Alle Artikel in: Kolumne

Mehr Statuen bitte!

Immer wenn Statuen gestürzt oder abmontiert werden, wenn Straßen, Plätze oder Universitäten umbenannt werden, regt sich Widerstand. Reden wir nicht von den Ewiggestrigen, die die alten Kaiser, Sklavenhändler und sonstigen Größen vergangener Zeiten immer noch verehren, denen die Denkmäler und Benennungen gewidmet waren. Gegen das „Ausradieren der Vergangenheit“ wenden sich auch diejenigen, die befürchten, dass auch die Erinnerung an die dunkle Vergangenheit verschwindet, wenn man die Namen der früheren Helden aus der Öffentlichkeit verbannt. Wir sollten dazu stehen, so das Argument, dass diese Männer einmal verehrt wurden, wir sollten ihre Abbilder und Namen als verstörende Erinnerung in der Öffentlichkeit bewahren, damit wir immer an die Zeiten erinnert werden, in denen diese Leute als Vorbilder und Lichtgestalten verehrt wurden. Das ist ein gutes Argument, und es gibt sicher auch andere Möglichkeiten, zu zeigen, dass wir inzwischen anders über diese Menschen denken als zu der Zeit, als ihnen Denkmäler gebaut wurden. Andererseits kann das Einreißen von Denkmälern, das Austauschen von Straßennamen, das Umbenennen von Institutionen auch ein Akt der Befreiung sein. „Jemanden vom Sockel stoßen“, dass ist …

Der Sinn des Fliegens in der Dämmerung

Fast genau vor 200 Jahren hat Hegel die berühmten Worte über die Philosophie notiert, nach der „die Eule der Minerva […] erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ beginnt, denn die Vorrede zu den „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ wurde im Mai 1820 geschrieben. Seitdem ich diesen Satz, der zum Sprichwort geworden ist, zum ersten Mal gelesen habe, frage ich mich: warum fliegt die Eule dann überhaupt noch los? Warum bleibt sie nicht sitzen? Natürlich war Hegel kein Ornithologe sondern Philosoph, die Gründe, die die Eule hat, in der Dämmerung zu fliegen, waren ihm wahrscheinlich egal. Was er ja sagen wollte: Die Philosophie findet erst zu ihrer Sprache, wenn die Ereignisse, die die Menschen aufwühlen und umhertreiben, schon wieder der Ruhe der Müdigkeit gewichen sind. Die Philosophie kommt mit ihrem Nachdenken immer zu spät, und was sie dann vielleicht herausfindet, interessiert am nächsten, neuen Tag niemanden mehr. Vielleicht auch: die Philosophie redet, wenn niemand zuhört, weil alles schläft. Zweierlei kann man sich nun fragen: erstens: Ist das wirklich so? Warum sollte die Philosophie nicht in …

Alice und Bob #8: Wann ist ein Berg ein Berg?

Wenn die Wanderung nicht ganz so anstrengend war, sprang Bob gern von einer kleinen Anhöhe zur nächsten und stieg auf jeden Stein am Wegesrand. Jedes Mal rief er „Schon wieder bin ich auf einen Berg gestiegen“ oder „Ich habe schon wieder einen Gipfel erklommen!“ Alice lächelte nachsichtig und sagte: „Das sind weder Berge noch Gipfel. Du kannst nicht jede kleine Erhebung als Gipfel oder gar als Berg bezeichnen!“ „Aber warum nicht? Gibt es eine allgemeine Definition, die ich anerkennen müsste?“ Am Abend recherchierte Alice im Internet und kam zu dem Schluss: „Eine allgemeine Definition gibt es wohl nicht. Aber man versucht schon, festzulegen, wann eine Erhebung als Berg oder als Gipfel zählt.“ „Das ist doch aber merkwürdig, findest du nicht?“ fragte Bob. „Ich meine, wir reden so sicher davon, dass der Watzmann z.B. ein Berg ist, der drei Gipfel hat. Man weiß sogar ganz genau, wie viele 8.000er es gibt, obwohl da bestimmt mehr einzelne Felsspitzen stehen. Aber es gibt keine genaue Definition?“ „Selbst wenn es eine gäbe,“ erwiderte Alice, „warum solltest du sie für …

