Alle Artikel in: HOHE LUFTpost

HOHE LUFTpost – Gesellschaft oder Gesellschaften?

HOHE LUFTpost vom 27.05.2016: Gesellschaft oder Gesellschaften?  Am Anfang letzter Woche kamen zwei politische Ereignisse zusammen, die in dieselbe, bedenkliche Richtung weisen. In der Wahl zum österreichischen Staatspräsidenten unterlag der Rechtspopulist Norbert Hofer von der FPÖ nur um Haaresbreite dem von einem breiten Bündnis der übrigen politischen Kräfte unterstützten Kandidaten Alexander Van der Bellen. Und in Berlin kam die AfD-Vorsitzende Frauke Petry mit dem Zentralrat der Muslime zusammen – für nicht einmal eine Stunde, dann ließ Petry das Gespräch platzen. Noch kläglicher war ein Gesprächsversuch von Hofer und Van der Bellen gescheitert, bei einem unmoderierten Fernsehduell blieben sie gerade mal 20 Minuten sachlich, dann brachten sie bloß noch Beschimpfungen und Polemik hervor. Das verheißt nichts Gutes für die Wahlkämpfe, die da kommen: US-Präsidentschaft 2016, deutscher Bundestag 2017. Wenn die konkurrierenden politischen Kräfte gar nicht mehr ernsthaft miteinander reden wollen, steht eine wichtige Voraussetzung einer funktionierenden Demokratie in Frage. Solange die Zickereien kalkulierte Inszenierungen von Berufspolitikern sind, hält der Schaden sich in Grenzen. Sollten sie aber Symptome für eine tiefere Entwicklung sein, dann wird es wirklich …

HOHE LUFTpost – Star Trek und Philosophie

HOHE LUFTpost vom 06. Mai 2016: Star Trek und Philosophie Vor 50 Jahren wurde in den USA die erste Folge der Science-Fiction-Serie »Raumschiff Enterprise« ausgestrahlt. Obwohl meine Eltern nicht immer begeistert waren, wenn ich mir die Abenteuer von Captain Kirk & Co. anschauen wollte, gehörten sie zu den wichtigsten Fernseh-Erlebnissen meiner Kindheit. Heute weiß ich, dass diese Geschichten zutiefst philosophisch sind. Ist ein Mensch, der beim Beamen komplett zerstört und an einem anderen Ort Atom für Atom wieder zusammengebaut wird, noch derselbe Mensch? Führen Zeitreisen in logische Paradoxien? Wie weit kommt man mit purer Logik à la Commander Spock überhaupt? Können Maschinen denken? Das sind Fragen, über die Philosophen intensiv grübeln, und über die auch ich damals nachdachte, ohne das Wort »Philosophie« zu kennen. Ich bin auch nicht immer begeistert, wenn meine Kinder fernsehen wollen. Aber Star Trek dürfen sie sich anschauen. – Tobias Hürter

HOHE LUFTpost – Der Dichterphilosoph

HOHE LUFTpost vom 29.04.2016: Der Dichterphilosoph Es ist Shakespeare-Woche. Am 23. April vor 400 Jahren ist der große Dichter gestorben, am 26. April vor 452 Jahren wurde er getauft – sein Geburtsdatum ist unbekannt. Es war keine Glanzzeit der Philosophie, in der er lebte. Die Systeme der Scholastiker waren längst verblasst, die Ära von Descartes, Hobbes, Locke & Co. hatte noch nicht begonnen. Dennoch dachte Shakespeare zutiefst philosophisch.

HOHE LUFTpost – Wir und unsere Wurzeln

HOHE LUFTpost vom 22. April 2016: Wir und unsere Wurzeln Inge Lohmann (66) wüsste gern, wer ihr Vater ist. Sie ist bis vor das Bundesverfassungsgericht gegangen, um Gewissheit darüber zu erhalten, ob der Mann, den sie für ihren Vater hält, sie wirklich gezeugt hat. Das Gericht hat diese Woche entschieden: Frau Lohmann hat kein Recht auf diese Gewissheit.

HOHE LUFTpost – Kunst, Kontext und Jan Böhmermann

HOHE LUFTpost vom 15. April 2016: Kunst, Kontext und Jan Böhmermann Vor hundert Jahren vollbrachte Marcel Duchamp ein Wunder: Er hob ein gewöhnliches Pinkelbecken (unbenutzt) auf einen Sockel – und es ward Kunst. Mit seinen »Readymades« stürzte er die Kunst in eine Krise, die zu einem gründlich neuen Verständnis dessen führte, was Kunst überhaupt ist. Eine der Lehren von damals war, dass alles vom Kontext abhängt. Von zwei physikalisch gleichen Objekten kann eines ein Kunstwerk und das andere nicht, nur weil wir unterschiedlich mit ihnen umgehen.

HOHE LUFTpost – Von Bürgern und Würgern

HOHE LUFTpost vom 08. April 2016: Von Bürgern und Würgern Niemand zahlt gern Steuern. Die Enthüllung der Panama Papers diese Woche nährt den Verdacht, dass eine beträchtliche Zahl unserer Mitbürger so ungern Steuern zahlt, dass sie mit Hilfe von Banken und spezialisierten Anwaltskanzleien hunderttausende Briefkastenfirmen in entfernten Inselstaaten gegründet haben, um ihr Vermögen den Finanzbehörden zu entziehen. »Warum dürfen diese Diebe mir dauernd was von meinem hart verdienten Geld abknöpfen?« Diese Frage kann einem beim Öffnen eines Steuerbescheides schon mal kommen. Der amerikanische Philosoph Robert Nozick (1938–2002) hielt Zwangssteuern für eine Form der Zwangsarbeit. Niemandem dürfe rechtmäßig erworbenes Eigentum entzogen werden, argumentierte er in seinem Buch »Anarchy, State, and Utopia« (1974). Wenn jemand für Polizei und Müllabfuhr bezahlen möchte, ist das natürlich OK. Aber Nozick hielt es für unrechtmäßig, Bürger dazu zu zwingen. Mit dieser Position ist Nozick allerdings Außenseiter unter Philosophen. Sein Kollege John Rawls (1921–2002) hielt Steuern für ein rational begründetes Mittel, um Gerechtigkeit herzustellen. Nehmen wir an, wir hätten die Wahl zwischen zwei Gesellschaften: A und B. In Gesellschaft A sind die Einkommensunterschiede geringer …

