Am Abend nach meinem ersten Gespräch mit Heraklit hatte ich noch eine Weile über die Psyche nachgedacht, diese Lebenskraft, deren Bedeutungsvielfalt sich selbst mehrt. Umso mehr ich darüber nachdachte, desto undeutlicher wurde mir wieder der Sinn des Satzes. Ich wollte Heraklit am nächsten Tag erneut danach fragen, was es mit dem Logos der Psyche, also der begrifflichen Vorstellung von dieser Lebenskraft auf sich hat.
Heraklits neue Auskunft war nicht viel klarer als die, die er mir beim ersten Mal gegeben hatte. Er sagte:
Ψυχῆς πείρατα ἰων οὐκ ἄν ἐχεύροιο·
Psyches peirata ion ouk án echeúroio.
Die Konstruktion ἄν ἐχεύροιο war neu für mich, ich verstand sie nicht gleich. ἐχεύροιο ist ein Optativ, ein Modus von Verben, den wir im Deutschen nicht haben, er drückt einen Wunsch aus. Mit ἄν zusammen drückt er aber eine Möglichkeit, eine Macht aus. Wörtlich genommen bedeutete Heraklits Satz also: Psyches Grenzen gehend nicht kannst herausfinden – wobei mir schon klar war, dass ich „Psyche“ nicht im modernen Sinn verstehen durfte. Aber ich konnte das Wort hier als meine geistige, seelische Kraft auffassen, die mich zum Denken und Handeln befähigt und antreibt. Dann bedeutete Heraklits Satz, dass es nicht möglich wäre, dieses Psychische ganz auszuloten, je bis in den letzten Winkel zu verstehen. Das passte natürlich gut mit seinem ersten Satz zusammen, den er an mich gerichtet hatte, nämlich das die Psyche eine Bedeutungsvielfalt hat, die sich dadurch vermehrt, dass man sie zu erfassen versucht. Wenn das so wäre, meinte ich, dann ist es auch verständlich, dass man die Grenzen dieser Psyche nie erreichen kann.
Plötzlich sprach Heraklit weiter:
Οὕτω βαθὺν λόγον ἔχει
Hoúto bathyn logon échei.
Das konnte ich einfach Wort für Wort übersetzen und verstehen, wenn ich daran dachte, das Logos eine vielgestaltige Bedeutung hatte: „So tiefen Logos hat sie“.
Was also die Psyche so interessant für Heraklit machte, das verstand ich nun, war, dass sie immer vielfältiger, tiefer und weiter wurde, je mehr er darüber nachdachte. Sie zu erforschen war also eine unendliche Aufgabe! Und natürlich war es ganz naheliegend, die eigene Psyche immer neu denkend zu durchwandern, weil sie ja die einzige ist, die im Denken unmittelbar gegeben ist.
Aber, so fragte ich mich, würde das denn auch noch gelten, wenn ich aus der tiefen Vergangenheit der alten Griechen wieder in meine moderne Gegenwart zurückgekehrt wäre? Schließlich haben wir doch inzwischen eine richtige eigene Wissenschaft entwickelt, die Psyche und Logos zusammen im Namen hat, die Psychologie. Brauchte es denn da noch die denkende Durchforschung der eigenen Seelenwelt, um sie zu verstehen? Vor allem – konnte das Ergebnis noch philosophisch von Interesse sein?
Andererseits: Vielleicht kann die moderne Psychologie vieles erklären, aber was sie überhaupt erklären soll, das muss man ja zuvor als Gegenstand bestimmt haben. Um zu wissen, ob die Psychologie auch meine Seele mit ihren Begierden, Wünschen, Handlungsantrieben, mit ihrer Vorsicht und ihrem Übermut, mit ihren Konflikten und Sorgen erklärt, muss ich sie erst einmal kennengelernt und irgendwie denkend erfasst haben. Und da ich ein Mensch wie andere Menschen bin, konnte das, was ich auf diese Weise über mein eigenes Seelenleben, meine Weise, die Welt zu erleben, zu gestalten und in ihr zurechtzukommen, herausfinden und beschreiben kann, auch für andere interessant sein. Die eigene Seele zu durchforschen und in allgemeinen Begriffen zu beschreiben (das wäre der Logos meiner Psyche) – das ist also auf jeden Fall ein interessantes philosophisches Ziel.
Jörg Friedrich schreibt als Philosoph über Themen der Praktischen Philosophie und beschäftigt sich als IT-Mensch mit praktischen Software-Lösungen.
Bild: Rob Oh. Labyrinth. Lizenz: CC BY 2.0