Artikel, Heftartikel, HOHE LUFT
Schreibe einen Kommentar

Die Getriebene

KAUM JEMAND SCHRIEB SO LEIDENSCHAFTLICH UND KRITISCH ÜBER DIE WIRKMACHT VON BILDERN UND METAPHERN WIE DIE ESSAYISTIN UND SCHRIFTSTELLERIN SUSAN SONTAG, KAUM EINE INTELLEKTUELLE MUTIERTE SCHNELLER ZUR IKONE. WER WAR DER MENSCH HINTER DEM MYTHOS?

Text: Rebekka Reinhard

Die Fotografie eines Menschen ist nicht identisch mit ihm. Sie zeigt einen Moment im Leben dieser Person, einen Ausschnitt aus dem Raum, in dem sie sich gerade befindet. Wie sehr greifen Reales und Imaginiertes ineinander? Welche Wirklichkeit liegt jenseits des Abbilds? Solche Fragen faszinierten die Frau mit der legendären weißen Haarsträhne – Susan Sontag (1933–2004), Essayistin, Schriftstellerin, Dramatikerin und Aktivistin. Für die Spannung zwischen Realität, Ästhetik und Ethik fand sie eine einzigartige Sprache. Deutlicher als viele ihrer Zeitgenossen erkannte sie die oft brutale Wirkmacht von Bildern und Metaphern; eine Macht, deren Nähe sie suchte und die sie zugleich abstieß. Kaum wurde sie mit ihren kulturkritischen Texten Mitte der 1960er berühmt, galt »Sontag« schon als Mythos. Alle kannten Sontag – auch jene, die keine Ahnung hatten von Intellektuellen – und Sontag kannte alle.
In den 60er- und 70er-Jahren war sie eine New Yorker Celebrity, die anscheinend keinen Schlaf brauchte, den ganzen Tag und die halbe Nacht mit manischer Besessenheit las und schrieb und den Rest der Zeit auf Vernissagen, Partys, Dinners mit Stars wie Leonard Bernstein, Jackie Kennedy, John Lennon oder Andy Warhol abhing. Die Liste ihrer Förderer, Kollegen, Freunde und Lieben ist lang. Eine wilde, illustre Mischung aus Elite und Pop, »high« und »low«. Seit ich ihren Texten als Studentin erstmals begegnete, frage ich mich: Wird man das Werk Susan Sontags je von ihrem Mythos trennen können? Und wenn ja, sollte man es tun? Dies ist das Porträt einer Frau, die nicht nur mit ihrem scharfen Blick auf die Welt Kulturgeschichte schrieb, sondern mindestens genauso sehr mit ihrer Gier nach dem intensiven Leben.

Susan Rosenblatt wird 1933 als Tochter eines jüdischen Pelzhändlers und einer Lehrerin in New York City geboren. Ihre Kindheit ist alles andere als kindgerecht. Der Vater stirbt während eines China-Trips an Tuberkulose. Die Mutter – die bald den Namen ihres zweiten Mannes Sontag annehmen wird – ist Alkoholikerin, kühl und meist abwesend. Mit ihrer Mutter und ihrer jüngeren Schwester Judith lebt Susan Sontag einige Jahre in Arizona, später in Los Angeles. Mit fünfzehn beendet sie die High School und wechselt nach Berkeley, wo sie ihre erste große Liebe mit einer Frau erlebt. Zwei Jahre später verliebt sie sich in den Soziologen Philip Rieff, ihren damaligen Professor an der Universität Chicago, und heiratet Hals über Kopf.

Ihr Essay macht Sontag über Nacht berühmt.

