Die Corona-Krise beschäftigt uns schon eine ganze Weile. Nach zum Teil drakonischen Maßnahmen scheint das Schlimmste fürs Erste abgewendet. Zeit für eine Verschnaufpause, man kann nachdenken darüber, wie es weiter geht und vielleicht auch besser. Dabei könnte es sich herausstellen, dass den Deutschen wieder einmal ein Hang zur Romantik eigen ist. Offenbar weckt Corona so manche Sehnsüchte. Unser Gastautor Martin Gessmann ist Professor für Kultur- und Techniktheorien und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, und hat ein paar Gedanken zu den farbenfrohen Virus-Darstellungen in den Medien und dam bunten Wünsch-Dir-Was für die Nach-Corona-Welt.
Ich bin mir ziemlich sicher: lange wird es nicht mehr dauern, und ein findiger Hersteller bietet die ersten Corona-T-Shirts an. Und ich bin mir genauso sicher: Das wird ein unwiderstehlicher Trend werden. Zuerst wird es zum Zeichen des stillen Protests von jungen Leuten, die sich bislang freitags versammelten, es aber jetzt nicht mehr in der Öffentlichkeit können. Man trägt das Virus jetzt mitten auf dem Bauch und gibt damit ein Zeichen – oder besser noch, trägt ein gutes Bauchgefühl zur Schau: in Zukunft wird alles anders, in Zukunft wird alles besser werden. Corona for future. Corona für eine Welt, in der die Himmel ohne Kondensstreifen sind – und bleiben, Luft zum Atmen da ist, Innenstätte verkehrsfrei, Parkplätze zu Spielplätzen geworden sind, der ganze Konsumwahn endgültig beendet.
Wir hatten das alles schon einmal, im Ansatz wenigstens, während des Ölpreisschocks in den 1970er Jahren. Und seien wir ehrlich: wen befällt heute nicht doch eine gewisse Nostalgie, wenn man die etwas verwaschenen, technikkolorierten Bilder von den leeren Autobahnen damals sieht? In der Zeit war meine Generation noch jung und hat im Leben vielleicht manche gute Chance verpasst, und diese ganz sicher: das Ganze erst einmal gut zu finden, die Krise an sich sinnvoll, die Folgen womöglich wohltuend.
Dass da eine Pandemie im Kommen ist – eine Sehnsuchts-Pandemie – hat sich schon sehr früh abgezeichnet. Und dies im wortwörtlichen Sinne. Wer zum ersten Mal in einer Hauptnachrichtensendung mit einer Abbildung des Virus Bekanntschaft machte, wird sich gewundert haben. Das sieht eigentlich gar nicht so killermäßig aus, eher bunt und gut gelaunt. Die Illustratoren in den Grafik-Abteilungen haben wohl gespürt, dass an der Sache mehr dran und drin ist als nur eine farblose Ansammlung perfider Proteine. Das Standard-Bild in der Tagesschau sieht so aus: kleine rote Knöpfchen auf einem weißen oder grauen Ball. Fast könnte man meinen, da wachsen lustige rote Pilze aus kleinen Versuchsballons; in der „Welt“ sind die Viren schon deutlich größer und vor allem kräftig grün geworden, der Untergrund dunkler, die Knöpfchen heller – sieht es so nicht im amazonischen Regenwald aus?
Die Corona-Themenseite auf 3-Sat macht aus dem Virus schon fast ein Kunstwerk. Das Virus sieht in der Form eher einem hellblauen Blumenkohl ähnlich, wobei die knollig gewordenen Knöpfchen auf dunkelviolettem Grund stehen und von laubgrünem und frühjahrsdunklem Buschwerk gesäumt werden. Ist das nicht sonst gerne ein Zeichen für kulturelle Vielfalt und ethnische Toleranz? Für Inklusion, Queerness und Kreativität und noch vieles dergleichen mehr? Die Krönung findet sich allerdings im heute-Journal des ZDF, und auch das ist wiederum ganz wörtlich gemeint. Denn vor Anchorman Claus Kleber dreht sich im Raum dreidimensional eine feuerrote Riesenkugel – wer da nicht von dem Namen Corona auf den Feuerkranz unseres Zentralgestirns am Himmel kommen will. Es kommt schon fast einer Apotheose gleich. Und dass sich das Virus in der Animation auch noch dreht und sich die Knöpfchen dunkelrot wie Protuberanzen aus dem hellgelben Kerngeschehen herauswinden, hilft einer solchen Assoziation natürlich auch noch mächtig voran. Alles dreht sich um das Virus, daran kann niemand vorbei. Aber klar ist offenbar auch: es scheint nicht nur zerstörerisch zu sein, nur aufregend und faszinierend, sondern eben auch irgendwie lebensspendend – Voraussetzung: man kann es schon aus einer gewissen Distanz heraus betrachten und bewundern.
