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Zwergenwahl

Erwachsene dürfen wählen, Kinder und Jugendliche unter 18 jahren nicht. Das ist ungerecht. Eine leicht spielerisch-utopische Betrachtung.

Die Jugend genießt in unserem Land etliche Rechte und Freiheiten. Schon ab dem ersten Lebensjahr ist es dem deutschen Bundesbürger erlaubt, demonstrieren zu gehen (so weit ihn seine Beinchen tragen!). Niemand kann ­einen 13-Jährigen einsperren, weil er gerade Bock hatte, den Schmuck seiner Stiefmutter zu klauen. Die Strafmündigkeit beginnt nämlich erst mit 14 Jahren. Zum Ausgleich für letztere Zumutung darf man sich dafür schon ab 17 als Soldat verpflichten. Angesichts dieser Logik fragt sich der philosophisch Versierte: Auf welch kryptischer Numerologie fußt der Sinn solcher Gesetze? Welch magischen Trunk hatten die Gesetzgeber wohl intus, als sie überdies stipulierten, dass dem Menschen das Grundrecht der Wahl erst nach Vollendung des 18. Lebensjahrs zustehen solle?

Der Zustand der »Volljährigkeit« hat seinen historischen Ursprung im noch von Bismarck unterzeichneten »Gesetz, betreffend das Alter der Großjährigkeit« von 1875. »Volljährig« heißt nichts anderes, als dass man ab dem 18. Geburtstag (ursprünglich 21.) vollautomatisch aus ­seinem Zustand gesammelter Unfähigkeiten ­erlöst wird. Es macht klick, und plötzlich kann man nicht nur selber shoppen und schießen, sondern auch selbst wählen. Dass man es kann, nur weil man es per Gesetz auf einmal darf, ist allerdings zutiefst unsinnig. Warum eigentlich sollte man nicht auch schon mit 16 oder 9 Jahren Wahlzettel ausfüllen?

Was es heißt, Bürger einer Demokratie zu sein, lernt der Mensch entweder schon im Kindergarten – oder nie: Teile! Spiele fair! Schlag niemanden! Räum deinen Saustall auf! Wenn nichts mehr geht, iss ein Stück Schokolade! Der Kindergarten ist nichts anderes als ein ethisch-politisches Selbsterfahrungscamp, das laufend zur kritischen Meinungsbildung Anlass gibt. Aus philosophischer Sicht scheint es weitaus vernünftiger, das demokratische Wahlrecht an einen regelmäßigen Kindergartenbesuch oder eine vergleichbare Sozialisierung zu knüpfen als an eine abstrakte, willkürlich gesetzte Zahl.

Wenn »Minderjährige« wählen, schadet dies weder ­ihrer Entwicklung noch ihrer Gesundheit – ein Verbot des Kinderwahlrechts schadet dagegen nicht nur den jungen Wahlwilligen, sondern auch der Demokratie. Den Wahlwilligen schadet es, weil es deren geistige und seelische Anstrengungen, eine aktive Rolle im politischen Prozess zu spielen, mit Arroganz straft. Der Demokratie schadet es, weil es die Vielfalt ihrer Stimmen in ebenso unnötiger wie unerklärlicher Weise reduziert. Solange Vorschülern und Pubertierenden der Gang zur Wahlkabine verwehrt bleibt, herrscht die Diktatur der sogenannten Erwachsenen, egal, welchen Reife- oder Verblödungsgrad sie besitzen, ob sie über 18, 50- oder 90-jährig sind. Solange es zwar ein Mindestwahlalter, aber kein Höchstwahlalter gibt, ist die angebliche Offenheit, Freiheitlichkeit und Wandelbarkeit des demokratischen Mehrparteiensystems bloß geheuchelt.

Wenn auch Zwerge wählen dürften, würden sich die Repräsentanten des Volkes wohl mehr für Rehe und Eichhörnchen engagieren. Wenn auch die Stimmen existenzialistisch gestimmter 13-Jähriger im hormonellen Umbruch zählten, wäre in so manchem Parteiprogramm wohl der ein oder andere Aufruf zur Revolution zu finden. Kurz: Die größten Probleme unserer Zeit – von Umweltthemen bis zur ewig aufgeschobenen Digitalisierungsoffensive – könnten endlich wirksam angegangen werden. Die Demokratie könnte vor ihrer Selbstauflösung und Erstarrung bewahrt werden. ­Disruption wäre möglich. Auch in Deutschland.

Text: Rebekka Reinhard
Illustration: Gabriele Dünwald

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