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Corona als Pusteblume

Die Corona-Krise beschäftigt uns schon eine ganze Weile. Nach zum Teil drakonischen Maßnahmen scheint das Schlimmste fürs Erste abgewendet. Zeit für eine Verschnaufpause, man kann nachdenken darüber, wie es weiter geht und vielleicht auch besser. Dabei könnte es sich herausstellen, dass den Deutschen wieder einmal ein Hang zur Romantik eigen ist. Offenbar weckt Corona so manche Sehnsüchte. Unser Gastautor Martin Gessmann ist Professor für Kultur- und Techniktheorien und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, und hat ein paar Gedanken zu den farbenfrohen Virus-Darstellungen in den Medien und dam bunten Wünsch-Dir-Was für die Nach-Corona-Welt. Ich bin mir ziemlich sicher: lange wird es nicht mehr dauern, und ein findiger Hersteller bietet die ersten Corona-T-Shirts an. Und ich bin mir genauso sicher: Das wird ein unwiderstehlicher Trend werden. Zuerst wird es zum Zeichen des stillen Protests von jungen Leuten, die sich bislang freitags versammelten, es aber jetzt nicht mehr in der Öffentlichkeit können. Man trägt das Virus jetzt mitten auf dem Bauch und gibt damit ein Zeichen – oder besser noch, trägt ein gutes Bauchgefühl zur …

Das Öde und das Dasein

Die Zeit ist gerade noch unfairer verteilt als sonst. Manche wissen gar nicht wo ihnen der Kopf steht zwischen Homeschooling und Homeoffice. Andere lernen ein oft nur noch peripher bekanntes Gefühl besser kennen: die Langeweile. Dieses kleine Denkstück hilft vielleicht dagegen. Verrät Langeweile etwas darüber, wie wenig Sinn das Dasein hat oder, im Gegenteil, wie viel? Eigentlich haben wir die Langeweile doch abgeschafft, zumindest dort, wo es WLAN gibt. Kleinste Momente von Langeweile – man wartet vielleicht auf den Bus – können heute gefüllt werden mit Bücherlesen, Serienschauen, Podcasts hören oder Freunden schreiben. Und trotzdem holt uns die Langeweile mitunter ein. Vor allem jetzt, da wir viel Zeit zu Hause verbringen und manche plötzlich sehr viel Zeit haben. Man könnte endlich Klassiker lesen, ohne Ende Podcasts hören, Serien schauen, stundenlang zocken oder Nähen lernen, aber trotzdem ist sie da, die Langeweile. Arthur Schopenhauer, einer der ersten westlichen Philosophen, der diesen Zustand ernst nahm und genauer betrachtete, würde das gar nicht so wundern. Denn er glaubte, das Leben pendele zwischen Not und Langeweile. Demnach sind wir …

Die Corona-Kohorte

Junge Menschen vielleicht zwischen 15 und 25 Jahren wurden zu Anfang der Corona-Krise oft kritisch beäugt als eine Gruppe, die sich vergleichsweise sicher fühlt und in der einige lieber Corona-Parties feierten, statt Abstand zu halten. Unser Autor ist Anfang 20 und hat aufgschrieben, was diese Krise für ihn und das Lebensgefühl seiner Generation bedeutet. Wer in den letzten 20 oder 30 Jahren geboren wurde hatte weltgeschichtlich ein relativ langweiliges Leben. Da hilft es auch wenig, dass man in zwei Jahrtausenden gelebt hat. Zum Glück lebt man in der Regel auch nicht für die Weltgeschichte. Den meisten ist es wichtiger, ein gutes Leben führen zu können, Zeit für Freunde zu haben und sich dem widmen zu können, was einem wichtig ist. Manchen liegt viel an guten Abschlüssen und beruflichen Leistungen, andere leben für ihr Hobby. Welchen Weg man geht, das ist nicht immer eine Entscheidung, bei der nur die eigenen Vorstellungen ins Gewicht fallen. Eltern, das Portemonnaie und Normen tun das ihrige. Aber das Leben ist – historisch betrachtet – in höherem Maße eine Frage der …

Elende Organisation!

