Die auf Lesbos lebende Journalistin Franziska Grillmeier reiste nach der Ausweitung von Putins Krieg auf die gesamte Ukraine an die Grenzen der Nachbarländer. In Ungarn, Polen und der Slowakei versuchte sie herauszufinden, welche Realitäten die Menschen nach der Flucht erwartet. Wir sprachen über die blinden Flecken Europas und die Gleichzeitigkeit von brutaler Gewalt an den Grenzen und einer schwankenden Solidaritätsbewegung.
Interview: Lena Frings
HOHE LUFT: Wie hast Du die Situation an den Grenzen wahrgenommen?
FRANZISKA GRILLMEIER: Unmittelbar an den Grenzen, wo die Leute mit einer Kiste oder einem Rucksack ankamen, war da diese große Stille. Es gibt dort eine Ruhe, obwohl hunderte Menschen an einem Ort sind, die ich auch in Moria oder Bangladesch in Flüchtlingslagern erlebt habe. Dabei war die Ruhe hier unmittelbarer: Die Menschen wirkten im Gegensatz zu den Lagern nicht in sich gekehrt, ihnen lag die Erfahrungen der letzten Stunden noch in den Gesichtern. Es gab noch keine Worte, um zu begreifen, wie viel man gerade hinter sich gelassen hatte. Es ist mir sehr wichtig zu betonen, dass ich die Situation, in der sich flüchtende Menschen befinden nur als jemand beschreiben kann, der das Privileg hat, zuhören zu können und nicht selbst betroffen zu sein. Deswegen ist all das was ich sage, eine Außenperspektive.
Erstmals in der Geschichte regelt die seit 2001 bestehende »Massenzustrom-Richtlinie« den Umgang mit Geflüchteten. Ukrainer:innen dürfen nun bis zu drei Jahren visumsfrei in der EU bleiben, ohne ein Asylverfahren durchlaufen zu müssen. Was ändert das konkret vor Ort?
Was mich wirklich am Anfang überwältigt hat, war dass die Situation an den Grenzübergängen einigermaßen zu funktionieren schien. An einem ungarischen Bahnhof, wirkte die humanitäre Hilfe sehr organisiert. Die Ankommenden wurden erstmal mit einem Käsebrot in Empfang genommen, aufgewärmt, zu ihrer Rechtssituation informiert und medizinisch versorgt, wenn es nötig war – so, wie es sein sollte. Dass das so ablaufen kann, liegt auch einfach daran, dass die Grenzen für Flüchtende aus der Ukraine offen sind. Auch, wenn sie ein paar Autostunden entfernt für andere Geflüchtete durch technologisierte Grenzmauern, Stacheldraht und Grenzpatrouillen, immer schwieriger zu überqueren sind. Dass nun alle 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einen schnellen Aufnahmemechanismus mittragen, war für mich eine der wenigen guten Nachrichten seit Kriegsbeginn. Es hat gezeigt, dass es möglich ist, nach internationalem Recht und demokratischen Werten fair und schnell zu handeln.
Hast Du Unterschiede je nach Landesgrenze erlebt?
Ein großer Unterschied lag in der Zahl der Geflüchteten, die mit Zügen, zu Fuß oder dem Auto die Grenze überquerten. Nach nur einer Woche waren schon über eine Millionen Menschen in Polen angekommen, während die Zahl in den anderen beiden Ländern noch bei etwa 100.000 Menschen lag.
Eine große Parallele war die unglaubliche Solidarität der lokalen Bevölkerung, worauf sich auch Hilfsorganisationen stützen konnten. Man hatte das Gefühl, dass die Leute in den Grenzregionen die eigene Angst vor einem grenzübergreifenden Krieg und die Erinnerung an die Sowjetische Besatzung in eine unglaubliche Hilfsbereitschaft umgeleitet haben. In Ungarn gab es Helfer, die ihren Job aufgegeben hatten, um rund um die Uhr bei Erstaufnahmezentren unterstützen zu können. Einer von ihnen sagte, dass die Ungarn nun endlich ihr wahres hilfsbereites Gesicht zeigen könnten, ein anderes als das der Orban-Regierung. Die Hilfsbereitschaft der Menschen lag auch an der unmittelbaren Nähe zum Krieg und kann manchmal auch als Übersprunghandlung gesehen werden, die sich schnell drehen kann, doch sie hat mich trotzdem tief berührt. Mit dem Blick auf die Migrationspolitik der Visegrád-Staaten, sollte man trotzdem keine rosarote Brille aufsetzen. Da beruhen die offenen Grenzen auf politischem Kalkül – Ungarn beispielsweise steht nur wenige Wochen vor der Wahl, da konnte sich Orban, der vor allem mit dem Thema Fluchtverhinderung in den Wahlkampf zieht, sich nicht gegen die große Solidaritätsbereitschaft der Zivilbevölkerung widersetzen.