In Harvard beginnt sie mit ihrer Doktorarbeit in Philosophie. Ihr intellektueller Perfektionismus ist enorm. Sie will alles kennen, nicht nur die kanonischen Texte der griechischen Philosophie, Ethik, Metaphysik, nicht nur Rilke und Thomas Mann, nicht nur französische Filme – auch die Freud’sche Psychoanalyse. Über letztere schreibt sie gemeinsam mit ihrem Mann »Freud: The Mind of the Moralist« (ein Werk, das allerdings unter Rieffs Namen erscheint). Mit neunzehn wird sie ungeplant schwanger. Sie nennt ihren Sohn David – nach Michelangelos berühmter Monumentalstatue. Von Anfang an überfrachtet sie das Kind mit Hochgeistigem, macht es früh mit Homer und Voltaire bekannt – und lässt es ansonsten viel allein. Sontag liebt ihren Sohn, aber sie kann nicht anders. Sie ist eine Getriebene, eine Fanatikerin des Geistes, die keine Zeit hat, um sich mit mütterlichen und ehelichen Pflichten zu belasten. Sie muss immer wieder ausbrechen, sich bilden und weiterentwickeln. Sie möchte nicht (da) sein, sie
möchte werden – und zwar immer wieder anders. Ihr Bemühen um Weiterentwicklung schlägt sich auch in ihrer konsequenten Praxis des Tagebuchschreibens nieder, die sie 1947 beginnt. Es sind – auf Sontags Wunsch von David Rieff posthum herausgegebene – Szenen ihres Lebens, Reflexionen, Listen, Aphorismen, mit denen sie nicht zuletzt ihre schwankenden Gefühle dokumentiert, ihre Selbstzweifel und Selbstkritik. Den größten Raum nehmen ihre meist unglücklichen und hochdramatischen lesbischen Liebesbeziehungen ein. 1957 überlässt Sontag David seinem Vater, um für zwei Jahre nach Paris zu gehen, der damals bedeutendsten Kulturmetropole der Welt; die Werke französischer Autoren und Filmemacher beeinflussen ihr Schreiben nachhaltig. Nach ihrer Rückkehr in die USA wird die Ehe mit Rieff geschieden. 1964, während ihrer dritten Europareise, schreibt sie jenen Essay, der sie schlagartig berühmt macht. »Notes on ›Camp‹« (Anmerkungen zu Camp) erscheint dank ihrer einflussreichen Kontakte im wichtigsten Magazin der New Yorker Intellektuellenszene »Partisan Review« – und wird gleich überall hochkontrovers diskutiert. Die einen verstehen den Text als Symptom des endgültigen Niedergangs der Hochkultur, von den anderen wird er als Befreiung vom elitären Mief gefeiert. »Camp« ist Sontags Wort für die Ironisierung des Kitschigen, die Fetischisierung des Geschmacklosen. »Camp« heißt, die Welt als ästhetisches Phänomen zu betrachten, um sich mit spielerischer Haltung von ihr zu distanzieren. »Camp sees everything in quotation marks. It’s not a lamp, but a ›lamp‹; not a woman, but a ›woman‹ … It is the farthest extension, in sensibility, of the metaphor of life as theater.« Was sie beschreibt, ist der (Lebens)Stil der Schwulen – für Sontag die wahren »aristocrats of taste«. In den wilden 60ern herrscht in allen gesellschaftlichen Bereichen Aufbruchsstimmung – gerade aber die Homosexuellenszene bleibt eine stigmatisierte Subkultur.

DIE KRITIKERIN WILL GEIS T UND IMAGINATION
SEIN – UND DEN REST AUSBLENDEN

Auch das macht ihren Text so provokant. Allerdings geht es Sontag nicht darum, sich selbst als bisexuell oder lesbisch zu outen (was sie ihr Leben lang nicht tun wird). Sie zielt auf einen ganz anderen Befreiungsschlag: die hierarchischen Trennlinien zwischen High und Low, Form und Inhalt, Verstand und Emotion aufzuheben und zugleich gegen das Amerika ihrer Zeit Stellung zu beziehen. Denn – so kann man Sontag lesen – die von ihr gelobte Liebe zum Künstlichen zeigt eben das, was der Gesellschaft fehlt: Echtheit und Ernsthaftigkeit. Hinter Sontags Leidenschaft für die Ästhetisierung des Realen verbirgt sich auch ihr persönlicher Kampf mit der Wirklichkeit. Sie will ganz Geist und Imagination sein – und den banalen Rest am liebsten ausblenden. Vor allem ihren ganz realen Körper, für dessen Pflege sie nicht viel übrig hat, und ihre chronischen Verlassenheitsgefühle in engen zwischenmenschlichen Beziehungen.

