Alle Artikel in: HOHE LUFT

Die Getriebene

KAUM JEMAND SCHRIEB SO LEIDENSCHAFTLICH UND KRITISCH ÜBER DIE WIRKMACHT VON BILDERN UND METAPHERN WIE DIE ESSAYISTIN UND SCHRIFTSTELLERIN SUSAN SONTAG, KAUM EINE INTELLEKTUELLE MUTIERTE SCHNELLER ZUR IKONE. WER WAR DER MENSCH HINTER DEM MYTHOS? Text: Rebekka Reinhard Die Fotografie eines Menschen ist nicht identisch mit ihm. Sie zeigt einen Moment im Leben dieser Person, einen Ausschnitt aus dem Raum, in dem sie sich gerade befindet. Wie sehr greifen Reales und Imaginiertes ineinander? Welche Wirklichkeit liegt jenseits des Abbilds? Solche Fragen faszinierten die Frau mit der legendären weißen Haarsträhne – Susan Sontag (1933–2004), Essayistin, Schriftstellerin, Dramatikerin und Aktivistin. Für die Spannung zwischen Realität, Ästhetik und Ethik fand sie eine einzigartige Sprache. Deutlicher als viele ihrer Zeitgenossen erkannte sie die oft brutale Wirkmacht von Bildern und Metaphern; eine Macht, deren Nähe sie suchte und die sie zugleich abstieß. Kaum wurde sie mit ihren kulturkritischen Texten Mitte der 1960er berühmt, galt »Sontag« schon als Mythos. Alle kannten Sontag – auch jene, die keine Ahnung hatten von Intellektuellen – und Sontag kannte alle. In den 60er- und 70er-Jahren …

Mehr als guter Wille – Anleitung zum Helfen

Es liegt etwas in der Luft… … es ist die Hilfsbereitschaft der deutschen Bevölkerung angesichts des Krieges. Bisher: beeindruckend. Viele spenden Geld, viele engagieren sich ehrenamtlich bei lokalen Hilfsorganisationen. Andere gehen ohne zu zögern zum Bahnhof und laden ankommende ukrainische Familien zu sich nach Hause ein, geben ihnen ein provisorisches Obdach, integrieren sie liebevoll-pragmatisch in ihren Alltag. Wieder andere wollen helfen – denken aber viel zu viel über die Art des „richtigen” Helfens nach. Wer zu sehr an Theorien und Hypothesen klebt, kann nicht praktisch werden. Jedenfalls nicht so schnell, wie jetzt erforderlich! Allen, die sich von diversen Bedenken wie gelähmt fühlen, möchten wir hier etwas Orientierung geben. „Es ist überall nichts in der Welt, ja auch außerhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut gehalten werden (sic), als allein ein guter Wille”, schrieb Immanuel Kant über das unbedingt Gute. „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es”, meinte dagegen Erich Kästner. Für Kant zählt allein die gute Absicht, für Kästner allein die gute Konsequenz. Angesichts der vielen Menschen, die jetzt unsere Unterstützung brauchen, scheint …

Handeln im Unvorstellbaren – das neue Sonderheft ist da!

HOHE LUFT kompakt: Sonderheft 1/ 2022: „Handeln im Unvorstellbaren: Wirtschaft und Realität“ „Wenn ein Unternehmen keinen Wert für die Gesellschaft hat, hat es seine Bestimmung verfehlt“, so Ex-Siemens-Chef und jetziger Aufsichtsratsvorsitzende der Siemens Energy AG Joe Kaeser im aktuellen HOHE LUFT kompakt. Der Topmanager gab HOHE LUFT-Chefredakteur Thonas Vašek und der stv. Chefredakteurin Dr. Rebekka Reinhard exklusiv ein großes Interview, in dem er über sein Lebenswerk spricht, über Konzernführung in Krisenzeiten und unternehmerische Verantwortung. Was macht ein lebendiges Unternehmen heute aus? Das ist die Leitfrage der aktuellen Ausgabe. Denn Unternehmen müssen in Zukunft noch radikaler als bisher ihre Aufgabe und Verantwortung in der Welt überdenken. Schon der Schock der Pandemie zwang die Wirtschaft dazu, dem Agilitäts-Paradigma endlich wirklich gerecht zu werden. Nun gilt es erst recht, eine 360-Grad-Sicht auf Wirtschaft und Realität einzunehmen – und entsprechend zu handeln. Lebendige Unternehmen haben gesellschaftliche Veränderungen ebenso im Blick wie globale Bedrohungen. Der Blick nach innen (Selbstbeobachtung), der Blick nach außen (Welt), der Blick nach vorn (Zukunft), der Blick nach allen Seiten (Komplexität) – das sind die Perspektiven, …