Siehst Du in der aktuell erlebten Hilfsbereitschaft auch eine Wandlung darin, wie mit Geflüchteten generell umgegangen wird?
Während Flüchtende an den ukrainischen Grenzen zurecht mit einer Bohnensuppe und freien Zugtickets empfangen werden, werden Flüchtende aus dem Irak, Afghanistan oder Somalia nur ein paar Stunden von der ukrainischen Grenze entfernt zu Opfer von systematischer Misshandlung durch Grenzschützerinnen. Während gerade über drei Millionen Menschen rechtmäßig Schutz suchen in Europa, haben wir gleichzeitig eine Situation an den europäischen Außengrenzen, die andere Menschen in Todesgefahr bringt, um sie von der Flucht nach Europa abzuschrecken. Diese Gleichzeitigkeit der Fluchtbewegungen an Europas Grenzen zeigte sich auch an dem Morgen, an dem ich von der Insel Lesbos aus nach Ungarn aufbrach. Bei meiner Taxifahrt zum Flughafen kam ich an einem Küstenstreifen vorbei, an dem gerade sieben geflüchtete Menschen von der Polizei tot geborgen wurden, nachdem sie an dem Küstenstreifen angespült worden waren. Für sie gab es keinen legalen Weg, um in Europa um Asyl anzufragen. Sie alle kamen aus Somalia oder Äthiopien und wurden zwei Wochen später von der eigenen Gemeinde, ohne Obduktion auf der Insel begraben.
Wie wird ihr Weg nach Europa verhindert?
In Polen wird beispielsweise gerade an der belarussischen Grenze für über 300 Millionen Euro eine neue Mauer gebaut. Seit dem 2. September darf niemand die Sperrzone an der Grenze betreten – ausgenommen polnische Soldaten. Journalist:innen, Ärzte und Anwälte können damit nicht zu Geflüchteten durchkommen, die eventuell in Lebensgefahr feststecken. Ähnliches passiert in anderen Grenzregionen. Die Europäischen Außengrenzen haben sich für Geflüchtete immer mehr zu einer rechtlichen Parallelwelt entwickelt. Es wird zunehmend in Überwachungstechnologie investiert und Flüchtende werden in abstrusen Gerichtsverfahren in Griechenland beispielsweise der „Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt“ über 50 Jahren Haft verurteilt, und währenddessen führen die Behörden, illegale Pushbacks durch die oft folgenlos bleiben. »Pushback« war Unwort des Jahres 2021, da es diese brutalen Praktiken verharmlost.
Was genau heißt Pushback?
Pushback bedeutet, dass Flüchtende zurückgedrängt werden, bevor sie einen Antrag auf Asyl stellen können. Sie sind Teil der harten Abschreckungsarchitektur, die sich in den letzten Jahren an den Europäischen Grenzen immer weiter brutalisiert hat. Auf dem Meer bedeutet es, dass beispielsweise Boote mit Geflüchteten daran gehindert werden, weiterzufahren, indem – wie stapelweise Beweismaterial und investigative Recherchen über die letzten Jahre zeigen konnte – die Küstenwache zum Teil ins Wasser schießt oder mit größeren Booten Wellen erzeugt, die sie zurück in türkisches Gewässer treibt. Haben die Menschen einmal das Land erreicht, werden sie auch hier teilweise von Grenzschützer:innen aufgegriffen, auf aufblasbare orangene Rettungsinseln gebracht und mit einem Strick wieder hinaus auf das offene Meer gezogen. Betroffen berichten auch, dass sie sich die zuvor in verlassenen Scheunen ausziehen mussten, sie zum Teil geschlagen werden und und ihnen auch die Handys abgenommen werden, um die Situation nicht dokumentieren zu können. Einmal zurück auf dem Meer wird die Leine gekappt, und die Frauen, Männer und Kinder sind wieder sich selbst überlassen Die Schauplätze dieser Praktiken, von denen laut Organisationen wie dem Danish Refugee Council oder Human Rights Watch, über die Hälfte gewaltvoll verlaufen, sind alle Grenzregionen zwischen Bosnien und Herzegowina und Kroatien, zwischen Belarus und Polen, Griechenland und der Türkei oder Libyen und Italien.
Dabei gibt es doch eigentlich ein Recht auf Asyl?
Klar, aber das wird in den letzten Jahren gezielt ausgehebelt. Die Länder argumentieren, sie würden ihre Grenzen schützen, gleichzeigt heißt das eine kollektive, illegale Ausweisung von Menschen, die Asyl beantragen wollen. Das eigentliche Problem ist, dass diese Rückführungen in diesen Schattenräumen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit verläuft, womit sie immer brutaler werden. Diese Doppelfunktion an den Grenzen zwingt Menschen auf immer gefährlichere Routen. Statt dass man sich in Europa hinstellt und sagt, wir lassen keine Person, die in Europa Schutz sucht mehr durch, wird das Recht auf Asyl über diese brutalen Umwege ausgehebelt.