»I’m playing at being alive, at being a writer. I don’t know where to put myself.«
Susan Sontag, 1981

Auf der einen Seite steht, wie es in ihren Tagebuchaufzeichnungen immer wieder deutlich wird, Sontags »real me« – auf der anderen die immer berühmtere »Susan Sontag«. Die Lösung des Problems besteht für sie in der Intensivierung des Alltags, im Extrem, im Rausch. Selbstdisziplin ist ihr nicht genug, genauso wenig wie Kaffee und Zigaretten. Sie nimmt (wie nicht wenige ihrer Autorenfreunde) Amphetamine, um noch länger wach bleiben, mehr lesen, mehr schreiben zu können. Ihr erster Roman »The Benefactor« (Der Wohltäter), inspiriert von der experimentellen Form des französischen »Nouveau Roman«, erscheint schon 1963, 1965 schreibt sie den nächsten. 1966 bringt sie den Essayband »Against Interpretation« (Kunst und Antikunst) heraus (der auch »Notes on ›Camp‹« enthält), nebenher realisiert sie Filme. In den 60erund 70er-Jahren sprüht sie nur so vor kreativer Energie und erotischer Leidenschaft. Zu ihren wichtigsten Beziehungen zählen die zu der neapolitanischen Adligen Anna Carlotta del Pezzo und der Rothschild-Erbin Nicole Stéphane. Del Pezzo ist Polytoxikomanin und chronisch unverfügbar; Stéphane, ein ehemaliges Mitglied der französischen Résistance, Schauspielerin. Sontags Beuteschema sind widersprüchliche, extreme Persönlichkeiten wie sie selbst; wirklich glücklich wird keine ihrer Lieben.

FÜR SUSAN SONTAG WEISEN FOTOGRAFIEN IMMER SCHON DEN REALEN TOD VORAUS

Obwohl die unangepasste Sontag zum role model für aufstrebende weibliche Intellektuelle wird, hat sie mit Frauenthemen nicht viel am Hut. Sie will mit originellen Ideen brillieren und ihre Einzigartigkeit bloß nicht in eine Schublade stecken lassen – weder die der Homosexuellen noch die der Feministin (vielleicht auch, um ihre Reputation nicht zu schmälern). Von den Feministinnen ihrer Zeit wird Sontag ähnlich wie die von ihr verehrte Hannah Arendt (siehe auch das Porträt »Die Unverstandene « in HOHE LUFT 2/2021) als verwöhnte »Ausnahmefrau« kritisiert, weil ihr gesellschaftliche und finanzielle Barrieren nie wirklich im Wege standen. Selbst wenn es so war: Es hindert Sontag nicht daran, klar und deutlich zu artikulieren, wo immer sie Missstände wittert. Ein Beispiel ist ihre bahnbrechende Essaysammlung »On Photography« (Über Fotografie) von 1977, die die ethischen und ästhetischen Implikationen moderner Dokumentarfotografie kritisch hinterfragt. Für Sontag sind Fotografien Zitate von Zeit, Fragmente des Lebens; Momentaufnahmen,
die immer schon den realen Tod, die konkrete Sterblichkeit vorausweisen: »the inventory of mortality«. Fotos – wie Metaphern – können aber noch mehr: die Realität sowohl verändern als auch enthüllen. Das Problem mit der Materialität dieser (Ab)Bilder besteht nach Sontag darin, dass sie nicht real sind – aber immer viel realer, als man zugeben möchte. Die Dokumentarfotografin eignet sich ihr Sujet an, das heißt, sie setzt sich in eine bestimmte Beziehung zur Welt, die sich wie Wissen anfühlt. Wie Macht. Die Betrachter (»image junkies«) wiederum ziehen sich die vorgebliche Realität rein, wie sie sich Dosensuppen reinziehen – ohne jedes Gespür für die Flüchtigkeit dessen, was das Kameraauge einfing; ohne moralische Empfindsamkeit: »Needing to have reality confirmed and experience enhanced by photographs is an aesthetic consumerism to which everyone is now addicted.«