Organisationen können furchtbar bürokratisch, ineffizient und dumm sein. Ein Gedankenexperiment kann helfen, das Problem besser zu verstehen. Sagte jemand: »Diese Fabrik ist eine komplexe Organisation«, so würde ich antworten: »Nein, das ist ein Gebäude mit vielen Gegenständen darin.« Denn Organisation ist die Verknüpfung von Tätigkeiten zu einem bestimmten Zweck. Nach dieser Definition ist Organisation immer Organisieren – eine ideologische, das heißt an Interessen ausgerichtete Tätigkeit, mit der man sich die Welt so machen will, wie sie einem gefällt. Das Fabrikgebäude ist der Ort einer Organisation, wenn dort produziert wird: Tätigkeiten werden dazu zweckmäßig verknüpft. Wird die Belegschaft entlassen und die Fabrik geschlossen, so ist es mit dieser Organisation vorbei. Nach dieser Sicht ist die Horde der Altsteinzeit ebenso eine Organisation wie heutige Parteien, Firmen und Armeen. Aber auch kleine, viel speziellere Gebilde wie Pekipgruppen oder Kegelvereine sind Organisationen. Es ist fraglich, ob es überhaupt Kulturleistungen gibt, die nicht Organisationen in meinem Sinne sind. Dazu passt, dass das Konzept »Organisation« als gedanklicher Zugang zur sozialen Welt völlig unumstritten ist. Wir finden dies »gut« und jenes »schlecht …

Pro und Contra: positiv denken?

In einer kontingenten Welt entscheidet nicht der Mensch über sein Glück und Unglück. Oder doch?   pro Seit Jahrzehnten erforscht die Positive Psychologie, was eine gelungene Existenz ausmacht. Studien zeigen, dass eine engagierte, zukunftsbejahende Grundhaltung unsere Lebenszufriedenheit deutlich steigert. Wenn mich alle in den Wahnsinn treiben, mein Job mich aufreibt, kein Erfolgserlebnis weit und breit in Sicht ist, habe ich allen Grund, ins Kissen zu heulen. Ich kann aber auch positiv denken: egal. Was ich mir so unter »Glück« vorgestellt habe, entspricht eben nicht den Plänen des Universums. Vielleicht hält der Kosmos sogar etwas viel Besseres für mich bereit, als sich mein Spatzenhirn das momentan ausmalen kann. Positives Denken wurzelt in der antiken philosophischen Lebenskunst – den Mentaltrainings der Stoiker und Epikureer. »Keinen Schrecken erregen die Götter, keinen Argwohn der Tod; das Gute ist leicht zu beschaffen, das Bedrohliche leicht zu ertragen«, so lautete Epikurs »Vierfach­medizin« (tetrapharmakon). Vom Stoiker Epiktet stammt die Unterscheidung zwischen den Dingen, die in unserer Macht stehen, und denen, die nicht in unserer Macht stehen – die man folglich mit »heiterer …

Die Wissenschaft vom richtigen Leben

Weisheit war bis vor Kurzem die Domäne der Philosophen. Jetzt entdecken Ökonomen und Psychologen sie neu. Ist das gut?   Der Physiker Paul Frampton ist ein Mann von Welt. Er hat die britische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er war »Distinguished Professor of Physics and Astronomy« an der University of North Carolina in Chapel Hill. Seine Entwürfe einer »Theorie für alles« inspirierten eine Reihe von Experimenten am LHC, dem größten Teilchenbeschleuniger der Welt am Europäischen Kernforschungszentrum Cern bei Genf. Wie kommt solch ein hochintelligenter Mann dazu, sich an einem argentinischen Flughafen mit zwei Kilogramm Kokain im Koffer erwischen zu lassen? Im Jahr 2011, im Alter von 67 Jahren, begann Frampton mit Online-Dating. Bald entspann sich ein Kontakt zu einem Model namens Denise Milani, die im Internet kein Geheimnis aus der Größe ihrer Brüste machte. Dann lud Milani den Physiker ein, sie bei einem Shooting in Bolivien zu besuchen. Frampton flog hin, fand dort aber keine Milani vor, sondern nur eine Nachricht, sie sei ­bereits nach Argentinien weitergereist. Ob er nachkommen und ihren Koffer, den sie leider …

Zwergenwahl

Erwachsene dürfen wählen, Kinder und Jugendliche unter 18 jahren nicht. Das ist ungerecht. Eine leicht spielerisch-utopische Betrachtung. Die Jugend genießt in unserem Land etliche Rechte und Freiheiten. Schon ab dem ersten Lebensjahr ist es dem deutschen Bundesbürger erlaubt, demonstrieren zu gehen (so weit ihn seine Beinchen tragen!). Niemand kann ­einen 13-Jährigen einsperren, weil er gerade Bock hatte, den Schmuck seiner Stiefmutter zu klauen. Die Strafmündigkeit beginnt nämlich erst mit 14 Jahren. Zum Ausgleich für letztere Zumutung darf man sich dafür schon ab 17 als Soldat verpflichten. Angesichts dieser Logik fragt sich der philosophisch Versierte: Auf welch kryptischer Numerologie fußt der Sinn solcher Gesetze? Welch magischen Trunk hatten die Gesetzgeber wohl intus, als sie überdies stipulierten, dass dem Menschen das Grundrecht der Wahl erst nach Vollendung des 18. Lebensjahrs zustehen solle? Der Zustand der »Volljährigkeit« hat seinen historischen Ursprung im noch von Bismarck unterzeichneten »Gesetz, betreffend das Alter der Großjährigkeit« von 1875. »Volljährig« heißt nichts anderes, als dass man ab dem 18. Geburtstag (ursprünglich 21.) vollautomatisch aus ­seinem Zustand gesammelter Unfähigkeiten ­erlöst wird. Es macht klick, …