Was bringt das Verbergen ans Licht?
Migration ist die Geschichte unserer Zeit. Es gibt natürlich eine Dringlichkeit bei Kriegsgeflüchteten – wie gerade aus der Ukraine. Dennoch muss man diese Gleichzeitigkeit der Fluchtbewegungen betrachten. Wir müssen aus einem weiten Winkel darauf schauen. Es geht leider nicht immer darum, was man erlebt hat, um in Europa Asyl zu bekommen. Es ist eine schockierende Erfahrung der letzten Wochen, aber auch leider sehr vorhersehbar war, dass man Menschen unterteilt. Es legt soziale Ungleichheit und diskriminierenden sowie rassistische Strukturen auf erschreckende Weise offen, indem es aufzeigt, wer gesehen wird und wer im Verborgenen bleibt.
Was ist am Begriff der Fluchtkrise problematisch?
Der Begriff der Krise ist irreführend. Da er nicht nur den Mensch auf der Flucht als grundsätzliches Problem markiert, sondern auch suggeriert, dass die Europäer:innen betroffen sind. Dabei sind es in erster Linie mal jene Menschen, die flüchten müssen.
Was sind typische Momente einer Fluchterfahrung?
Menschen inmitten einer plötzlichen Fluchterfahrung erzählen oft davon, dass sie die Entwurzelung wie einen erleben einen Bruch empfinden, für den sie eine neue Sprache finden müssen. Von zwei Frauen hörte ich bereits, dass es sich anfühlte, als würde sich ein Vorhang schließen und nicht mehr aufgehen. Menschen erinnern sich oft daran wer sie waren und versuchen plötzlich zu verstehen, wer sie über Nacht geworden sind. So werden beispielsweise junge Menschen plötzlich zum Familienoberhaupt, weil sie als einzige in Englisch sprechen und sich mit Grenzschützern oder Bahnhofswärtern unterhalten können, um die Familie vorwärtszubringen. Es kann auch einen Bruch mit der Kindheit bedeuten. Die innere und äußere Landschaft verändert sich, manchmal über Nacht.
Gibt es weitere Gemeinsamkeiten der Fluchterfahrung?
Ab dem Moment, wo man sein Haus verlässt und sich auf den Weg macht, gibt man die Kontrolle über sich und sein Leben ab. Man gibt sich in die Hände von staatlichen Institutionen, die unantastbar bleiben hinter irgendwelchen Glasplatten und Hochhausfassaden, die dein eigenes Leben in der Hand haben und die Zukunft auch. Was dem inhärent ist, ist die Erfahrung, plötzlich abhängig zu sein.
»Wer war ich zuvor?«, diese Frage spielt auch in dem Sinne eine Rolle, dass Menschen nun ständig von außen definiert und durchleuchtet werde. Behörden und auch andere Menschen fragen immer wieder, wer man ist und warum man hier ist. Auch als Journalistin stelle ich mir häufig die Frage, was ich in Leuten auslöse, indem ich sie erneut vor einen Fragenkatalog stelle.
Wie gehst Du bei deiner Arbeit vor?
Für mich bedeutet ein Gespräch zu führen, sich Zeit zu nehmen. Auch, wenn das manchmal Wochen dauern kann. Natürlich ist das an einem Ungarischen Bahnhof nicht möglich, aber dann stehe ich auch ehrlich gesagt oft etwas verlegen herum oder setze mich in eine Ecke am Bahnhof und komme bei einem gemeinsamen Tee mit einer Familie ins Gespräch. Journalistin zu sein heißt für mich auch, Verantwortung für die Gefühle der Menschen zu übernehmen, das ist nicht immer ganz einfach, weil wir auch viel Trauma auslösen können. Manchmal reicht es auch, gemeinsam ein Überraschungsei auszupacken oder zu schweigen. Wenn ich jemandem sofort ein Mikrofon unter die Nase halte, bekomme ich nur den Schatten einer Person mit. Dabei ist mir klar, dass es ein Privileg ist, dass ich mir diese Zeit in meiner freien Arbeit nehmen kann.
Glaubst du, dass die Erfahrung, Menschen gerade an den Bahnhöfen direkt zu sehen, auch ein Gefühl der Solidarität stärkt?
Natürlich hat das einen großen Effekt auf das eigene Handeln, wenn man Menschen direkt sieht. Da sitzt auf einmal ein Mensch vor dir, der die Schlagzeile eines vermeintlich fernen Krieges verkörpert. Es ist viel stärker als ein Fernsehbericht, wenn du sich plötzlich mit jemandem konfrontiert siehst, der dir erzählt, was passiert ist und mit dem du dir ein Croissant am Bahnhof teilst. Darin liegt auch die Kraft der Kommunikation. Gerade deswegen ist es so schmerzhaft zu sehen, dass Menschen teilweise jahrelang in Haftanstalten oder Fluchtlagern verschwinden, zu denen kaum mehr jemand Zugang hat.