Alle Artikel in: HOHE LUFTpost

HOHE LUFTpost – Die »abscheuliche« Folgerung

HOHE LUFTpost vom 30.10.15: Die »abscheuliche« Folgerung Soll man Kinder kriegen? Für viele Menschen bedeutet diese Frage einen Scheideweg in ihrem Leben. Auch Philosophen denken darüber nach. Der Ethiker Torbjörn Tännsjö, Professor an der Universität Stockholm, hat gerade einen Essay dazu veröffentlicht. Er kommt zu dem, was in der Philosophie »die abscheuliche Folgerung« (repugnant conclusion) genannt wird: Kinderkriegen ist eine moralische Pflicht. Möglichst viele Kinder! Wer sich der ungebremsten Fortpflanzung verweigert, handele schlecht. Tännsjös Argument ist ziemlich einfach: Das Leben der meisten Menschen ist überwiegend glücklich. Wer Menschen in die Welt setzt, vermehrt also das Glück. Wer sie aber ungezeugt lässt, verwehrt ihnen das Glück. Klingt recht einleuchtend – allerdings kommen sogenannte Antinatalisten nach demselben Muster zum entgegengesetzten Schluss: Kinderkriegen ist schlecht. Denn leben bedeute leiden, wer also Kinder in die Welt setzt, vermehrt das Leid. Wer hat nun recht, Natalisten oder Antinatalisten? Keiner von beiden. Die moralisch optimale Kinderzahl variiert von Mensch zu Mensch und liegt meist weder bei Null noch bei Unendlich, sondern irgendwo dazwischen. Der Fall der »abscheulichen« Folgerung und ihres Gegenstücks offenbart den …

HOHE LUFTpost – Künstliche Intelligenz – und Weisheit

HOHE LUFTpost vom 23.10.15: Künstliche Intelligenz – und Weisheit Kinder übertreffen irgendwann ihre Eltern, und Computer ihre Erbauer – und dieser Moment scheint nah zu sein. In einem Ausmaß, das noch vor ein paar Jahren unvorstellbar war, übertrifft künstliche Intelligenz die menschliche. Längst nicht nur beim Schachspielen und Autofahren: Jetzt haben MIT-Forscher eine »Data Science Machine« entwickelt, die versteckte Muster in großen Datenmengen findet, besser als die besten menschlichen Spezialisten. Und wann kommt die künstliche Philosophie? Das dürfte noch eine Weile dauern. Schon Aristoteles stellte klar, dass Philosophie die Liebe zu sophia (Weisheit) ist, nicht zu episteme (Know-what) oder techne (Know-how). Weisheit ist mehr als Wissen. Man könnte sie in erster Näherung als »Wissen, um gut zu leben« charakterisieren. Sie umfasst deklaratives, performatives und ethisches Wissen. Philosophie schwebt also nicht über dem Wissen, das Wissenschaft, Technik und künstliche Intelligenz liefern, aber sie verbindet es mit geistigen Dimensionen, die darüber hinausgehen. Was macht einen weisen Menschen aus? Nicht so einfach zu sagen. Neben Wissen auch Erfahrung, ethische Intuition und »der große Blick«. Philosophische Computer? Unvorstellbar. Aus heutiger Sicht. – …

HOHE LUFTpost – Kant und die Flüchtlinge

HOHE LUFTpost vom 16.10.2015: Kant und die Flüchtlinge Was hätte Immanuel Kant zur Debatte um den Umgang mit den Flüchtlingen gesagt? Schon die Frage ist dubios, schließlich ist Kant seit mehr als 200 Jahren tot und kann sich nicht gegen Vereinnahmungen wehren. Aber sie liegt nun mal auf dem Tisch. Angefangen hatte der Berliner Philosoph und Vielredner Byung-Chul Han, der die Flüchtlingspolitik vieler europäischer Staaten als rein eigennützig und daher im Sinne Kants zwar rational, aber unvernünftig kritisierte. Konservative Debattierer hielten dem entgegen, Kant habe in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« Flüchtlingen zwar ein Besuchsrecht zugesprochen, aber kein Bleiberecht. Als Kant lebte, war Europa durch die Feldzüge Napoleons aufgemischt, die Sehnsucht nach Frieden war groß. Flüchtlinge waren damals mindestens so präsent wie heute, und ihre Behandlung, zum Beispiel der Umgang mit vertriebenen Juden, entsprach keineswegs immer Kants Vorstellungen von Menschlichkeit. In »Zum ewigen Frieden« suchte Kant nach den Bedingungen für stabile, friedliche Verhältnisse. Dazu zählte er auch ein »Recht der Hospitalität«: Zwar dürfen Staaten Besucher ablehnen, aber nicht gewaltsam, und nicht, wenn es zu deren …

HOHE LUFTpost – Suizid auf kalifornisch

HOHE LUFTpost vom 09.10.2015: Suizid auf kalifornisch Laut Albert Camus ist es die einzig wichtige philosophische Frage: Leben oder sterben? Die Gesetzgeber des amerikanischen Bundesstaates Kalifornien haben diese Woche todkranken Patienten erlaubt, die Antwort auf diese Frage selbst zu bestimmen. Ärzte dürfen solchen Patienten künftig beim Suizid helfen. Für manche Menschen kompromittiert eine so weitgehende Liberalisierung der Sterbehilfe den Wert des menschlichen Lebens. Manche dieser Menschen denken religiös, sie halten den Wert des Lebens für gottgegeben und uns Menschen für unwürdig, diesen Wert auszulöschen. Camus sah es anders, er fragte nach dem, was dem Leben seinen Wert gibt. In einer absurden Welt, einer Welt ohne Gott, ohne Hoffnung und voller Sünde gebe es nichts, was das Leben wertvoll mache. Man muss Camus nicht in allen seinen Argumenten folgen, aber seinen Ansatz halte ich für richtig: sich der Frage zu stellen, was das Leben eigentlich so wertvoll macht. Meine Antwort darauf: die Möglichkeit ethisch und ästhetisch guter Taten und Erfahrungen. Und ich kann mir Umstände vorstellen, in denen diese Möglichkeit verlorengeht, etwa in manchen Fällen schwerer Krankheit …

HOHE LUFTpost – Die Schuldfrage

HOHE LUFTpost vom 02.10.2015: Die Schuldfrage Der Skandal um manipulierte Dieselmotoren bei Volkswagen kann einem schon wegen der bloßen Zahlen den Atem verschlagen: zig Millionen Autos sind betroffen, um zig Milliarden Euro ist der Börsenwert von VW abgestürzt. Aus philosophischer Sicht jedoch finde ich einen anderen Aspekt nicht weniger spannend: die Handhabung des Skandals. Soweit bisher absehbar, geht es dabei vor allem um Schuld und Verantwortung: Kunden, die sich betrogen fühlen, schließen sich für Sammelklagen zusammen. Der für die Abgastechnik zuständige Zulieferer Bosch zeigt auf VW. Dort sucht man die Manager und Ingenieure, die von den Manipulationen wussten. Strafen und Entschädigungen in vielfacher Milliardenhöhe werden bezahlt werden müssen, einige gutbezahlte VWler werden ihre Posten verlieren. Am Ende der Schuldkette stehen dann vielleicht eine Handvoll Leute. Ist dann die Schuldfrage geklärt? Und ist die Schuldfrage wirklich das, was es in dieser Situation vornehmlich zu klären gilt? Nein und nein. Das Denken in Begriffen von Schuld und Strafe erinnert mich an das Mittelalter, als man allgemein glaubte, durch schuldhaftes Verhalten sei irgendwie das Weltgefüge durcheinandergebracht und müsse …

HOHE LUFTPOST – ENHANCEMENT AUF BAYERISCH

HOHELUFTpost vom 25.09.2015: Am letzten Wochenende fanden zwei bemerkenswerte Ereignisse statt: In Lech am Arlberg kamen kluge Leute zum Philosophicum zusammen und diskutierten über die Möglichkeiten und Gefahren des »Enhancement«, also der Verbesserung des Menschen mit technischen Mitteln. Und in München begann das Oktoberfest. Hier gelehrte Vorträge und Diskussionen – dort Blasmusik und Bier in Strömen. Auf den ersten Blick haben Philosophicum und Oktoberfest rein gar nichts miteinander zu tun. Auf den zweiten Blick doch einiges. Zwar ging es in Lech mehr um neue Entwicklungen wie Anti-Aging und Gehirnimplantate. Doch Alkohol ist einer der ältesten »Enhancer« der Kulturgeschichte, und neben Koffein der wohl am weitesten verbreitete. Er macht zwar weder schlauer noch schöner (abgesehen vom »Schönsaufen«), hilft jedoch bei der Bewältigung wichtiger sozialer Aufgaben. Unzählige Partnerschaften, Freundschaften und Verträge wären ohne ihn nicht zustandegekommen. Der Moralphilosoph Richard Egenter sprach von der »sozialen Funktion des Alkohols«. Auf dem Oktoberfest zeigt sich diese Funktion besonders eindrucksvoll. Zeitweise eine Million feiernde Menschen drängen sich auf der Theresienwiese, mehr als zwei pro Quadratmeter, und doch passiert erstaunlich wenig. Der …

HOHE LUFTPOST – Weil halt!

HOHELUFTpost vom 18.09.2015: Der Fall der amerikanischen Stadtschreiberin Kim Davis wird derzeit heftig diskutiert, und auch Philosophen kann er Kopfzerbrechen bereiten. Es ist ein Testfall für die Frage, was es bedeutet, richtig zu handeln. Nachdem der Oberste Gerichtshof die Homo-Ehe mit der Hetero-Ehe gleichgestellt hatte, weigerte Davis sich, in ihrem Bezirk noch Ehebescheinigungen auszustellen, und verbot dies auch ihren Mitarbeitern. Das neue Rechtsverständnis widerspreche »Gottes Definition von Ehe«, erklärte Davis, die sich zum apostolischen Christentum bekennt. Sie wurde in Haft genommen, aber nach ein paar Tagen wieder entlassen – und kehrte in ihr Amt zurück. Sie kann nicht gefeuert werden, da sie von den Bürgern gewählt wurde. Wann also handelt ein Mensch richtig? Wenn er tugendhaft handelt, sagte Aristoteles. Wenn er dem »inneren Gerichtshof« seines geprüften Gewissens folgt, sagte Immanuel Kant. Beides kann man Davis zuschreiben. Sie zeigte sich tapfer und nahm für ihre Überzeugung einiges auf sich. In gewisser Hinsicht ist sie auch gerecht, da sie homosexuelle und heterosexuelle Paare gleich behandelt. Dennoch glaube ich, dass Davis falsch handelt. Aber nicht, weil sie gegen …

HOHE LUFTPOST – Ein neuer Einstein?

