In diesem Sommer verbrachten Alice und Bob eine Woche gemeinsam in den Bergen. Nach einer langen und anstrengenden Tour durch unwegsames Gelände und mit einiger Kletterei sagte Alice Abends lachend zu Bob: „Du hast mich heute manchmal an Buridans Esel erinnert, der vor zwei gleich großen Heuhaufen stand, sich nicht entscheiden konnte, von welchem er fressen sollte und schließlich verhungert ist. So hast du manchmal fast ewig vor schwierigen Kletterstellen gestanden und konntest dich nicht entscheiden, ob du hier- oder dorthin trittst.“
„So eine Entscheidung ist ja auch schwierig,“ erwiderte Bob, „hier ist der Griff besser zu erreichen, dort kann man besser Tritt fassen. Da ist der Stein feucht und rutschig, dort ist das Gestein locker und bietet keinen sicheren Halt. Wie soll man da die beste Entscheidung für den richtigen Weg treffen?“
„Wichtig ist, dass du dich überhaupt entscheidest, sonst kommst du nie ans Ziel!“ lachte Alice.
Bob überlegte: „Und überhaupt, was heißt denn ‚Entscheidung‘? Die meiste Zeit bin ich ja einfach geklettert und gestiegen und getreten ohne zu überlegen. Ohne Abwägung und Überlegung gibt es gar keine Entscheidung!“
„Da gebe ich dir mal Recht.“ Alice wurde ernst. „Entscheidung bedeutet, dass man abwägt und Gründe für den einen oder den anderen Weg angeben und bewerten kann. Auch, dass man über Konsequenzen der einen oder anderen Variante nachdenkt – und dann die auswählt, die einem als beste Lösung erscheint.“
„Das würde aber heißen,“ meinte Bob, „dass ich zumeist gar keine Entscheidungen treffe, wenn ich etwas tue. Die meisten Dinge mache ich ohne darüber nachzudenken: gehen, essen, an der Kreuzung bei Rot stehen bleiben… und auch beim Bergsteigen greife ich doch meistens automatisch nach dem richtigen Felsvorsprung. Ich handle intuitiv, nicht überlegend!“
„Jede Erfahrung, die du machst, trägt dazu bei, dass du später weniger entscheiden musst, du hast sozusagen mit jeder guten Entscheidung schon für viele spätere Situationen, die ähnlich sind, mit entschieden.“ Alice liebte es, wenn sie Bob etwas erklären konnte.
„Gut, das klingt plausibel. Das erklärt auch, warum ich früher viel länger überlegt habe und viel unsicherer war, wenn ich in den Bergen unterwegs war – und warum du viel sicherer und schneller entscheidest, wo du lang gehst, denn du hast mehr Erfahrung.“
Alice lächelte zustimmend, sie liebte es auch, wenn Bob ihr Komplimente machte.
Bob fuhr fort: „Aber wenn ich es mir recht überlege, hat die Sache einen Haken: meistens könnte ich dir nämlich nicht sagen, warum ich mich gerade so und nicht für einen anderen Weg entschieden habe. Ich schaue hier hin und dort hin, sehe diese Möglichkeit und jenes Risiko, und am Ende handle ich dann einfach irgendwie.“
Alice überlegte. „Ist das wirklich so? Vielleicht kannst du dich im Nachhinein nur nicht erinnern, warum du dich so und nicht anders entschieden hast…“. Aber Bob unterbrach sie: „Vielleicht haben ja doch diejenigen recht, die sagen, dass es gar keine Entscheidungsfreiheit und keinen freien Willen gibt! Ich bilde mir nur ein, dass es meine Entscheidung wäre, wie ich handle, aber in Wirklichkeit bin ich ein Automat, der aus Erfahrungen lernt und sich einfach nach Programmen bewegt! Und meine Entscheidungsfreiheit ist vielleicht nur Einbildung!“
„Beruhige dich!“ Alice lächelte wieder. „Es wird wohl eher so sein, dass deine Prüfung der verschiedenen Möglichkeiten ergeben hat, dass beide Wege möglich sind und dass du nicht genug Informationen hast, um eine besser zu bewerten als die andere. Und dann entscheidest du dich, den Zufall entscheiden zu lassen: Da, wo du gerade hinschaust, trittst du auch hin. Trotzdem basiert also deine Handlung auf einer echten Entscheidung. Und deine Entscheidungsfreiheit ist davon nicht beeinträchtigt. Würdest du nicht Gründe haben, die dich vermuten lassen, dass beide Wege gangbar sind, dann würdest du keinen von beiden nehmen.“
„Das stimmt.“ Bob war zufrieden. „Manchmal stehe ich da und überlege hin und her. Und dann sage ich mir plötzlich: Ist doch egal, ob links oder rechts, Hauptsache ich gehe endlich weiter. Weil du ja nie wartest!“
„Meine Ungeduld ist eben auch ein Umstand, der deine Entscheidung beeinflusst. Sie sorgt dafür, dass du dich entscheidest, etwas zu tun, auch wenn du noch nicht ganz sicher bist, den besten Weg gefunden zu haben. Aber bei unserer nächsten Tour schau bitte einfach, wo ich langgehe. Du weißt ja, ich hab mehr Erfahrung als du.“
Jörg Phil Friedrich lebt und arbeitet in Münster (Westf.). Zuletzt erschien sein Buch Der plausible Gott.
1 Kommentare