HOHE LUFTpost – Bedrohung, die Zweite

HOHE LUFTpost vom 01.04.2016: Bedrohung, die Zweite Auf die letzte HOHE LUFTpost, die von Terrorismus, abstrakter und konkreter Bedrohung handelte, schrieb mir eine Leserin aus Frankreich. Dort sei von Bedrohung nichts zu spüren: »Alltag, Gewöhnung, Feiern«. Wenig überraschend kam die Rede auf die »German Angst«, die in Deutschland verbreitete Neigung, die eigene Angst zu kultivieren: nicht nur vor Terrorismus, sondern auch vor Infektionskrankheiten, saurem Regen, Radioaktivität, Zuwanderung und vielem anderen. So etwas endet leicht in Vorurteilen und Allgemeinplätzen.

HOHE LUFTpost – Abstrakte Bedrohung

HOHE LUFTpost vom 25.03.2016: Abstrakte Bedrohung Nach den Anschlägen von Brüssel greift in Europa wieder die Terrorangst um sich. In den nächsten Wochen und Monaten wird in Verlautbarungen von Ministerien wieder viel von “Gefährdern” und “Bedrohungslagen” die Rede sein. Selten erfährt man Einzelheiten. Meist nur vage von “abstrakter Gefährung”, “konkreter Bedrohung” oder ähnlichem. Nun möchte man vielleicht meinen, dass eine Bedrohung umso beängstigender wird, je konkreter sie ist. Aber gerade die Dynamik der Terrorangst zeigt, dass es komplizierter ist. Eine konkrete Bedrohung sieht man vor sich. Man kann sich auf sie einstellen. Eine abstrakte Bedrohung lauert im Dunkeln, konturlos, ungreifbar. Die Fantasie befeuert die Angst. Die perfide Wirkung des Terrorismus entsteht durch den Wechsel zwischen konkreten Szenarien – zuletzt den Bildern aus Paris, Ankara, Istanbul und Brüssel – und abstrakter Bedrohung: “So etwas kann passieren, aber kann es auch mir passieren?” Die extremen Formen dieser wabernden Angst sind psychische Angststörungen. Bei ihnen gibt es gar keine konkrete Bedrohung. Nicht zuletzt wegen dieser Ungreifbarkeit sind sie so schwer zu behandeln. Vor diesem unseligen Mechanismus der ungerichteten …

HOHE LUFTpost – Politik und Emotionen

HOHE LUFTpost vom 18.03.2016: Politik und Emotionen Vergangenen Sonntag wurde in drei deutschen Bundesländern gewählt, in den USA tobt der Präsidentschaftswahlkampf – und diesseits und jenseits des Atlantiks sind es die Emotionen, die die Politik beherrschen. Die am Sonntag so erfolgreiche AfD hat bisher nicht einmal ein Parteiprogramm. Der US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump scheint auf einer Welle der Sympathie zu schwimmen, aber klare politische Positionen sind bei ihm nicht erkennbar. Angesichts all der Wut, Angst und Empörung, all des Trotzes und Entsetzens kann man schon mal die Sehnsucht nach mehr Sachlichkeit erwachen. Zurück zur Sache also? So einfach ist es nicht. Emotionen haben ihren Platz in der Politik. In der Titelgeschichte der aktuellen HOHEN LUFT argumentieren wir dafür, dass komplexe Entscheidungen stets mit dem Kopf, dem Bauch und dem Herzen getroffen werden. Mit purer Ratio kommt man nicht weit, auch nicht in der Politik. Eine emotionslose Politik wäre Technokratie. Erst Emotionen machen einen Politiker glaubwürdig. Eindrucksvolles Beispiel: Willy Brandts Kniefall 1970 in Warschau. Wo aber Emotionen nur als taktisches Instrument eingesetzt werden, um einen Mangel an …

HOHE LUFTpost – Wahre Lügen

HOHE LUFTpost – Wahre Lügen (11.03.2016) Was sagen Sie: Kann man lügen, obwohl man die Wahrheit sagt? Das ist eine uralte Frage, die gerade wieder kontrovers unter Philosophen diskutiert wird. Nehmen wir ein konkretes Szenario: Jakobs Freundin Marie hat kürzlich Belege für einen schweren staatlichen Korruptionsfall im Internet veröffentlicht. Geheimagenten suchen Jakob auf und fragen ihn, wo Marie sich aufhält, um sie festzunehmen. Jakob glaubt, sie sei bei ihrem Bruder, und sagt den Agenten: »Sie ist im Gemüseladen.« Tatsächlich ist Marie im Gemüseladen. Hat Jakob nun gelogen, oder hat er nur vergeblich versucht, zu lügen? Dazu haben Philosophen gleich mehrere Umfragen durchgeführt. Es zeigt sich: Die Sache ist vertrackter, als sie auf den ersten Blick scheint. Die Resultate finden Sie hier im Blog des Philosophen Thomas Nadelhoffer. Bevor Sie draufklicken, bilden Sie sich selbst eine Meinung! – Tobias Hürter