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Die Wissenschaft vom richtigen Leben

Weisheit war bis vor Kurzem die Domäne der Philosophen. Jetzt entdecken Ökonomen und Psychologen sie neu.
Ist das gut?

 

Der Physiker Paul Frampton ist ein Mann von Welt. Er hat die britische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Er war »Distinguished Professor of Physics and Astronomy« an der University of North Carolina in Chapel Hill. Seine Entwürfe einer »Theorie für alles« inspirierten eine Reihe von Experimenten am LHC, dem größten Teilchenbeschleuniger der Welt am Europäischen Kernforschungszentrum Cern bei Genf.

Wie kommt solch ein hochintelligenter Mann dazu, sich an einem argentinischen Flughafen mit zwei Kilogramm Kokain im Koffer erwischen zu lassen? Im Jahr 2011, im Alter von 67 Jahren, begann Frampton mit Online-Dating. Bald entspann sich ein Kontakt zu einem Model namens Denise Milani, die im Internet kein Geheimnis aus der Größe ihrer Brüste machte.

Dann lud Milani den Physiker ein, sie bei einem Shooting in Bolivien zu besuchen. Frampton flog hin, fand dort aber keine Milani vor, sondern nur eine Nachricht, sie sei ­bereits nach Argentinien weitergereist. Ob er nachkommen und ihren Koffer, den sie leider stehen gelassen hatte, mitbringen könne?

Spätestens in diesem Moment würden wohl die meisten Menschen Böses ahnen. Aber Frampton ahnte offenbar nichts und gab den Koffer am Flughafen mit seinem Gepäck auf. Die schöne Milani, deren Namen und Fotos Unbekannte missbraucht hatten, um ihn zum Drogenschmuggel zu verführen, bekam Frampton nie zu Gesicht. Dafür eine Gefängniszelle von innen.

Intelligenz schützt nicht vor Dummheit: Framptons Missgeschick steht für ein oft beobachtetes, aber bis vor Kurzem selten untersuchtes Phänomen. Da ist einerseits die Intelligenz, also die Fähigkeit, Zusammenhänge zu erkennen, die Welt zu verstehen. Da ist andererseits das, was man Weisheit nennen kann: »die aus der richtigen Einschätzung von Menschen und Dingen entspringende Lebenshaltung und Handlungsweise«, wie das Wörterbuch der philosophischen Begriffe von Johannes Hoffmeister sie definiert. Bei der Weisheit geht es nicht nur darum, etwas zu erkennen, sondern auch darum, etwas daraus zu machen – vernünftig zu handeln und zu leben.

 

Im Grenzbereich zwischen Philosophie und Psychologie

Die Diskrepanz zwischen Intelligenz und Weisheit ist keine rein akademische Frage. Im Fall Framptons führte sie zu einer persönlichen Tragödie. In der Finanzkrise von 2008 – mitverursacht durch Fehlentscheidungen bestens ausgebildeter Banker – führte sie zu Kapitalverlusten in Billionenhöhe. Dieser Schock gab einen Anstoß zur Entwicklung ­einer neuen Forschungsrichtung im Grenzbereich zwischen Philosophie und Psychologie unter der Bezeichnung »evidenzbasierte Weisheit« oder »praktische Weisheit« – mit ­eigenen Institutionen wie zum Beispiel dem Center for Practical Wisdom an der University of Chicago, gegründet im Jahr 2016. Es geht darum, Menschen zu besserem Handeln und Entscheiden zu befähigen – sie weiser zu machen, mit naturwissenschaftlichen Methoden.

Da lauert ein Paradox. Weisheit bedeutet zwar, etwas zu wissen, aber nicht im Sinne exakter Wissenschaft. Weisheit hat etwas mit Gewitztheit und Lebenserfahrung zu tun, mindestens so viel wie mit Gelehrtheit und Belesenheit. Man kann weise sein, ohne etwas von Mathematik oder Physik zu verstehen – und umgekehrt, wie die Geschichte von Paul Frampton zeigt. Und nun soll ausgerechnet die Wissenschaft uns helfen, weise zu leben?

Manche Philosophen der alten Schule könnten dieses Vorhaben von vornherein für irregeleitet erklären. Die ­Wissenschaft erforscht, was ist. Weisheit hingegen fragt, was sinnvoll oder gut ist. Das riecht nach einem Naturalistischen Fehlschluss.