Klar ist natürlich auch: Man soll in solche Animationen nicht zu viel hineinlesen. Schon seit dem Pionier-Anatomen Ernst Haeckel ist es Usus geworden, an sich farblose Kleinstwelten im Körper für unsere Darstellungszwecke munter durchzukolorieren. Wenn man so will, ist das das Erbe einer fröhlich morbiden Dekadenz-Zeit von vor 1900. Und dennoch bleibt es dabei, für ein eher heimtückisch daherkommendes Virus ist sein Prime-Time-Auftritt schon recht attraktiv und ansprechend geraten. Corona als Pusteblume – wenn zugleich die Corona-Ticker laufen und die neuesten Schreckenszahlen vermelden.
Das Stichwort zur neuartigen Virus-Sehnsucht hat übrigens ein Weiser aus der Welt des Fußballs gegeben, unser Bundestrainer Joachim Löw. Er stellte schon Ende März fest, dass sich die Welt auch „ein bisschen stemmt und wehrt gegen die Menschen und deren Tun“. In dem Zusammenhang wird das Virus dann auch ganz zurecht in den Darstellungen als ‚Corona-Igel‘ bezeichnet. Müssen wir doch davon ausgehen, dass eine von Menschen geschundene Welt nun ihre Stacheln aufstellt und uns schmerzlich in die Schranken weist. „Der Mensch denkt immer, dass er alles weiß und kann“ – nach Corona wissen wir es wieder besser.
Und wir dürfen schwelgen: in Drohnen-Videos von Venedig, wo man in den Kanälen sogar wieder Fische schwimmen sieht, von Jerusalem, wo auf der via dolorosa jetzt der Geist des Herrn alleine spazieren geht, unbehelligt von späten Nachahmern; von Innenstädten in US-Amerika, in die sich die wilden Tiere schon wieder vorsichtig hineinwagen. Es ist jetzt schon wie in den vielen Science-Fiction-Filmen, wo sich die Natur schüttelt und wehrt, mittels welcher Katastrophen auch immer, und uns Menschen damit wieder demütig werden lässt. So sieht dann der Anbruch einer heilen Welt aus, einer besseren Welt, philosophischer gewendet: womöglich schon sogar von Gretas Welt?
Vielleicht sind wir auch schon mitten in einer Corona-Romantik. Ist nicht die laute und öffentliche Klage über die ganzen Greuel des Home-Office nur ein durchsichtiges Make-Up für die tiefe Befriedigung, die sich endlich einstellt in häuslicher Stille? Gefallen wir uns nicht in den einsamen Waldspaziergängen, bei denen wir anderen nur aus der Ferne zunicken und winken dürfen? Freut es uns nicht, wenn jede solche Geste plötzlich bedeutungsvoll erscheint, frei nach Goethe: Willkommen und Abschied? Ist nicht auch die Maskenpflicht zuletzt noch etwas Wunderbares? Gesichter verschwimmen in der Ansicht wie bei den Impressionisten, nur die Augen scheinen als Punkte noch präsent – und überhaupt, Impressionismus: erscheint es nicht so, wie Adorno sagt, etwa über die Dorflandschaften eines Pissarro: jeder Tag ein Sonntag? Stimmungsmäßig?
Vielleicht ist aber jetzt auch schon der Moment gekommen, etwas herüberzuretten in die Welt unseres künftigen Alltags. Wäre es nicht sowieso Zeit, mit den unendlichen Umarmungsorgien bei Begrüßung und Abschied aufzuhören? Manchen von uns kommt es sowieso immer so vor, als seien wir bei den japanischen Sumoringern. Und auch die Masken, sind die wirklich so schlecht? Könnte man nicht dauerhaft darauf verzichten, zuerst einmal zu schauen, welche Hautfarbe das Gegenüber hat, welches Alter und welche Schönheit oder auch nicht? Das klingt arg menschenfreundlich, durchaus, aber warum eigentlich nicht? In Japan sind Dauer-Masken ja auch kein Problem. Und was die Umwelt angeht: Lassen wir doch die Flugzeuge am Boden, so gut es geht. Das viele Geld zur Rettung der Fluglinien stecken wir gleich in schnelle Zugverbindungen. Und ins Büro gehen wir auch nur noch drei Tage in der Woche, weil sich der Rest längst von zuhause oder auch beim Waldspaziergang erledigen lässt. Und überhaupt: Warum bringen wir nicht Arbeit und Wohnen und Freizeit viel konsequenter zueinander? Büro und Atelier in einem Wohnhaus und die Pferderennbahn vor der Tür. Wer einmal in Hongkong war, weiß, wie gut das geht.
Wer zu spät kommt, den bestraft das Internet: Das Corona-T-Shirt gibt es doch tatsächlich schon, ein Google-Mausklick belehrt mich gerade darüber. Gottseidank sind die T-Shirt-Bedrucker aber noch nicht ganz so weit wie hier angenommen. Man gibt sich in der Aussage eher pessimistisch oder gar sarkastisch. Stichwort: „Corona World Tour 2020“. Dass der Virus-Igel zum echten Hoffnungsträger wird, wird wohl noch eine Zeit dauern.
Martin Gessmann ist Professor für Kultur- und Techniktheorien und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach am Main.
Bildmaterial zur Inspiration:
https://page-online.de/bild/coronavirus-bilder-wie-sieht-das-virus-wirklich-aus/