Der Kapitalismus ist ein Humanismus

Der Kapitalismus ist schuld an der Kluft zwischen Arm und Reich und deshalb auch an der Migration, glauben viele. Der Kapitalismus ist aber auch eine Chance, um die Flüchtlingsfrage zu lösen. Vielleicht die beste, die wir haben. Text: Thomas Vašek Smartphones kennen keine Grenzen. Sie verbinden Menschen über Kontinente hinweg, sie schaffen Zugang zu Wissen, sie schicken Daten rund um die Welt. Kein anderes Gerät steht so sehr für Globalisierung, für Vernetzung und Mobilität. Flüchtlinge mit Smartphones – das ist auch eine Metapher der gegenwärtigen Krise. Über das Smartphone halten sie Kontakt mit ihren Familien, mit Google Maps orientieren sie sich auf der Flucht, über Facebook kommunizieren sie mit ihren Freunden. Auf YouTube hören sie, was Angela Merkel zu sagen hat. Das Smartphone verbindet sie mit der westlichen, der kapitalistischen Welt. Es verbindet sie mit uns. Waren, Kapital und Daten bewegen sich heute frei über alle Grenzen hinweg. Menschen dagegen werden daran gehindert, einfach dort hinzugehen, wo sie hingehen wollen. Sie müssen unter Natodraht hindurchrobben, sie ertrinken im Mittelmeer oder ersticken in Lastwagen am Rand …

Über die Grenzen

Die auf Lesbos lebende Journalistin Franziska Grillmeier reiste nach der Ausweitung von Putins Krieg auf die gesamte Ukraine an die Grenzen der Nachbarländer. In Ungarn, Polen und der Slowakei versuchte sie herauszufinden, welche Realitäten die Menschen nach der Flucht erwartet. Wir sprachen über die blinden Flecken Europas und die Gleichzeitigkeit von brutaler Gewalt an den Grenzen und einer schwankenden Solidaritätsbewegung. Interview: Lena Frings HOHE LUFT: Wie hast Du die Situation an den Grenzen wahrgenommen? FRANZISKA GRILLMEIER: Unmittelbar an den Grenzen, wo die Leute mit einer Kiste oder einem Rucksack ankamen, war da diese große Stille. Es gibt dort eine Ruhe, obwohl hunderte Menschen an einem Ort sind, die ich auch in Moria oder Bangladesch in Flüchtlingslagern erlebt habe. Dabei war die Ruhe hier unmittelbarer: Die Menschen wirkten im Gegensatz zu den Lagern nicht in sich gekehrt, ihnen lag die Erfahrungen der letzten Stunden noch in den Gesichtern. Es gab noch keine Worte, um zu begreifen, wie viel man gerade hinter sich gelassen hatte. Es ist mir sehr wichtig zu betonen, dass ich die Situation, in …

Das Geheimnis der Macht

Macht begegnet uns überall. Im Job, auf der Straße. In der Politik, in der Ehe. Vielen ist das unheimlich. Die Macht hat keinen guten Ruf. Die Frage ist: muss das so sein? Ein Polizist, der einen Ladendieb festnimmt. Der Krieg zwischen Israelis und Palästinensern. Ein Internetkonzern, der die Suchergebnisse der Nutzer bestimmt. Ein Chef, der für den nächsten Bericht die Deadline auf Montagmorgen setzt – und der Angestellte, der dagegen protestiert. Ein Ehekrach um die Arbeitszeiten der Frau. Ein Vater, der geduldig versucht, seinem kleinen Kind Tischmanieren beizubringen. All das hat eines gemeinsam: Es geht um Macht. Wo Menschen zusammenleben, üben sie Macht aufeinander aus. Doch viele von uns finden das nicht gut. »Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe«, schreibt etwa der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen«. Und weiter: »Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier, und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muss also andere unglücklich machen.« Man redet vom Willen zur Macht, nicht von der Liebe zur Macht. Macht wird bewundert, nicht …

Die neue HOHE LUFT ist da! Was können wir noch glauben?

Wir haben diese Ausgabe noch vor der »Zeitenwende« konzipiert; als Menschen noch nicht aus der Ukraine flohen, kämpfen mussten, einander verloren oder in Kellern Schutz suchten. Viele der von uns behandelten Themen, wie der »Widerstand«, die »Demokratie«, die »Sucht nach mehr« oder auch die »Freundschaft« klingen nun anders und erhalten im besten Fall eine weitere Bedeutungsebene. Und gerade die Frage »Was können wir noch glauben« scheint in einer Zeit, wo die Wahrheit sich wieder zwischen Ost und West zu teilen scheint, unglaublich relevant. Solltet Ihr dennoch die ein oder andere Zeile angesichts der aktuellen Situation als unpassend empfinden, bitten wir dafür um Entschuldigung. ⁠ ⁠ Wir wünschen Euch viel Kraft in diesen unruhigen Zeiten und von Herzen alles Gute.

Was es heißt, etwas zu »müssen«

Es liegt etwas in der Luft… … Es ist der Rauch über den Häusern von Kiew, Charkiw und Mariupol. Es ist das Entsetzen über diesen grauenhaften Krieg. Es ist die bange Frage, was den Mann im Kreml noch stoppen kann. Es ist die blanke Angst vor allem, was womöglich noch kommt. Es ist aber auch die Bewunderung für all jene, die sich dem brutalen Angriff auf die Ukraine todesmutig entgegenstellen. „Jeder von uns stirbt irgendwann,” sagte der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko im Interview mit »Bild«-Reporter Paul Ronzheimer: »Als ehemaliger Soldat habe ich gespürt: Wenn mein Land mein Leben braucht, dann muss ich mein Land verteidigen. Und wenn es nötig wird: Mit meinem Leben zahlen.« Klitschko verteidigt sein Land, wie sein Bruder Wladimir und viele andere, weil er es »muss«, wie er selbst sagt – weil er nicht anders kann. Er tut es nicht einfach nur aus Pflicht. Er tut es aus innerer Überzeugung, aus einer »willentlichen Notwendigkeit«, wie es der Philosoph Harry Frankfurt nennt. Das ist kein törichter männlicher Heroismus. Es geht viel mehr darum, für …

Spirituelle Apokalypse

Der russische Nationalist Alexander Dugin erklärt dem Westen den Krieg. Er beruft sich auf Martin Heidegger und den italienischen Esoteriker Julius Evola. Dahinter steckt das gefährliche Projekt einer geistig-politischen Totalumwälzung – ein ontologischer Faschismus. Text: Thomas Vašek Alexander Geljewitsch Dugin hasst Amerika, den Westen, die moderne Welt, die für ihn immer mehr in Nihilismus und Dekadenz versinkt. Der 60-jährige Philosoph und Politologe träumt von einem wiedererstarkten Russland, das dem Siegeszug westlicher Werte Einhalt gebieten soll. Er beruft sich gern auf Martin Heidegger. Den Menschen im verkommenen Westen sage Heidegger nichts mehr, schreibt Dugin: Daher kann er zu uns sprechen. Dugins zweite Leitfigur ist in Deutschland bislang weniger bekannt. Es ist der italienische Kulturphilosoph und Esoteriker Julius Evola – ein protofaschistischer Rassentheoretiker und Antisemit, der die SS als heldenhaften Eliteorden verehrte, eine faschistische Rassenlehre entwickelte und ein Vorwort zu den »Protokollen der Weisen von Zion« schrieb. Der Philosoph Alexander Geljewitsch träumt von einem wieder erstarkten Russland, das dem Siegeszug westlicher Werte Einhalt gebieten soll. Dugin, Heidegger, Evola – ein auf den ersten Blick seltsames Gespann. Da ist …

Was ist guter Sex?

Noch nie war die sexuelle Freiheit so groß. Aber was ist überhaupt Sex? Was heißt es, guten Sex zu haben? Und was bedeutet das für unser monogames Beziehungsmodell? Text: Thomas Vašek Sex ist überall, in allen Variationen. Man kann ihn kaufen, einschlägige Klubs besuchen oder sich im Netz spontan dazu verabreden. Und wenn einem das zu kompliziert ist, macht man es sich einfach selbst. So frei wie heute war der Sex noch nie. Ob hetero oder schwul, bi- oder pansexuell, monogam oder promiskuitiv: Alles geht. Erlaubt ist, was gefällt, mit den Ausnahmen sexuelle Gewalt, Inzest und Pädophilie. Ansonsten kann jeder Sex haben – nach eigenen Neigungen, nach eigenem Geschmack. Heutige Sexratgeber geben keine Unterweisungen mehr, geschweige denn moralische Belehrungen, eher empfiehlt man Mut zur Grenzverletzung, zum fantasievollen, tabulosen Spiel. Die sexuelle Revolution hat uns von vielen ungesunden Zwängen befreit. Aber die grenzenlose Freiheit wirft auch neue Fragen auf. Sie alle haben zu tun mit der Bedeutung des Sex für unser Leben, für unsere Beziehungen mit anderen. Was drückt Sex eigentlich aus? Was ist guter Sex, …