt Alain Badiou. »Ich werde daraus eine Dauer, eine Hartnäckigkeit, eine Verpflichtung, eine Treue machen.« Liebe braucht Sturheit. Aber die Mühe lohnt sich, versichert Badiou. »Es gab Dramen, Zerfleischungen und Ungewissheiten, aber ich habe niemals mehr eine Liebe verlassen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich diejenigen, die ich geliebt habe, auf ewig geliebt habe und noch liebe.« Darin zeigt sich: Liebe ist mehr als Gefühl. Sie ist eine Art des Umgangs mit seinen Gefühlen. Eine Haltung, ein Entschluss.

Sobald die Liebe einmal da ist, treten die Gründe für ihre Entstehung in den Hintergrund. Die Liebe selbst wird zum Handlungsgrund. »Liebe schafft Gründe« ist der Kernsatz eines Buches des amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt mit dem Titel »The Reasons of Love«. Es gibt keine zwingenden Gründe für Liebe, jeder Mensch hat seine eigenen. Aber was Menschen aus Liebe tun, ähnelt sich.
Der deutsche Philosoph Karl Jaspers (1883–1969) nannte die Liebe »die unbegreiflichste, weil grundloseste, selbstverständlichste Wirklichkeit des absoluten Bewusstseins«. Die Gründe, aus denen sie entsteht, mögen Zufälligkeiten sein. Die Gründe, die sie schafft, sind es nicht. Liebe schafft Verbindlichkeit.

Hass hat eine innere Spannung. Das macht ihn zur Gefahr.

Wer über die Liebe spricht, muss aber auch über ihren missratenen Bruder reden: den Hass. Es ist eine Binsenweisheit, dass Hass und Liebe nah beieinander liegen, manchmal sogar zu einer »Hassliebe« verschmelzen. Und tatsächlich kann man den Hass in mancher Hinsicht als schiefgegangene Liebe verstehen. Wie sie stellt er eine starke Verbindung zwischen seinem Subjekt und seinem Objekt her, und wie sie verortet er sein Subjekt existenziell in der Welt. Aristoteles erhellt in seiner »Rhetorik« das Verhältnis von Zorn und Hass, das dem von Begehren und Liebe ähnelt: Zorn ist eine Emotion, aber der Hass ist weit mehr. Er definiert eine existenzielle Verbindung zwischen dem Hassenden und dem Gehassten. Wer liebt, verschreibt sich der Existenz des Ge­liebten. Wer hasst, verschreibt sich der Nichtexistenz des Gehassten.

Wie der Liebende weiß auch der Hassende, wo er hingehört in der Welt – aber nicht dorthin, sondern anderswohin. Das verleiht dem Hass eine enorme innere Spannung, die ihn zur Gefahr macht, im Persönlichen und im Sozialen. Es wirft die Frage auf, wie mit Hass zum Beispiel in sozialen Medien und in der Politik umzugehen ist. Ist Hassrede ein legitimes politisches Instrument?

Liebe und Hass sind politische Emotionen

In vielen Staaten, auch in Deutschland, sind der Hassrede enge Grenzen gesetzt, um zum Beispiel Minderheiten zu schützen. In den USA hingegen steht diese weit­gehend unter dem Schutz des Rechts auf freie Rede. »Freie Rede für alle außer Eiferern ist keine freie Rede«, sagt der britisch-­indi-sche Philosoph Kenan Malik. Und ein Verbot der Hassrede habe letztendlich schlimmere Folgen als die Hassrede selbst, so glaubt er. »Man lässt die Gefühle im Untergrund gären.«

Der französische Philosoph Jacques Rancière ist der Ansicht, dass der Hass nicht nur innerhalb der Demokratie eine gefährliche Rolle spielt, sondern auch im Verhältnis der Demokratie zu anderen Gesellschaftsformen. Das sei immer schon so gewesen, sagt Rancière, schon im antiken Athen habe die Ur­demokratie den Hass derer auf sich gezogen, die sich von Geburt an zur Herrschaft bestimmt oder qua ihrer Fähigkeiten zu ihr berufen fühlten – schon Platon hasste sie.

Heute schürt die Demokratie den Hass, wenn sie eine Ideologie »der unbegrenzten individuellen Begierden in der Massengesellschaft« mit Gewalt in alle Welt zu exportieren versucht. Gibt es die Demokratie auch ohne Hass? Nicht ohne eine radikale Neubestimmung der Demokratie, glaubt Rancière.

Hass ist also auch eine politische Emotion, und ebenso die Liebe. Die politische Theoretikerin Hannah Arendt (1906–1975) schrieb ihre heute wenig gelesene Dissertation über den »Liebesbegriff bei Augustin«. Darin legt sie einen Widerspruch in der christlichen Tradition der Liebe offen. Einerseits predigt das Christentum die Nächstenliebe als Grundlage menschlicher Gemeinschaft: ein durch und durch diesseitiges Verständnis von Liebe. Andererseits orientiert sich die christliche Liebe zu Gott am Jenseits. Arendt zeigt, wie Augustinus von Hippo sich auf seiner Suche nach der Liebe zu Gott von der Welt abwendet und diese Liebe in sich selbst sucht. So wird, schreibt Arendt, nicht mehr ein anderer Mensch, »sondern die Liebe selbst geliebt. Damit wird die Welt der Menschen zu einer Welt der Einzelnen in der Isolierung.« Die Liebe kann ihren eigentlichen Zweck, die Menschen zueinander zu bringen und ineinander zu verwurzeln, nicht mehr erfüllen. In unserer modernen individualistischen Konsumgesellschaft sieht Arendt diese Ambivalenz der Liebe bis ins Unerträgliche gesteigert.

Als Egotrip kann die Liebe die urmenschliche Sehnsucht nach Verbundenheit nicht mehr erfüllen. »Die Welt wird zur Wüste statt zur Heimat«, schreibt Arendt. Wir brauchen dringend mehr Liebe, auch in der Politik.


Dieser Artikel stammt aus der Ausgabe 3/2019:

HOHE LUFT 3/2019

 

 

 

 

 

 

 

 


Serie: Die Weisheit der Gefühle
Hier gehts zu

Folge 1: Angst und Lust

Folge 2: Neid und Scham

Folge 3: Wut und Traurigkeit

 

Foto: Elizabeth Taylor und Richard Burton in »Wer hat Angst vor Virginia Woolf?«, Getty Images

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