Doch so denken die Verfechter der evidenzbasierten Weisheit nicht. Warum sollte die Fähigkeit, weise Urteile und Entscheidungen zu treffen, nicht erforschbar und trainierbar sein? Einerseits gibt es die Suche nach sinnvollen Antworten auf die großen Fragen des Lebens – eine Suche, die oft immer noch im Stil der alten Griechen unternommen wird. Andererseits gibt es die unglaublich präzisen Werkzeuge der empirischen Wissenschaften, die heute meist zur Untersuchung lebensferner Fragen verwandt werden. Wie wunderbar wäre es, beides zusammenzubringen.

Die empirische Wissenschaft hat lange einen Bogen um die Weisheit gemacht. Sie hat sich auf den benachbarten Begriff der Intelligenz ­fokussiert, der als vergleichsweise leicht zu erforschen gilt. Intelligenztests gibt es schon seit über hundert Jahren. Es gibt unzählige Theorien der allgemeinen, analytischen, praktischen, kreativen und emotionalen Intelligenz.

Dagegen ist die Weisheit die angestammte Domäne der Philosophie, der »Liebhaberin der Weisheit«. Doch mit der Entstehung der evidenzbasierten Weisheit löst sich diese Arbeitsteilung auf. Die Weisheit ist nicht mehr das ­Exklusiveigentum der Philosophen. Sie ist in die psychologischen Labors gewandert. Sie wird empirisch erforscht.

Damit besteht auch Aussicht, neues Licht in das alte Rätsel zu bringen, warum Intelligenz nicht vor ­einem Mangel an Rationalität schützt. Manches spricht dafür, dass dieses Phänomen weitverbreitet ist. Eine Studie mit Mitgliedern der Organisation Mensa, die nur Menschen mit besonders hohem IQ aufnimmt, ergab, dass 44 Prozent der Mitglieder an Astrologie glauben und dass 56 Prozent ­überzeugt sind, die Erde habe bereits Besuch von Außer­irdischen bekommen.

Intelligenz ist ein Werkzeug, das man auch weise
gebrauchen muss

 

Von Nobelpreisträgern ist bekannt, dass auffällig viele von ihnen sich in abstruse Haltungen und Überzeugungen ver­irren. Luc Montagnier, der Mitentdecker des HI-Virus, glaubte später, dass DNA auch in höchster Verdünnung die Struktur von Wasser verändert und die Emission elektromagnetischer Strahlung auslöst, was zu Alzheimer, Autismus und anderen schweren Krankheiten führen könne. Kary Mullis, Biochemiker und ebenfalls Nobelpreisträger, behauptet, er sei von Aliens entführt worden, AIDS sei eine Erfindung der Umweltbewegung und die menschliche Seele könne sich vom Körper lösen und auf »Astralflüge« gehen.

Gerade besonders intelligente Menschen sind offenbar anfällig dafür, sich ganz und gar nicht weise zu verhalten. »Intelligenzfalle« nennt der englische Wissenschaftsautor David Robson dieses Phänomen. Wie ist es zu erklären?

Robson versucht es mit einer Analogie: Die Intelligenz eines Menschen ist wie der Motor eines Autos. Wenn man das Auto richtig navigieren und lenken kann, kommt man damit an die Orte, an denen es einem gut geht. Wenn man es hingegen nicht kann, fährt man mit Karacho in den Graben. Die Intelligenz, das sind die Pferdestärken. Die Weisheit, das ist die Steuerkunst.

Intelligenz ist ein Werkzeug, das sich weise oder ­unweise gebrauchen lässt. Dass es dabei regelmäßig in die ­falsche Richtung geht, erklärt der französische Kognitionswissenschaftler Hugo Mercier mit den Gründen ihrer Entstehung in der Evolutionsgeschichte. Unser leistungsfähiges Gehirn entwickelte sich nicht zum Zweck der Wahrheits­findung, sondern um sich in immer komplexeren sozialen Strukturen durchzusetzen. Entsprechend ist es eher darauf gemünzt, andere zu täuschen und den eigenen Standpunkt zu festigen, als Fakten und Argumente fair gegeneinander abzuwägen. Eine große Zahl von Studien zeigt, dass Menschen ihre Überzeugungen zunächst nach ihren emotionalen Bedürfnissen ausbilden. Der Intellekt kommt erst später ins Spiel, um diese Überzeugungen zu rechtfertigen – so plausibel oder abstrus sie auch sein mögen. Kein Wunder, dass oft gerade intelligente Menschen zu Irrglauben neigen. Sie können es sich leisten.

