HOHE LUFTpost vom 29.04.2016: Der Dichterphilosoph
Es ist Shakespeare-Woche. Am 23. April vor 400 Jahren ist der große Dichter gestorben, am 26. April vor 452 Jahren wurde er getauft – sein Geburtsdatum ist unbekannt. Es war keine Glanzzeit der Philosophie, in der er lebte. Die Systeme der Scholastiker waren längst verblasst, die Ära von Descartes, Hobbes, Locke & Co. hatte noch nicht begonnen. Dennoch dachte Shakespeare zutiefst philosophisch.
Was ist Wahrheit, wie findet man sie? Was macht Dinge wertvoll? Wo liegt der Wert eines Dings überhaupt, im Ding selbst oder im Menschen, der es wertschätzt? Mit solchen Fragen lässt Shakespeare seine Figuren immer wieder ringen. Es ist die Zeit des Zweifels nach dem Zerfall der Weltordnung des Mittelalters. Viele Konflikte in Shakespeares Stücken entstehen, wenn altes und neues Denken aufeinanderprallen. Etwa als die Söhne von König Lear darüber diskutieren, ob Sonnenfinsternisse und Sternzeichen das Schicksal der Menschen beeinflussen. Oder als Macbeth vegeblich den Unterschied zwischen einem wirklichen und einem bloß halluzinierten Dolch sucht.
Damit weckte Shakespeare den Genius malignus, jenen hypothetischen »bösen Geist«, der uns die Wirklichkeit womöglich nur vorgaukelt – und den Descartes 80 Jahre später mit seinem »Cogito ergo sum« bannte. Beim einen begann der skeptische Prozess, den der andere vorläufig vollendete.
– Tobias Hürter