Meine Reise durch das Alte Griechenland führte mich nun weit nach Westen und mir wurde klar, dass die Heimat der ersten Philosophen, die ich bisher nur auf den griechischen Halbinseln vermutet hatte, viel größer war. Im Osten gehörten Teile des Landes dazu, das ich als die Türkei kannte, und nun kam ich nach Süditalien, sozusagen an das Schienbein des italienischen Stiefels – nach Elea. Hier wollte ich mich länger aufhalten, denn als Zeitreisender wusste ich schon, dass ich an diesem Ort nicht nur Parmenides antreffen würde, sondern etwas später auch Zenon, den Hegel den „Anfänger der Dialektik“ genannt hatte.
Auf meiner langen Schiffsreise vom Osten in den Westen dachte ich darüber nach, wie wunderbar es doch ist, zu philosophieren. Alles konnte ich zum Gegenstand des Nachdenkens machen – das, was mich direkt umgab, was ich vor mir sah, das, was ich noch nicht kannte, aber kennenzulernen hoffte, aber auch die Dinge, die es vielleicht gar nicht gab, die gar nicht existierten.
Aber kann man überhaupt über Dinge nachdenken, die es nicht gibt? Kaum hatte ich bei Parmenides Platz genommen, fragte ich ihn, ob es möglich sei, Dinge zu denkend zu analysieren, die gar nicht existierten.
Parmenides reagierte so empört, dass ich schon befürchtete, er würde mich sofort wieder hinausjagen.
οὔτε γὰρ ἂν γνοίης τό γε μὴ ἐὸν οὔτε φράσαις·
Oúte gar an gnoies tó ge mè eòn oúte frásais
rief er. Ich hatte keine große Mühe, ihn zu verstehen: Weder kann man erforschen, was nicht ist, noch kann man es aussprechen!
Aber warum sollte das nicht möglich sein? Ich kann mir doch auch etwas ausdenken, etwas „frei erfinden“ – wie etwa eine Romangestalt, einen fiktiven Charakter, und dann kann ich doch auch über ihn nachdenken und auch darüber sprechen. Zumal ich ja auch über Dinge nachdenken könnte, von denen ich gar nicht weiß, ob sie existieren, von denen ich es nur vermutete. Wenn ich Parmenides recht verstand, war er der Meinung, dass ich das nur könnte, wenn diese Dinge wirklich existierten! Vorsichtig fragte ich nach. Parmenides antwortete:
τὸ γὰρ αὐτὸ νοεῖν ἐστίν τε καὶ εἶναι.
Tò gàr aútò noein te kai einai.
Das verwirrte mich noch mehr. Auch wenn ich noch nicht ganz sicher war, wie ich das νοεῖν verstehen sollte, schien mir die Aussage ziemlich abwegig: „Nämlich dasselbe sind Denken und Sein!“ oder wie wir heute sagen würden: „Denken und Sein sind nämlich dasselbe!“
νοεῖν (noein) konnte ich natürlich nicht nur als „denken“ übersetzen, sondern auch als „wahrnehmen“ – allerdings dann als „denkend wahrnehmen“ als „bewusst wahrnehmen“. Ein bisschen erinnerte mich der Satz von Parmenides dann an das berühmte „esse est percipi“ (Sein ist Wahrgenommenwerden) von George Berkeley, der im 17. Jahrhundert lebte – die Idee schien also durch die Jahrhunderte Bestand zu haben und konnte dementsprechend nicht ganz abwegig sein.
Das würde ja bedeuten, dass alles, was ich denke, auch existiert! Also auch Romangestalten, Fabelwesen, auch die Strings der theoretischen Physiker, egal, ob sie jemals wirklich nachgewiesen werden können. Das Denken würde die Dinge ins Sein bringen.
Ich wollte Parmenides nicht weiter mit meinen Fragen aufregen, zumal ich erschöpft von der Reise war. Also zog ich mich zur Nachtruhe zurück. Auf meinem harten Nachtlager konnte ich aber lange nicht einschlafen. Gegenüber rauschten die Blätter eines Baums im Wind – oder war es das Meer? Ich dachte über den Baum nach, der das Geräusch machte – existierte er schon, indem ich an ihn dachte?
Plötzlich, vielleicht schlief ich schon, kam mir eine Idee: Natürlich gab es den Baum in meinem Denken, er war ja da, er stand mir ganz klar vor meinem geistigen Auge, und ich meinte sogar, dass das Rauschen, das ich hörte, von ihm herkam. Die Dinge in meinem Geist sind ja auch real, eben als Gegenstände meines Denkens. Und wenn ich es genau bedachte, konnte ich nur über diese Dinge, die ich in meinem Geist hatte, richtig nachdenken. Ob da draußen irgendwas war, dass ein Geräusch machte, war dafür nicht nötig.
Oft ist es ja sogar so, sinnierte ich weiter, dass ich über die Realität gar nicht nachdenken kann. Sie ist viel zu kompliziert. Ich sage: Da ist etwas, es ist ein Baum. Über den kann ich nachdenken. Wenn jemand kommt und sagt, dass da kein Baum ist, was dann? Ist da „nichts“? das kann nicht sein. Vielleicht sagt er: „Das ist ein Strauch, oder ein Gebüsch!“ Denken, dass da etwas ist, bedeutet immer, darüber nachzudenken, was es ist. Aber wenn ich keinen Begriff davon habe, wenn ich keinen Begriff davon haben kann? Dann kann ich auch nicht darüber nachdenken. Aber wenn ich wirklich gar keinen Begriff davon haben kann – ist dann da überhaupt etwas?
Vielleicht hat der Parmenides doch recht, dachte ich noch. Dann schlief ich ein.
Jörg Phil Friedrich lebt und arbeitet in Münster (Westf.). Zuletzt erschien sein Buch Der plausible Gott.
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