Die Macht der Körper

Der Feminismus ist präsent wie nie – auf dem Buchmarkt, in der Mode und in den sozialen Medien, und er wird zugleich heftig kritisiert. Zeit für eine Bestandsaufnahme, nicht der Geschlechtergerechtigkeit, sondern des Kampfes dafür. Wie steht es um den modernen Feminismus? Vor ein paar Monaten feierte »Sex and the City« Geburtstag: Zwanzig Jahre ist es her, dass die Serie zum ersten Mal im Fernsehen lief und in Folge zum Mega-Hit und kulturellen Fixpunkt mehrerer Generationen junger Frauen wurde, die die Serie auch für ihren Feminismus feierten. Schließlich dreht sie sich um vier New Yorker Freundinnen, allesamt: erfolgreich im Job, finanziell unabhängig, sexuell selbstbewusst und mit zahlreichen Affären beschäftigt, über die sie auch offen diskutieren. In einer Interview-Reihe des »Guardian« über die Serie schwärmte ein Fan: »Endlich konnte man über Vibratoren sprechen.« Das war 2003. Doch als jetzt, anlässlich des Jubi­läums, zurückgeschaut wurde, waren viele Frauen – nicht selten die gleichen, die in der Serie damals eine Befreiung sahen – irritiert. Vielen erscheint sie nun gar nicht mehr so feministisch. Sie stören sich daran, dass …

Das fatale Phantasma

Wie kann es sein, dass immer wieder Antisemitismus aufkommt? Selbst bei uns, im Land des Holocaust? Wie ist umzugehen mit jenem Phänomen, das sich der rationalen Diskussion entzieht? Es gibt nur einen Weg: Wir müssen die Projektionen verstehen, die mit Antisemitismus zusammenhängen – immer wieder aufs Neue. Dieser Text aus stammt aus unserer Ausgabe 6/2018. Aus gegebenem Anlass veröffentlichen wir ihn nun online. »Mir wurde offenbar, was sonst niemand anderes sah«, rappt Kollegah in seinem Song »Apokalypse«, einem 13-minütigen Epos über den Kampf zwischen Gut und Böse, in dem er den Retter der Welt spielt. Dieser Retter hat die »verbotenen Schriften« gelesen und die »Symbole« erkannt: »Jetzt weiß ich, was das Geheimnis der Erleuchteten war, erkenn’ am heutigen Tag ihren teuflischen Plan«. Wer diese »Erleuchteten« sind, wird nicht klar benannt, Kollegah vermischt diverse Mythen und Verschwörungstheorien, aber die finale Schlacht kämpft er in Jerusalem gegen eine »endlose Macht auf dem Tempelberg«. Klarer geht Judenhass kaum. Und klassischer in seinen Motiven auch nicht. Da ist es wieder, das Phantasma einer jüdischen Weltverschwörung – in einem Musikvideo …

Pro und Contra: Politische Karikaturen

Die »New York Times« veröffentlicht künftig keine politischen Karikaturen mehr. Was soll man davon halten? Brauchen wir sie zur Meinungsbildung?   pro Zu jeder ordentlichen Zeitung eines freien, demokratischen Landes gehört eine Meinungsseite, zu jeder Meinungsseite die Kritik an den herrschenden Verhältnissen, Normen, Akteuren. In einem Umfeld, in dem es von allem zu viel zu geben scheint – zu viele Fakten, Meinungen, Bilder –, erhebt sich die Frage, welche Form von Kritik heutige Leser überhaupt noch zum Nachdenken bringen kann. Die draufhauerische? Als sich die »New York Times« entschied, künftig auf politische Karikaturen zu verzichten, votierte sie damit auch gegen kritische Ambivalenz. Denn keine Karikatur, sie mag noch so platte Stereotype befördern, »sagt«, was sie meint. Wie jedes Bild produziert sie unkontrollierbare rhetorische Effekte, die die mutmaßliche Intention ihres Schöpfers an Wirkkraft weit überragen. Wo die Existenzberechtigung politischer Karikaturen in Zeitungen verneint wird, weil diese (auch) beleidigen, empören und kränken können, wird nicht nur die Notwendigkeit von Freiheit bestritten – mit all ihren Chancen und Gefahren. Dort wird auch so getan, als könnte man Menschen …