HOHELUFTpost vom 11.09.2015: Vor hundert Jahren geschah eine der größten wissenschaftlichen Revolutionen der Geschichte: Albert Einstein veröffentlichte seine allgemeine Relativitätstheorie und eröffnete uns damit die Erkenntnis, dass die allgegenwärtige Schwerkraft gar keine Kraft im üblichen Sinn ist, sondern ein Nebenprodukt des gekrümmten Raums. Einstein war der letzte Wissenschaftler, der solch einen gewaltigen Erkenntnisschritt im Alleingang vollbrachte. Wann kommt endlich ein neuer Einstein? Ich vermute: wohl gar nicht mehr. Solche wissenschaftlichen Einzelleistungen sind nicht mehr möglich. An Talenten würde es nicht Mangeln. Der amerikanische Theoretiker Edward Witten beispielsweise hat wohl nicht weniger mathematische Begabung als Albert Einstein – und er tüftelt seit Jahrzehnten an einer noch allgemeingültigeren Theorie. Aber nicht allein, sondern in Zusammenarbeit mit vielen anderen Forschern. Diese Unternehmung ist zu komplex für ein einzelnes Gehirn. Es gibt aber noch einen anderen Grund. In unserer Gesellschaft haben Wissenschaftler nicht mehr den Status, den sie zu Einsteins Zeiten hatten. Einstein war nicht nur ein grandioser Physiker, sondern auch ein eine gewichtige politische Stimme, eine moralische Autorität – und ein Popstar. Ob zu Recht oder nicht, so …

HOHE LUFTPOST – Kindersegen – oder Fluch?

HOHELUFTpost vom 04.09.2015: Deutschland erlebt einen kleinen Babyboom: Letztes Jahr kamen 715000 Kinder zur Welt, hat das Statistische Bundesamt jetzt bekanntgegeben. Das ist eine Steigerung von 4,8 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und so viel wie wie seit 2002 nicht mehr. Viele Menschen halten das für eine erfreuliche Nachricht, aber nicht alle. Es gibt Philosophen, die Kinderkriegen für grundsätzlich ethisch bedenklich halten. Zu ihnen gehört die Kanadierin Christine Overall, die vor ein paar Jahren ein Buch mit dem Titel »Why Have Children?: The Ethical Debate« geschrieben hat. Overall zerlegt ein Argument nach dem anderen dafür, Kinder zu kriegen. Zum Beispiel jenes, es sei »natürlich«, Kinder zu kriegen. Menschen tun alle möglichen Dinge, die man unnatürlich nennen kann: Autofahren und Kariesprophylaxe zum Beispiel. Natürlichkeit ist in dieser Frage kein hilfreicher Maßstab. Oder jenes Argument, man würde dem Kind etwas Gutes tun, indem man es kriegt, da man ihm all die schönen Erfahrungen beschert, die das Leben bereithält: Rad fahren, Eis essen, Sex haben (später mal). Aber zum Zeitpunkt der Entscheidung gibt es das Kind noch nicht, …

HOHE LUFTPOST – Wir Engel und Teufel

HOHELUFTpost vom 28.08.2015: Der Fund ist gruselig, und er gibt zu denken: Archäologen haben in der Nähe von Frankfurt am Main ein Massengrab freigelegt, in das unsere Ahnen vor 7000 Jahren ziemlich achtlos 26 Leichname geworfen hatten, darunter viele Kinder. Das ist auffällig, weil die Menschen damals ihre Toten meist mit Respekt und Sorgfalt bestatteten. Noch auffälliger ist der Zustand der Leichname. Sie zeigen deutliche Spuren brutaler Gewalt. Manchen wurde offenbar mit stumpfen Waffen der Schädel eingeschlagen. In manchen Knochen stecken noch Pfeilspitzen. Der Fund befeuert eine ohnehin schon hitzige Debatte: Ist der Mensch von Natur aus friedlich – oder gewaltsam? Der amerikanische Psychologe Stephen Pinker behauptet in seinem Buch »Gewalt« von 2011, dass die Menschheit im Lauf der Zivilisationsgeschichte immer friedlicher wurde und heute weniger gewaltsam denn je ist. Andere Gelehrte widersprachen Pinker heftig. Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg werden über seine These allenfalls bitter lachen können. Doch der Frankfurter Fund scheint sie zu stützen. Was stimmt denn nun: Ist der Mensch wirklich ein geborener Brutalo, besänftigt durch die Zivilisation? Oder ein von Natur …