Alice und Bob #7: Buridans Bergsteiger

In diesem Sommer verbrachten Alice und Bob eine Woche gemeinsam in den Bergen. Nach einer langen und anstrengenden Tour durch unwegsames Gelände und mit einiger Kletterei sagte Alice Abends lachend zu Bob: „Du hast mich heute manchmal an Buridans Esel erinnert, der vor zwei gleich großen Heuhaufen stand, sich nicht entscheiden konnte, von welchem er fressen sollte und schließlich verhungert ist. So hast du manchmal fast ewig vor schwierigen Kletterstellen gestanden und konntest dich nicht entscheiden, ob du hier- oder dorthin trittst.“ „So eine Entscheidung ist ja auch schwierig,“ erwiderte Bob, „hier ist der Griff besser zu erreichen, dort kann man besser Tritt fassen. Da ist der Stein feucht und rutschig, dort ist das Gestein locker und bietet keinen sicheren Halt. Wie soll man da die beste Entscheidung für den richtigen Weg treffen?“ „Wichtig ist, dass du dich überhaupt entscheidest, sonst kommst du nie ans Ziel!“ lachte Alice. Bob überlegte: „Und überhaupt, was heißt denn ‚Entscheidung‘? Die meiste Zeit bin ich ja einfach geklettert und gestiegen und getreten ohne zu überlegen. Ohne Abwägung und Überlegung …

Im Alten Griechenland #6: Parmenides, Denken und Sein

Meine Reise durch das Alte Griechenland führte mich nun weit nach Westen und mir wurde klar, dass die Heimat der ersten Philosophen, die ich bisher nur auf den griechischen Halbinseln vermutet hatte, viel größer war. Im Osten gehörten Teile des Landes dazu, das ich als die Türkei kannte, und nun kam ich nach Süditalien, sozusagen an das Schienbein des italienischen Stiefels – nach Elea. Hier wollte ich mich länger aufhalten, denn als Zeitreisender wusste ich schon, dass ich an diesem Ort nicht nur Parmenides antreffen würde, sondern etwas später auch Zenon, den Hegel den „Anfänger der Dialektik“ genannt hatte. Auf meiner langen Schiffsreise vom Osten in den Westen dachte ich darüber nach, wie wunderbar es doch ist, zu philosophieren. Alles konnte ich zum Gegenstand des Nachdenkens machen – das, was mich direkt umgab, was ich vor mir sah, das, was ich noch nicht kannte, aber kennenzulernen hoffte, aber auch die Dinge, die es vielleicht gar nicht gab, die gar nicht existierten. Aber kann man überhaupt über Dinge nachdenken, die es nicht gibt? Kaum hatte ich …

Alice und Bob #6: Die Warteschlange

Fast wäre Bob zu seiner letzten Verabredung mit Alice zu spät gekommen, denn er hatte wirklich lange an der Supermarktkasse anstehen müssen. Dennoch, so berichtete er Alice gleich nach der Begrüßung, hatte er eigentlich eine müde alte Dame noch vorlassen wollen, die er ganz am Ende der Warteschlange erspäht hatte als er gerade dabei war, seine eigenen Einkäufe aufs Band zu legen. Freundlich hatte er ihr zugerufen, sie solle doch nach vorn kommen und sich vor ihm selbst einreihen, dann wäre sie direkt als nächste Kundin an der Kasse gewesen. Alice lächelte wissend, denn sie ahnte schon, was dann passiert war: „Das haben sich die anderen Kunden natürlich nicht gefallen lassen, stimmt’s?“ „So ist es,“ antwortete Bob aufgeregt, „manche Leute haben sich so empört, dass die arme Frau ganz eingeschüchtert in der Reihe stehen geblieben ist. Sie hat sich fast entschuldigt für meinen Vorschlag!“ „Du weißt natürlich nicht, wie es den Leuten ging, die selbst in der Schlange standen. Vielleicht war jemand krank, hatte Fieber und musste aber dringend was einkaufen? Vielleicht war eine alleinstehende …

Im Alten Griechenland #5: Mit Heraklit am Fluss

Nun war ich schon eine Weile bei Heraklit und endlich wollte ich ihm die Frage stellen, was es nun mit dem Fließenden auf sich hatte. Anderswo hatte ich gehört, dass der Satz πάντα ῥεῖ (pánta rhei – „alles bewegt sich / alles fließt“) von ihm stammen würde, ein Satz, der es ja als „geflügeltes Wort“ bis in unsere Zeit geschafft hatte. Der Satz klang natürlich irgendwie richtig, aber ich mochte nicht glauben, dass schon ein Denker aus dem alten Griechenland zu dieser Einsicht gekommen sein sollte. Selbst für uns heutige gab es doch vieles, was unveränderlich schien, die astronomischen Prozesse etwa, aber auch die Gebirge und die wichtigen Formen der Landschaften veränderten sich kaum. Wir brauchen Geschichtsbücher und die Wissenschaften, um davon überzeugt zu sein, dass auch in diesen Gegebenheiten stetiger Wandel stattfand. Wie sollte jemand, der keine moderne Naturwissenschaft kannte und für den auch die Lehren aus der Geschichte noch nicht unbedingt auf stetige Veränderung der Welt hinweisen mussten, zu einer solchen Einsicht kommen? Gerade die Flüsse zeugten doch in ihren Flussbetten von einer …

