HOHE LUFTpost vom 02.10.2015: Die Schuldfrage
Der Skandal um manipulierte Dieselmotoren bei Volkswagen kann einem schon wegen der bloßen Zahlen den Atem verschlagen: zig Millionen Autos sind betroffen, um zig Milliarden Euro ist der Börsenwert von VW abgestürzt. Aus philosophischer Sicht jedoch finde ich einen anderen Aspekt nicht weniger spannend: die Handhabung des Skandals. Soweit bisher absehbar, geht es dabei vor allem um Schuld und Verantwortung: Kunden, die sich betrogen fühlen, schließen sich für Sammelklagen zusammen. Der für die Abgastechnik zuständige Zulieferer Bosch zeigt auf VW. Dort sucht man die Manager und Ingenieure, die von den Manipulationen wussten. Strafen und Entschädigungen in vielfacher Milliardenhöhe werden bezahlt werden müssen, einige gutbezahlte VWler werden ihre Posten verlieren. Am Ende der Schuldkette stehen dann vielleicht eine Handvoll Leute.
Ist dann die Schuldfrage geklärt? Und ist die Schuldfrage wirklich das, was es in dieser Situation vornehmlich zu klären gilt? Nein und nein. Das Denken in Begriffen von Schuld und Strafe erinnert mich an das Mittelalter, als man allgemein glaubte, durch schuldhaftes Verhalten sei irgendwie das Weltgefüge durcheinandergebracht und müsse durch Strafe wieder geordnet werden.
Hilfreicher als die Frage nach den Schuldigen erscheint mir in dieser Situation die Frage nach den Ursachen. Was bringt die Manager eines Autoherstellers dazu, so starken Druck auf die Entwickler auszuüben, dass betrügerische Motoren herauskommen? Sehr wahrscheinlich steckt dahinter das Versprechen von Autos, die gleichzeitig umweltfreundlich, verbrauchsarm und “sportlich” sind – und all das nach einem Prinzip, das schon über ein Jahrhundert alt ist. Klingt nach Märchen? Ja, aber Millionen Kunden nehmen den Herstellern dieses Versprechen ab. (Auch ich fahre einen VW-Diesel.) Wer sich im VW-Skandal über die “Schuldigen” empört, sollte nicht außer Acht lassen, dass eine Spur auch zu ihm selbst führen könnte.
– Tobias Hürter
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