SONTAG BEKÄMPFT DEN BRUSTKREBS – UND SEZIERT SEINE METAPHERN

Die Trump-Ära fast vorausahnend, beschreibt sie das fotobesessene Amerika als »the quintessential Surrealist country«. Gegen die Übermacht der Bilder, die mit ihrer Konfusion von Realem und Surrealem die Welt vermüllen, votiert Sontag für ein ökologisches Bewusstsein »not only of real things but of images as well«. 1975 bricht die Wirklichkeit mit aller Wucht in Sontags Leben ein. Sie wird mit Brustkrebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert. Nun setzt sie alles auf ihre Willenskraft. Und erfährt viel Beistand. Ihr Sohn – zu dem sie zeitlebens ein schwieriges Verhältnis hat – kümmert sich um sie, sie fühlt sich geliebt, kann das Leben zum ersten Mal richtig schätzen. Wohlhabende Freunde bezahlen eine teure experimentelle Therapie, mit der es ihr gelingt, den Krebs vorerst zu besiegen. 1978 erscheint Sontags Essay »Illness as Metaphor« (Krankheit als Metapher). Er zeigt, wie sehr die zahlreichen historischen Mythen und metaphorischen Umschreibungen von Krebs die Krankheit moralisieren und die Leidenden (etwa als sogenannte Krebspersönlichkeiten) stigmatisieren, beschämen und schuldig sprechen. Für diesen Text bekommt Sontag auch viel positive Resonanz von Betroffenen; auch wenn sie ihre eigene Erfahrung mit keinem Wort erwähnt.