Eine frühe Beschreibung der Intelligenzfalle findet sich bereits in Platons Schilderung des Prozesses gegen Sokrates im Jahr 399 v. Chr.: Sokrates’ Ankläger warfen ihm vor, er würde die Athener Jugend mit frevelhaften Ideen verderben. In seiner Verteidigungsrede wies Sokrates die Anklage zurück und erklärte, woher sein Ruf komme, ein weiser Mann zu sein: gerade daher, dass er »einsieht, dass er in der Tat nichts wert ist, was die Weisheit anbelangt«. All die angeblich so klugen Männer hingegen, die Dichter, Denker und Staatsmänner, sind gerade deshalb nicht weise, weil sie sich für weise halten. »Weil er seine Kunst gründlich erlernt hatte, wollte jeder auch in den anderen wichtigsten Dingen sehr weise sein; und diese ihre Torheit verdeckte jene ihre Weisheit«, sprach der antike Denker. Das gilt für heutige Banker, Politiker und Nobelpreisträger nicht weniger als für die einstigen Gegner Sokrates’. Intelligenz macht überheblich. Weisheit macht demütig.

Mit Selbstdistanzierung der Intelligenzfalle entgehen?

 

Wie findet man zur Weisheit? Sokrates’ Weg war, sich ihr ganz zu verschreiben. Er wanderte in der Stadt umher, um mit Menschen verschiedenster Stände zu diskutieren. Seitdem ist die Weisheit eine Domäne der Philosophen. Ihrem ursprünglichen Selbstverständnis nach ist die Philosophie das Streben nach Weisheit. Die evidenzbasierte Weisheit hat das gleiche Ziel, sucht es jedoch auf anderen Wegen.

Ein typisches Beispiel für die Vorgehensweise in der evidenzbasierten Weisheit geben die Experimente des Psychologen Ethan Kross von der University of Michigan, in ­denen er zeigte, dass die relativ einfache mentale Übung der »Selbstdistanzierung« schon genügt, um die eigene Situation mit kühlerem Kopf zu sehen. Man denkt reflektierter und ausgewogener über seine Probleme, wenn man innerlich ein paar Schritte von sich selbst zurücktritt.

Das wies Kross zum Beispiel an der Wortwahl der Selbstbeschreibungen seiner Probanden nach: aus der distanzierten Perspektive ist diese neutraler als aus der verstrickten Perspektive. Um einen Effekt zu erzielen, genügt es daher bereits, von sich selbst in der dritten Person statt in der ersten Person zu sprechen, sich also mit Namen zu bezeichnen statt mit »ich« oder die Situation in einer Fremdsprache statt in der eigenen Muttersprache zu beschreiben.

 

Der Rationalitätsquotient ist aussagekräftiger als der IQ

Das ist das Grundschema der evidenzbasierten Weisheit: Betrachte eine mentale Technik mit Weisheitspotenzial und demonstriere einen statistisch signifikanten Effekt auf das Glück und Wohlergehen derer, die sie praktizieren. So zeigte der amerikanische Psychologe Andrew Hafenbrack, der an der Católica Lisbon School of Business & Economics lehrt, dass Achtsamkeitsübungen die Anfälligkeit für den Trugschluss der versunkenen Kosten (sunk-cost fallacy) verringern, der Menschen dazu verleitet, verlorenem Geld noch mehr hinterherzuwerfen, um den ursprünglichen Irrtum zu recht­fertigen. Die Neurowissenschaftlerin Lisa Feldman Barrett von der Northeastern University in Boston beobachtete, dass ­Investmentbanker, die einen besseren Draht zu den ­eigenen Gefühlen haben, bessere Investitionsentscheidungen treffen. Der kanadische Psychologe Igor Grossmann, der den Begriff »evidenzbasierte Weisheit« prägte, angelehnt an die evidenzbasierte Medizin, hat in mehreren Studien beobachtet, dass Eigenschaften wie Demut und Verständigkeit für die Perspektiven anderer maßgeblicher für das Wohlergehen ­eines Menschen sind als seine Intelligenz.

Die Psychologin Wändi Bruine de Bruin, die an der University of Leeds in Nordengland lehrt und forscht, hat systematisch untersucht, wie glücklich besonders intelligente Menschen leben. Ergebnis: nicht speziell glücklich. Sie durchforstete das Leben ihrer Versuchspersonen nach krisenhaften Ereignissen, von harmlosen wie einem Sonnenbrand oder einem verpassten Flug über ernste wie eine ansteckende Geschlechtskrankheit oder sexuelle Untreue bis zu so furchtbaren wie einer Gefängnisstrafe. Die Intelligenz der Probanden hatte nur einen geringen Einfluss darauf, wie oft ihnen solche Missgeschicke widerfuhren. Als viel aus­sagekräftiger als der IQ erwies sich, was Psychologen heute RQ nennen: den Rationalitätsquotienten.

Der kanadische Psychologe Keith Stanovich hat vor ein paar Jahren ein Verfahren eingeführt, um den Rationalitätsquotienten zu messen. Es geht nicht wie im Intelligenztest darum, Muster in Zahlenreihen zu erkennen und geo­metrische Figuren umzuformen. Es geht darum, Menschen und Situationen zu deuten, kluge Entscheidungen zu treffen und eigene Vorurteile wahrzunehmen. In Bruine de Bruins Studien zeigte sich dieser Rationalitätsquotient als deutlich ausschlaggebender für ein zufriedeneres und sichereres ­Leben als der Intelligenzquotient. Menschen mit hohem RQ haben zum Beispiel weniger Scheidungen und Bankrotte. Man könnte kurz sagen: Weisheit macht glücklich.

Ist das noch die Weisheit von Platon, Kant und co?

 

Zu ähnlichen Ergebnissen kam Igor Grossmann, als er Versuchspersonen Beschreibungen von Problemsituationen aus den Ratgeberseiten von Zeitschriften vorlegte und ihre Lösungsvorschläge analysierte. Zunächst schätzte er anhand der Antworten, wie gut die mit Weisheit verbundenen Fähigkeiten der Probanden ausgebildet sind: intellektuelle Demut, Gespür für mögliche Lösungen und Einfühlungsvermögen. Ergebnis: Weisheit ist weitgehend unabhängig von Intelligenz und Bildungsstand. Dann verglich er das Maß an Weisheit seiner Versuchspersonen mit deren Lebenszufriedenheit. Er fand heraus, dass die weiseren Menschen in fast jeder Hinsicht glücklicher leben. Sie sind etwa weniger anfällig für Depressionen. Und, gerade in unserer Zeit, in der viele Menschen vor allem mit Ego-Pflege beschäftigt sind, eine wichtige Erkenntnis: Intellektuelle Demut bringt einen oft weiter als Intelligenz.

Aber ist das noch die Weisheit, nach der einst Platon, Aristoteles und Kant strebten? Sicherlich nicht ganz dieselbe. Aber vielleicht hat sie etwas von der Weisheit, nach der sie streben würden, wenn sie heute leben würden.

»Der Weg zur Weisheit, wenn er gesichert und nicht ungangbar oder irreleitend sein soll«, schrieb Kant in seiner »Kritik der praktischen Vernunft«, muss »bei uns Menschen unvermeidlich durch die Wissenschaft gehen«. Weisheit fällt nicht vom Himmel, sie ist überprüfbar und kritisierbar. Das Forschungsprogramm der evidenzbasierten Weisheit hat einen abgehobenen Begriff der Philosophie – ihren Kernbegriff schlechthin – fassbar gemacht für die Methoden der empirischen Wissenschaft.

Die Tugenden der Weisheit

 

Mit der evidenzbasierten (oder praktischen) Weisheit haben Grossmann & Co die Weisheit nicht neu erfunden. Schon lange vorher gab es kluge Leute, die sie ähnlich hemdsärmelig verstanden. Benjamin Franklin (1706–1790) etwa, der amerikanische Staatsmann und Erfinder, war bekannt für seine ruhige und abwägende Haltung. Seiner Autobiografie zufolge war Franklin ein »streitsüchtiger« Jugendlicher gewesen, hatte dann aber einen Bericht vom Prozess gegen ­Sokrates gelesen, der ihn so beeindruckt hatte, dass er beschloss, stets sein eigenes Urteil infrage zu stellen, die Sichtweisen anderer im Gespräch zu respektieren und nie Wörter wie »sicherlich« oder »zweifellos« zu verwenden.

Er entwickelte eine Technik, die er »moralische Algebra« nannte: In schwierigen Fragen nahm er ein Blatt Papier, zog einen Längsstrich durch die Mitte und schrieb die Pro-Argumente auf die eine Seite, die Contra-Argumente auf die andere, bedächtig und in mehreren Iterationen.

Heute wissen Psychologen, dass es helfen kann, Denkfallen wie Bestätigungsfehler, Ankereffekte oder egoistische Befangenheit zu vermeiden, wenn man sich bewusst Zeit dafür nimmt, auch den Gegenstandspunkt zu durchdenken.

Thomas von Aquin (1225–1274) ging bei seinen philosophischen und theologischen Studien ähnlich vor wie Franklin: Nachdem er sich eine Meinung zu einer philosophischen Frage gebildet hatte, argumentierte er gezielt und so stark er konnte gegen sie, dann wieder gegen diese ­Gegenposition und so fort, bis er zu einem Standpunkt kam, den er nicht mehr anfechten konnte. Mit dieser Methode wollte er zu einer möglichst objektiven Sicht der Dinge finden – ganz ähnlich, wie es die Verfechter der praktischen Weisheit versuchen.

Kann man Weisheit in der
Schule lernen?

Eine klassische Studie des Psychologen Charles Lord zeigte in den 1970er-Jahren, dass die bloße Aufforderung, »so objektiv und vorurteilsfrei wie möglich« zu denken, kaum hilft, Vorurteile tatsächlich auszuschalten. Der bloße Vorsatz genügt also nicht. Ein großer Teil der evidenzbasierten Erforschung der Weisheit stützt sich auf die Theorie der »somatischen Marker« des por­tu­gie­sischen Neurowissenschaftlers An­tónio Damásio. Er ist überzeugt, dass jede Erfahrung, die ein Mensch macht, zunächst unbewusst verarbeitet wird. Sie verursacht Veränderungen im Körper: Das Herz schlägt schneller, Schweiß bricht aus, der Magen zieht sich zusammen. Das Gehirn deutet diese somatischen Marker in Verbindung mit der Situation. Erst mit diesem Umweg über den Körper formiert sich ein Gefühl, erst dann entsteht bewusstes Erleben, erst dann kommt der Mensch zu einem Urteil, zu einer Entscheidung. Ein typisches Forschungsvorhaben der evidenzbasierten Weisheit besteht zum Beispiel darin, die Wirkung der Technik der Selbstdistanzierung auf die ­Variabilität des Herzschlags – eines wichtigen Maßes für die Anspannung eines Menschen – zu untersuchen.

Und was bringt das alles? Es ist wohl noch zu früh für ein fundiertes Urteil. Noch ist nicht gezeigt, dass die evidenzbasierte Weisheit einen Finanzcrash oder eine falsche Online-Liebe verhindert hätte. Aber sie bewegt etwas. Der Philosoph Jason Baehr, Professor an der Loyola Marymount University in Los Angeles, hat in Long Beach eine Schule gegründet, deren Lehrkonzept auf den Prinzipien der praktischen Weisheit beruht. Die Intellectual Virtues Academy ist eine Mittelschule, liegt also im dreigliedrigen Schulsystem der USA zwischen Grundschule und Highschool. Natürlich wird dort auch Stoff vermittelt. Doch der Schwerpunkt liegt in der Pflege von Tugenden. In jedem Klassenzimmer sind die neuen »Haupttugenden« an die Wand geschrieben, eingeteilt in drei Kategorien:

 

Zu Beginn: Neugier, intellektuelle Demut,
intellektuelle Selbstständigkeit.

Gut ausführen: Achtsamkeit, intellektuelle
Vorsichtigkeit, intellektuelle Sorgfalt.

Umgang mit Herausforderungen: geistige Offenheit, intellektueller Mut, intellektuelle Beharrlichkeit.

 

Es wird spannend sein, zu beobachten, wie die Absolventinnen und Absolventen der Intellectual Virtues Academy sich entwickeln – es ist, wenn man so will, eine Bewährungsprobe für das neue Verständnis der Weisheit. Denn darin liegt der Wert der evidenzbasierten Weisheit: Sie hat die Weisheit ­geerdet, sie fassbar, messbar und vielleicht auch besser nutzbar gemacht. Sie mag ganz anders erscheinen als die Weisheit, von der Sokrates und Platon sprachen. Aber wir leben auch nicht mehr in der Welt, in der sie lebten.

 

Text: Tobias Hürter
Illustration: Simon Spilsbury


Dieser Text stammt aus unserer Ausgabe (5/2019)

 

 

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