Autor: HOHE LUFT Magazin

Über die Grenzen

Die auf Lesbos lebende Journalistin Franziska Grillmeier reiste nach der Ausweitung von Putins Krieg auf die gesamte Ukraine an die Grenzen der Nachbarländer. In Ungarn, Polen und der Slowakei versuchte sie herauszufinden, welche Realitäten die Menschen nach der Flucht erwartet. Wir sprachen über die blinden Flecken Europas und die Gleichzeitigkeit von brutaler Gewalt an den Grenzen und einer schwankenden Solidaritätsbewegung. Interview: Lena Frings HOHE LUFT: Wie hast Du die Situation an den Grenzen wahrgenommen? FRANZISKA GRILLMEIER: Unmittelbar an den Grenzen, wo die Leute mit einer Kiste oder einem Rucksack ankamen, war da diese große Stille. Es gibt dort eine Ruhe, obwohl hunderte Menschen an einem Ort sind, die ich auch in Moria oder Bangladesch in Flüchtlingslagern erlebt habe. Dabei war die Ruhe hier unmittelbarer: Die Menschen wirkten im Gegensatz zu den Lagern nicht in sich gekehrt, ihnen lag die Erfahrungen der letzten Stunden noch in den Gesichtern. Es gab noch keine Worte, um zu begreifen, wie viel man gerade hinter sich gelassen hatte. Es ist mir sehr wichtig zu betonen, dass ich die Situation, in …

Das Geheimnis der Macht

Macht begegnet uns überall. Im Job, auf der Straße. In der Politik, in der Ehe. Vielen ist das unheimlich. Die Macht hat keinen guten Ruf. Die Frage ist: muss das so sein? Ein Polizist, der einen Ladendieb festnimmt. Der Krieg zwischen Israelis und Palästinensern. Ein Internetkonzern, der die Suchergebnisse der Nutzer bestimmt. Ein Chef, der für den nächsten Bericht die Deadline auf Montagmorgen setzt – und der Angestellte, der dagegen protestiert. Ein Ehekrach um die Arbeitszeiten der Frau. Ein Vater, der geduldig versucht, seinem kleinen Kind Tischmanieren beizubringen. All das hat eines gemeinsam: Es geht um Macht. Wo Menschen zusammenleben, üben sie Macht aufeinander aus. Doch viele von uns finden das nicht gut. »Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe«, schreibt etwa der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) in seinen »Weltgeschichtlichen Betrachtungen«. Und weiter: »Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier, und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muss also andere unglücklich machen.« Man redet vom Willen zur Macht, nicht von der Liebe zur Macht. Macht wird bewundert, nicht …

Die neue HOHE LUFT ist da! Was können wir noch glauben?

Wir haben diese Ausgabe noch vor der »Zeitenwende« konzipiert; als Menschen noch nicht aus der Ukraine flohen, kämpfen mussten, einander verloren oder in Kellern Schutz suchten. Viele der von uns behandelten Themen, wie der »Widerstand«, die »Demokratie«, die »Sucht nach mehr« oder auch die »Freundschaft« klingen nun anders und erhalten im besten Fall eine weitere Bedeutungsebene. Und gerade die Frage »Was können wir noch glauben« scheint in einer Zeit, wo die Wahrheit sich wieder zwischen Ost und West zu teilen scheint, unglaublich relevant. Solltet Ihr dennoch die ein oder andere Zeile angesichts der aktuellen Situation als unpassend empfinden, bitten wir dafür um Entschuldigung. ⁠ ⁠ Wir wünschen Euch viel Kraft in diesen unruhigen Zeiten und von Herzen alles Gute.

Was es heißt, etwas zu »müssen«

Es liegt etwas in der Luft… … Es ist der Rauch über den Häusern von Kiew, Charkiw und Mariupol. Es ist das Entsetzen über diesen grauenhaften Krieg. Es ist die bange Frage, was den Mann im Kreml noch stoppen kann. Es ist die blanke Angst vor allem, was womöglich noch kommt. Es ist aber auch die Bewunderung für all jene, die sich dem brutalen Angriff auf die Ukraine todesmutig entgegenstellen. „Jeder von uns stirbt irgendwann,” sagte der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko im Interview mit »Bild«-Reporter Paul Ronzheimer: »Als ehemaliger Soldat habe ich gespürt: Wenn mein Land mein Leben braucht, dann muss ich mein Land verteidigen. Und wenn es nötig wird: Mit meinem Leben zahlen.« Klitschko verteidigt sein Land, wie sein Bruder Wladimir und viele andere, weil er es »muss«, wie er selbst sagt – weil er nicht anders kann. Er tut es nicht einfach nur aus Pflicht. Er tut es aus innerer Überzeugung, aus einer »willentlichen Notwendigkeit«, wie es der Philosoph Harry Frankfurt nennt. Das ist kein törichter männlicher Heroismus. Es geht viel mehr darum, für …

Spirituelle Apokalypse

Der russische Nationalist Alexander Dugin erklärt dem Westen den Krieg. Er beruft sich auf Martin Heidegger und den italienischen Esoteriker Julius Evola. Dahinter steckt das gefährliche Projekt einer geistig-politischen Totalumwälzung – ein ontologischer Faschismus. Text: Thomas Vašek Alexander Geljewitsch Dugin hasst Amerika, den Westen, die moderne Welt, die für ihn immer mehr in Nihilismus und Dekadenz versinkt. Der 60-jährige Philosoph und Politologe träumt von einem wiedererstarkten Russland, das dem Siegeszug westlicher Werte Einhalt gebieten soll. Er beruft sich gern auf Martin Heidegger. Den Menschen im verkommenen Westen sage Heidegger nichts mehr, schreibt Dugin: Daher kann er zu uns sprechen. Dugins zweite Leitfigur ist in Deutschland bislang weniger bekannt. Es ist der italienische Kulturphilosoph und Esoteriker Julius Evola – ein protofaschistischer Rassentheoretiker und Antisemit, der die SS als heldenhaften Eliteorden verehrte, eine faschistische Rassenlehre entwickelte und ein Vorwort zu den »Protokollen der Weisen von Zion« schrieb. Der Philosoph Alexander Geljewitsch träumt von einem wieder erstarkten Russland, das dem Siegeszug westlicher Werte Einhalt gebieten soll. Dugin, Heidegger, Evola – ein auf den ersten Blick seltsames Gespann. Da ist …

Was ist guter Sex?

Noch nie war die sexuelle Freiheit so groß. Aber was ist überhaupt Sex? Was heißt es, guten Sex zu haben? Und was bedeutet das für unser monogames Beziehungsmodell? Text: Thomas Vašek Sex ist überall, in allen Variationen. Man kann ihn kaufen, einschlägige Klubs besuchen oder sich im Netz spontan dazu verabreden. Und wenn einem das zu kompliziert ist, macht man es sich einfach selbst. So frei wie heute war der Sex noch nie. Ob hetero oder schwul, bi- oder pansexuell, monogam oder promiskuitiv: Alles geht. Erlaubt ist, was gefällt, mit den Ausnahmen sexuelle Gewalt, Inzest und Pädophilie. Ansonsten kann jeder Sex haben – nach eigenen Neigungen, nach eigenem Geschmack. Heutige Sexratgeber geben keine Unterweisungen mehr, geschweige denn moralische Belehrungen, eher empfiehlt man Mut zur Grenzverletzung, zum fantasievollen, tabulosen Spiel. Die sexuelle Revolution hat uns von vielen ungesunden Zwängen befreit. Aber die grenzenlose Freiheit wirft auch neue Fragen auf. Sie alle haben zu tun mit der Bedeutung des Sex für unser Leben, für unsere Beziehungen mit anderen. Was drückt Sex eigentlich aus? Was ist guter Sex, …

Zwischen den Zeilen

Kann man jemanden lieben und begehren, den man noch nie gesehen hat? Jemanden verstehen, mit dem man nur getextet, bloß Worte getauscht hat? Und wenn ja, was hat all dies zu bedeuten? Eine philosophische Erzählung Text: Lena Frings Über Monate hinweg warst du mein ständiger Begleiter: mein Dialogpartner im Smartphone, immer in meiner Hosentasche, ganz nah an meinem Körper. Doch der Abend, an dem sich alles veränderte, ja, ins Absurde steigerte, war vielleicht der nach meiner Logikklausur. Die Semesterferien lagen weit und leer vor mir, die Last der letzten Abgaben hinter mir. Nach der apollinischen Ordnung der letzten Tage hatte ich, bis zu meiner Verabredung am Abend, endlich wieder Zeit, die ich gedankenlos vertrödeln konnte. »Schick mir mal ein bisschen Musik«, schrieb ich dir. Du schicktest ein Unplugged-Album von Ms. Lauryn Hill. Ich schloss deine Musik an meine Bluetooth- Box an und ließ die Vibes durch meine leere Wohnung klingen. »Damn, ist sehr nice. Danke«, schrieb ich. Von dir kam zurück: »I know 😉 Lust, mit mir zu tanzen?« Ich musste schmunzeln. Wir waren uns …

Intellektueller und moralischer Bankrott. Der Kern der sogenannten Missbrauchskrise.

Wieder förderte ein Gutachten neue Missbrauchsskandale innerhalb der katholischen Kirche zutage. Wieder vertuscht durch die eigenen Reihen. Wie kann das sein? Doris Reisinger wirft einen kritischen Blick auf die katholische Kirche – den, einer Kennerin der innersten Strukturen, und den, einer starken Frau, die den Überblick behält. Text: Doris Reisinger Seit 12 Jahren dauert die sogenannte Missbrauchskrise in Deutschland nun schon an. Inzwischen ist die Öffentlichkeit so an die Thematik und die zu ihr gehörenden Vokabeln gewöhnt, dass die Frage, was hier eigentlich geschieht, nur selten gestellt wird. Ein Blick zurück, auf den Wandel der Narrative, mit denen über diese Thematik gesprochen wurde, wirft ein Licht auf die Tiefenschichten eines ebenso langsamen wie schmerzlichen Erkenntnisprozesses. Mitte der 90er Jahre, lange vor Ausbruch dessen, was heute Missbrauchskrise genannt wird, gingen die ersten überregionalen Schlagzeilen zum Thema durch die Presse. Da haftete ihm noch etwas Anrüchiges an. Damals bemühten einige katholische Bischöfe sogar den Begriff der Kirchenverfolgung: Als der Wiener Erzbischof und Kardinal Groër des sexuellen Kindesmissbrauchs beschuldigt wurde, zog nicht nur der damalige Wiener Koadjutor-Erzbischof Christoph …

Die Freiheit, die wir meinen

Freiheit schien uns lange selbstverständlich. Heute ist der Begriff umkämpft. Doch was ist Freiheit überhaupt? Was macht sie so wertvoll? Text: Thomas Vašek Der chinesische Künstler Ai Weiwei ist alles andere als ein freier Mensch. Seit einem Jahr steht er unter Hausarrest. Er darf seine Wohnung nur kurz und unter strenger Aufsicht verlassen. Die Geheimpolizei baute vor seinem Haus  berwachungskameras auf. Doch Ai Weiwei nahm sich die Freiheit. Im März installierte er selbst vier Kameras, die rund um die Uhr Bilder ins Internet übertrugen. Auf seiner Website sah man ihn beim Arbeiten, beim Essen, beim Schlafen. Ein paar Tage ging es so, bis die Behörden seine Seite sperrten. Mit seiner Selbstüberwachung protestierte er gegen die Berwachung durch das Regime. Ai Weiwei kann sich nicht frei bewegen. Doch seine Bilder gingen um die ganze Welt. Trotz seiner Unfreiheit, so scheint es, handelte er freier als viele andere. Aber was ist dann Freiheit? Bedeutet Freisein nur, von niemandem eingeschr nkt zu werden? Oder erfordert Freiheit mehr? Wird uns die Freiheit gegeben – oder müssen wir sie uns nehmen? …

Belügt mich mein Job?

Ein stressiges Arbeitsjahr liegt hinter uns – und auch 2022 werden unsere jobbezogenen ToDo’s kaum weniger werden. Wissen Sie, warum Sie tun, was Sie tun? Bereitet Ihnen Ihre Arbeit Freude? Die heutige Arbeitswelt verspricht Selbstverwirklichung, Freiheit, Sinn. Doch ist das, was heute unter dem Schlagwort „Purpose“ läuft, allzu oft bloß geschicktes Marketing. Im Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe von HOHE LUFT gehen wir daher der Beziehung von Arbeit und Lüge, Schein und Sein nach. Belügt mich mein Job?, fragen wir – und analysieren aus interdisziplinären Blickwinkeln, was sinnvolle Arbeit ausmacht; und was tatsächlich „Fake Work“ ist. Dazu gibt im großen Schwerpunkt-Interview die Arbeitssoziologin Sabine Pfeiffer Auskunft über die Aktualität der Kapitalismuskritik von Karl Marx. Außerdem im Heft: der ergreifende Essay eines 15-jährigen Schülers über seinen an Demenz erkrankten Vater; ein Porträt der Schriftstellerin und Philosophin Iris Murdoch; ein sehr persönlicher Bericht über die lebensnotwendige Funktion der Hoffung; Antworten der ehemaligen BUNTE-Chefredakteurin Patricia Riekel auf die Frage: „Was ist Macht?“. Sowie: ein großes Interview mit dem im Silicon Valley lebenden, sportbegeisterten Stanford-Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht über KI, …