IN IHREN KURZGESCHICHTEN VERARBEITET DIE PERFEKTIONISTIN IHRE SELBSTZWEIFEL

Als Anfang der 1980er-Jahre Gerüchte über einen neuartigen »Schwulenkrebs« auftauchen, sieht sie auch hier eine gefährliche Metaphorisierung am Werk. Aids ist damals ein Wort, mit dem niemand in Berührung kommen will; es gilt als absolutes Tabu, Symptom homosexueller Perversionen. In ihren Tagebüchern listet Sontag seitenweise die Namen prominenter Aids-Toter auf: der Künstler und Schriftsteller, die sie persönlich kannte, und jener, die die Krankheit ins öffentliche Bewusstsein bringen. Neben ihren Essays schreibt Sontag auch gelegentlich (zuweilen essayistische) Kurzgeschichten. In diesem Genre will sie sich nicht wie üblich als große Kennerin beweisen, sondern ihre persönlichen Unsicherheiten verarbeiten; der Unbegreiflichkeit des Lebens in ihren historischen und kulturellen Kontexten Ausdruck verleihen. Eine ihrer eindrucksvollsten Erzählungen ist »The Way We Live Now« (Wie wir jetzt
leben) von 1986, in der sie 26 Personen – eine für jeden Buchstaben im Alphabet – über einen unbenannten Patienten mit einer unbenannten Krankheit reden lässt.
Die beredte Sprachlosigkeit und Atemlosigkeit des Textes sagen mehr über die Grenzen des Sagbaren aus als so manch sprachphilosophischer Essay. Wenn man die Tagebuchaufzeichnungen heranzieht, scheint es offensichtlich, dass es sich um eine Aids-Parabel handelt; so jedenfalls wird die Geschichte rezipiert. Sontag selbst bestreitet den Zusammenhang. Vielleicht, weil sie fürchtet, sich selbst einer Metaphorisierung schuldig zu machen; einer, die dazu beiträgt, ein Tabuthema weiter zu verfestigen? In dieser Zeit verliebt sich Sontag in die Star-Fotografin Annie Leibovitz, die mit ihren legendären Porträts für »Rolling Stone« und »Vanity Fair« reich geworden ist. Wie Sontag sucht Leibovitz das Drama, das Extrem. Die beiden, so scheint es, sind die perfekte, wenn auch hochexplosive Verbindung zwischen Sprachmacht und Bildmacht. Sontags letzte feste Beziehung ist nicht weniger kompliziert als ihre früheren, aber sie wird ihre beständigste. Die großzügige Leibovitz ermöglicht der Kritikerin, deren Buchverkäufe trotz ihres Ruhms bescheiden ausfallen, einen mondänen Lebensstil. Das Paar zieht in zwei benachbarte Wohnungen in Manhattan. Leibovitz verschlingt Sontags Werke. Sie vergöttert und bemuttert Sontag, schenkt ihr Möbel und Kleider, gibt extravagante Dinnerpartys für sie; obwohl (oder gerade weil) sich Sontag ihr gegenüber – auch in Anwesenheit gemeinsamer Freunde – oft kalt, gar tyrannisch zeigt. Beide halten ihre Liebesbeziehung bis Sontags Tod geheim, nennen einander schlicht Freundinnen. In krassem Gegensatz zu Sontags New Yorker Jetset-Leben steht ihr Engagement während des Bosnienkriegs. 1992 reist ihr Sohn, inzwischen selbst Kritiker und politisch engagierter Journalist, in das belagerte Sarajevo, um die Weltöffentlichkeit über die dortigen Kriegsverbrechen zu informieren. David Rieff lernt den Produzenten und Theatermann Miro Purivatra kennen, der ihn bittet, Sontag nach Sarajevo zu holen. Seine Vision – gegen den Krieg und für die Kunst – ist ein internationales Filmfestival, und um dieses schrittweise zu realisieren, brauchte er prominente Unterstützung. Sontag kommt. Nicht nur einmal, sondern elfmal.

Sie wird Zeugin von unvorstellbarem menschlichen Leid, Armut und Tod. Sarajevo ist ein Ort, der sie nicht mehr loslässt. Ein Ort, an dem alle Themen ihres persönlichen und professionellen Lebens zusammenzulaufen scheinen: Realität und Abbild, Ethik und Ästhetik, Liebe und Tod, Macht und Ohnmacht. Sie stürzt sich in eine Arbeit, bei der es einmal nicht um ihre eigene Weiterentwicklung geht, sondern ganz einfach darum zu helfen. Zwar war sie schon während des Vietnamkriegs
nach Hanoi gereist, um ihren politischen Aktivismus zu beweisen, doch was sie in Sarajevo bewirkt, hat eine ganz andere Qualität. Ihre Gier nach intensivem Leben verkehrt sich nun in konsequenten Altruismus. Sie ist der erste internationale
Star, der öffentlich von »Genozid« spricht. Der erste, der die »enormous depoliticization of the Western intelligentsia« scharf verurteilt; die Gleichgültigkeit der reichen, saturierten Schriftsteller wie Kurt Vonnegut, Günter Grass und Hans Magnus Enzensberger, die, wie sie in einem Interview meint, tatenlos in ihren riesigen Apartments hockten.

