HOHE LUFTpost vom 16.10.2015: Kant und die Flüchtlinge
Was hätte Immanuel Kant zur Debatte um den Umgang mit den Flüchtlingen gesagt? Schon die Frage ist dubios, schließlich ist Kant seit mehr als 200 Jahren tot und kann sich nicht gegen Vereinnahmungen wehren. Aber sie liegt nun mal auf dem Tisch. Angefangen hatte der Berliner Philosoph und Vielredner Byung-Chul Han, der die Flüchtlingspolitik vieler europäischer Staaten als rein eigennützig und daher im Sinne Kants zwar rational, aber unvernünftig kritisierte. Konservative Debattierer hielten dem entgegen, Kant habe in seiner Schrift »Zum ewigen Frieden« Flüchtlingen zwar ein Besuchsrecht zugesprochen, aber kein Bleiberecht.
Als Kant lebte, war Europa durch die Feldzüge Napoleons aufgemischt, die Sehnsucht nach Frieden war groß. Flüchtlinge waren damals mindestens so präsent wie heute, und ihre Behandlung, zum Beispiel der Umgang mit vertriebenen Juden, entsprach keineswegs immer Kants Vorstellungen von Menschlichkeit. In »Zum ewigen Frieden« suchte Kant nach den Bedingungen für stabile, friedliche Verhältnisse. Dazu zählte er auch ein »Recht der Hospitalität«: Zwar dürfen Staaten Besucher ablehnen, aber nicht gewaltsam, und nicht, wenn es zu deren Leid wäre – und das gilt für alle Menschen, ob Flüchtlinge, Touristen, Geschäftsreisende oder Philosophen. Solange sie sich freundlich verhalten, muss auch der Staat, in dem sie sich aufhalten, sie freundlich behandeln. Was das heute genau heißt? Dafür können wir den alten Kant nicht strapazieren. Das müssen wir selbst wissen.
– Tobias Hürter
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