Alice und Bob #5: Die Gartenlaube

Letzten Samstag besuchte Bob Alice in ihrem Garten. Die war gerade dabei, ihre Gartenlaube neu zu streichen. „Du werkelst ja schon wieder an deinem Schuppen herum“ rief er. „Das ist schon lange kein Schuppen mehr, das ist eine Gartenlaube“ erwiderte Alice mit gespielter Empörung. „Du hast recht. Ich glaube, in den letzten Jahren hast du alle Wände erneuert und auch der Fußboden und das Dach sind neu. Wahrscheinlich ist kein Brett von dem Schuppen übrig geblieben, der da früher stand!“ „Das stimmt. Und das Häuschen ist geräumiger geworden, die Fenster größer, die Tür breiter!“ „Wenn ich das richtig sehe“ meinte Bob, „hast du im Laufe der Zeit sogar das ganze Haus ein Stück zur Seite gerückt?“ „Gut erkannt!“ Alice lachte. „Ich hab erst an der einen Seite einen Meter angebaut und später, als ich die andere Seite erneuern wollte, hab ich mich entschlossen, das Häuschen doch wieder etwas schmaler zu machen. So ist es ein bisschen gewandert.“ „Genau genommen ist es gar nicht mehr das gleiche Haus,“ sinnierte Bob, indem er sich auf der Terrasse …

Im Alten Griechenland #4: Unerreichbare Grenzen

Am Abend nach meinem ersten Gespräch mit Heraklit hatte ich noch eine Weile über die Psyche nachgedacht, diese Lebenskraft, deren Bedeutungsvielfalt sich selbst mehrt. Umso mehr ich darüber nachdachte, desto undeutlicher wurde mir wieder der Sinn des Satzes. Ich wollte Heraklit am nächsten Tag erneut danach fragen, was es mit dem Logos der Psyche, also der begrifflichen Vorstellung von dieser Lebenskraft auf sich hat. Heraklits neue Auskunft war nicht viel klarer als die, die er mir beim ersten Mal gegeben hatte. Er sagte: Ψυχῆς πείρατα ἰων οὐκ ἄν ἐχεύροιο· Psyches peirata ion ouk án echeúroio. Die Konstruktion ἄν ἐχεύροιο war neu für mich, ich verstand sie nicht gleich. ἐχεύροιο ist ein Optativ, ein Modus von Verben, den wir im Deutschen nicht haben, er drückt einen Wunsch aus. Mit ἄν zusammen drückt er aber eine Möglichkeit, eine Macht aus. Wörtlich genommen bedeutete Heraklits Satz also: Psyches Grenzen gehend nicht kannst herausfinden – wobei mir schon klar war, dass ich „Psyche“ nicht im modernen Sinn verstehen durfte. Aber ich konnte das Wort hier als meine geistige, seelische …

Alice und Bob #4: Ein gutes Messer

Wieder einmal war Bob bei Alice zu Besuch, und wieder einmal war sie mit dem Essen, das sie vorbereiten wollte, noch nicht fertig. Bob dachte „Eigentlich ist Alice keine gute Gastgeberin“ bevor er sich – wie immer – daran machte, ihr zu helfen. Ganz selbstverständlich griff er in die Schublade mit den Messern und begann, Salat zu schneiden. Gutes Werkzeug hat Alice, das musste man ihr lassen. Gerade wollte er das aussprechen, als Alice sagte: „Du bist wirklich ein guter Freund, du beschwerst dich nicht, dass ich noch nicht fertig bin, sondern hilfst einfach mit!“ Bob ließ das Messer sinken und erwiderte „Gerade wollte ich sagen, dass du gute Messer hast, denn dieses Messer schneidet wirklich wunderbar. Aber nun frage ich mich, ob ich als Freund genauso gut bin wie dieses Ding hier als Messer gut ist…“ Alice musste lachen und goss Wein in die Gläser: „Schneid ruhig weiter Salatblätter, ich erkläre dir inzwischen, was es mit dem Gut-Sein auf sich hat: Gut – das bedeutet eigentlich nichts anderes als: es entspricht der Idee von …