Ihr Leben zu riskieren, um das Grauen zu artikulieren und andere dafür zu sensibilisieren, wird nun zu Sontags moralischem Imperativ – und zugleich zu einer Art Selbsttherapie. 1993 wird unter ihrer Regie in einem nur von Kerzenschein erleuchteten Theater der bosnischen Hauptstadt Samuel Becketts absurdes Stück »Warten auf Godot« aufgeführt; eine überaus passende Chiffre für die Situation und Gefühlslage der Belagerten. Sontag weiß, dass sie damit keine Leben retten kann. Aber sie kann der Welt mit den Mitteln der Kunst klarmachen, dass in Sarajevo nicht nur mittelalterliche Barbarei tobt, sondern dass es dort auch eine quicklebendige Kultur gibt; zivilisierte Menschen, die ums Überleben kämpfen, sich nach der Normalität eines Theater- oder Kinobesuchs sehnen.

DIE AUFKLÄRERISCHE MACHT DER BILDER DES KRIEGES

Mit ihrem Einsatz gibt Sontag den Bürgern Sarajevos wieder Hoffnung – und, so könnte man vermuten, sich selbst einen neuen Sinn. Annie Leibovitz porträtiert das Krankenhaus, wo Frauen mit mangelhafter medizinischer Versorgung Kinder zur Welt bringen, ein umgestürztes Fahrrad, einen Großvater mit seinem Enkel in ihrer Küche. Es sind unretuschierte Fotos, die wenig später (nur ein paar Seiten von Brad Pitt entfernt) in »Vanity Fair« erscheinen – und Millionen Lesern vor Augen
führen, was viele andere Medien nicht zeigen. »Photographing is essentially an act of non-intervention«, schrieb Sontag in »On Photography«. Nun erkennt sie an, dass Bilder auch eine notwendige aufklärerische Bedeutung haben können – und müssen.
2004 erkrankt Susan Sontag an Leukämie. Die Chemotherapie lässt ihr Gesicht anschwellen, zeigt aber sonst kaum Wirkung. Trost findet Sontag in ihren letzten Monaten bei alten Musicalfilmen. Am 28. Dezember stirbt sie. Zwei Jahre später erscheint ein großer Bildband von Annie Leibovitz, der Porträts der sterbenden und toten Sontag enthält. Auch diese schockierenden Fotos sind real und irreal zugleich. Und sie haben längst ein Eigenleben entwickelt. Es sind Metaphern einer Frau, deren Werk auf ambivalente Weise mit ihrem Mythos verbunden bleibt. •

Was es mit der Lichterkette (Bild) auf sich hat?

ZÄHLE ICH ZUR FRAKTION DER PORNO-KITSCH-FANATIKER ODER DER CAMP FETISCHISTEN? Diese Frage würden Sie sich selbst natürlich nie stellen! Sie sind ein kultivierter Mensch, der das Echte vom Unechten zu unterscheiden weiß und die Illusionsmaschinerie vorfabrizierter Effekte durchschaut. Wobei Sie zugeben müssen, dass Ihnen beim Anblick eines pinken Stoffhasen, der Ihnen neulich beim Ausmisten in die Hände fiel, die Tränen kamen. Wenn Sie ansonsten den ganzen Tag bis zur Besinnungslosigkeit in Zoom-Konferenzen hängen und Ihr einziges Hobby der Hometrainer ist, sind Sie abends natürlich völlig erschlafft. Kein Wunder, dass Sie sich dann gern auf YouPorn rumtreiben oder sich mit Schminkvideos die Birne zuknallen. Wenn das so ist, muss man Sie zu den (unbewussten) Porno-Kitsch-Fanatikern zählen, um deren Geistesleben es schlecht bestellt ist. Wenn Ihre Wohnung dagegen liebevoll mit strassbesetzten Dolly-Parton-Statuetten und originell platzierten bunten Lichterketten dekoriert ist, weil das natürlich ironisch gemeint ist, spricht viel dafür, dass Sie eine Camp-Fetischistin sind. Oder, wie Susan Sontag sagen würde: eine hochsensible Kunst-Erotikerin, die tiefgründig genug ist zu erkennen, dass es das wahre Echte nicht gibt. Nur in der völligen Abstraktion des wirklichen Lebens. Doch wer könnte diese schon aushalten?

 

 

 

 

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert