Nun war ich schon eine Weile bei Heraklit und endlich wollte ich ihm die Frage stellen, was es nun mit dem Fließenden auf sich hatte. Anderswo hatte ich gehört, dass der Satz πάντα ῥεῖ (pánta rhei – „alles bewegt sich / alles fließt“) von ihm stammen würde, ein Satz, der es ja als „geflügeltes Wort“ bis in unsere Zeit geschafft hatte. Der Satz klang natürlich irgendwie richtig, aber ich mochte nicht glauben, dass schon ein Denker aus dem alten Griechenland zu dieser Einsicht gekommen sein sollte. Selbst für uns heutige gab es doch vieles, was unveränderlich schien, die astronomischen Prozesse etwa, aber auch die Gebirge und die wichtigen Formen der Landschaften veränderten sich kaum.
Wir brauchen Geschichtsbücher und die Wissenschaften, um davon überzeugt zu sein, dass auch in diesen Gegebenheiten stetiger Wandel stattfand. Wie sollte jemand, der keine moderne Naturwissenschaft kannte und für den auch die Lehren aus der Geschichte noch nicht unbedingt auf stetige Veränderung der Welt hinweisen mussten, zu einer solchen Einsicht kommen? Gerade die Flüsse zeugten doch in ihren Flussbetten von einer bemerkenswerten Konstanz und Stabilität, da wo der Fluss vor vielen Jahren gewesen war, ist er auch heute noch und da wird er wohl auch in vielen Jahren noch sein. Ich fragte Heraklit, ob der Fluss, in dem ich heute badete, nicht der gleiche sei wie der von gestern?
Ποταμος τοῖς αὐτοῖς ἐμβαίνομέν τε και ουκ ἐμβαίνομεν
Potamos tois autois embainomen te kai ouk embainomen.
Ποταμος ist der Fluss, Ποταμος τοῖς αὐτοῖς ist also „derselbe Fluss“, ἐμβαίνομέν bedeutet „wir steigen hinein“, και ist „und“ und ουκ bedeutet „nicht“ – somit konnte ich Heraklits Satz übersetzen mit „in den selben Fluss steigen wir hinein und steigen wir nicht hinein“. Was meinte er damit? Ich bat ihn, mir das genauer zu erklären. Er antwortete
Ποταμοῖσι τοῖσιν αὐτοῖσιν ἐμβαίνουσιν ἔτερα και ἔτερα ὕδατα ἐπιρρεῖ
Potamoisi toisin autoisin embainousin etera kai etera hydata epirrei
ἔτερα bedeutet „andere“, ὕδατα ist Wasser in der Mehrzahl, also so etwa „die Wassermassen“ oder „die Gewässer“ und ἐπιρρεῖ enthielt ja wieder das ρεῖ, das „fließen“, bedeutete also soviel wie „zuströmen“ oder „entgegenfließen“. Somit konnte ich den Satz übersetzen mit „Den in die gleichen Flüsse steigenden andere und andere Gewässer entgegenfließen“ oder etwas moderner: Denen, die in dieselben Flüsse steigen, fließen immer wieder andere Gewässer entgegen.
So allmählich verstand ich den Sinn und die Weisheit, die in Heraklits Gedanken vom Fließen steckte. Es bedeutete gar nicht unbedingt, dass alles veränderlich ist. Die Erkenntnis von Heraklit war, dass der selbe Fluss immer wieder aus anderem Wasser bestand. Der Fluss ist zwar das Wasser, das ihn bildet, aber es ist immer wieder anderes Wasser. Im Wechsel der Materie bleibt der Fluss eben doch derselbe, auch wenn das Wasser immer wieder ein anderes ist. Das Strömen immer wieder anderer Wassermassen macht sogar die Identität des Flusses aus.
Heraklits Einsicht war also gar nicht, dass sich alles ständig verändert, sondern vielmehr, dass in der ständigen Veränderung und im Wechsel der Bestandteile, des Materials eines Dinges eine Stabilität und Identität des Dings selbst möglich ist. So, wie der selbe Fluss immer aus anderem Wasser besteht, setzt sich dieselbe Gesellschaft aus immer anderen Menschen zusammen. Diese Stabilität ist es allerdings, die Veränderung im wirklichen Sinn erst möglich macht. Denn Veränderung ist nicht Chaos oder eine regellose Abfolge von ganz unterschiedlichen Zuständen.
Veränderung ist eine allmähliche Variation und Verschiebung, in der man die Identität des Dings immer noch wiedererkennt. Wenn ich einen Fluss nach langer Zeit wieder sehe, erkenne ich vielleicht, dass sich sein Flussbett verlagert hat, dass er hier breiter und dort schmaler geworden ist. Aber ich erkenne ihn doch als den gleichen Fluss noch wieder.
Heraklit war also nicht der Philosoph der ständigen Veränderung, er hat nicht behauptet, dass nichts so bleibt, wie es war. Aber er hat erkannt, warum Wandel überhaupt möglich ist: weil die Dinge in ihrem Innern „im Fluss sind“, weil alles, was uns als gleichbleibend erscheint, ein ständiger Wechsel der Bestandteile ist.
Dass Identität und Wandel zusammengehören, gehört vielleicht zu den wichtigsten Einsichten der Philosophie. Es ist das Grundprinzip unserer Welt: im Kleinen findet ein ständiger Austausch statt, aber dieser Austausch sichert doch die gleichbleibende Fortexistenz des Großen, und ist zugleich Voraussetzung dafür, dass dieses Große sich verändert.
Jörg Phil Friedrich lebt, liest, arbeitet und schreibt in Münster (Westf.). Zuletzt erschien sein Buch Der plausible Gott. Das Foto entstand nicht im Alten Griechenland, sondern in Kirgistan.
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