Patrick Bahners hat in der FAZ die Philosophin und Chefredakteurin des Philosophie-Magazins, Svenja Flaßpöhler, dafür kritisiert, wie sie sich „an Habermas abarbeitet“. Sie würde ihm in unzähligen Interviews etwas vorwerfen, was sie jedoch nicht belegen kann. „Das wäre auch nicht möglich, denn Flaßpöhler stellt Habermas auf den Kopf.“ behauptet Bahners. Ist das wirklich so?
Bahners zitiert mehr als ein halbes Dutzend Stellen, in denen Flaßpöhler in der Tat immer das Gleiche über Habermas wiederholt. In einer Version lautet die Behauptung: „Zur Kerneinsicht seiner deliberativen Demokratietheorie gehört, dass nur zum öffentlichen Diskurs zugelassen wird, was ,vernünftig‘ ist.“
Für Bahners bedeutet das offenbar, Flaßpöhler würde Habermas die Forderung unterstellen, dass am Eingang zum Diskurs eine „Zugangskontrolle mit dem Philosophen als Türsteher“ stattfindet, welche dafür sorgt, dass die Unvernünftigen draußen bleiben. Das hat Habermas natürlich nicht gefordert, aber das behauptet Flaßpöhler auch nicht.
Was ist vernünftig?
Wenn Bahners meint
Vernünftig an der demokratischen Entscheidung aufgrund von gemeinschaftlicher Überlegung ist für Habermas das Verfahren, und zwar genau dann, wenn es die Kriterien der Öffentlichkeit und Offenheit erfüllt.
irrt er sich allerdings auch, genauer, er verkürzt (mit dem „genau dann, wenn“) Habermas‘ Kriterienkatalog für die Vernünftigkeit der Entscheidung in einem wichtigen Punkt, und das ist genau der Punkt, auf den es Flaßpöhler offenbar ankommt.
Was Habermas für den Diskurs nämlich fordert, ist, dass der zwanglose Zwang des Arguments gilt und dass im Diskurs Informationen und Gründe gegeben werden. Die Diskursteilnehmer müssen Argumente akzeptieren, und wenn nach Gründen gefragt wird, dann müssen sie bereit sein, Gründe zu geben. Diese wiederum müssen einer ganzen Reihe allgemein von akzeptierten Kriterien entsprechen – kurz – sie müssen vernünftig sein.
Beim genauen Lesen der Flaßpöhler-Zitate, die Bahners anführt, fällt auf, dass sie nie sagt, Habermas würde nur vernünftige Menschen zum Diskurs zulassen – was sie behauptet ist, dass Habermas nur „das zulassen möchte, was vernünftig“ (sprich: wohl begründet) ist, das also, was mit Argumenten und Gründen verteidigt werden kann. Lassen sich dafür wirklich keine Belege bei Habermas finden?
Natürlich schließt Habermas niemanden aus dem Diskurs von vornherein aus, man muss keine Befähigung zum herrschaftsfreien Diskurs nachweisen, bevor man in die Diskussion einsteigen darf. Was Habermas aber ausschließen will, sind unvernünftige, weil unbegründete oder nach den allgemeinen Gründen nicht begründbare Beiträge. Was er fordert, sind Argumentationen, er will
dass kommunikativ handelnde Personen in günstigen kommunikativen Arrangements umstrittene Geltungsansprüche klären, voneinander lernen und Probleme lösen können (Habermas 2008, 149)
Habermas selbst ist sich im Klaren darüber, dass „Argumentationen … ziemlich anspruchsvolle Formen der Kommunikation“ sind (ebd.). Aber er ist optimistisch:
Sobald sie sich miteinander über etwas verständigen wollen, können die Beteiligten gar nicht anders, als für ihre Äußerungen gegenseitig Geltungsansprüche zu erheben. Damit behaupten sie implizit, dass das, was sie sagen, als wahr oder richtig oder wahrhaftig, in jedem Fall als vernünftig akzeptiert werden kann und dass das Gesagte, wenn es problematisiert wird, in diesen Hinsichten rational begründet werden kann. (ebd.)
Exkurs: Diskurs unter den Bedingungen der Massenkommunikation
Es ist bemerkenswert, was aus der Einsicht, wie anspruchsvoll die Voraussetzungen des deliberative Modells sind, bei Habermas wird, wenn er sich der politischen Öffentlichkeit unter den Bedingungen „mediengestützter Massenkommunikation“ (ebd., 155) zuwendet. Aus der Gemeinschaft der prinzipiell Gleichen, die deliberativ im Austausch von Argumenten Zielstellungen erarbeiten, die für alle akzeptabel sind, wird eine stark geschichtete Gesellschaft aus drei Ebenen:
- Die institutionalisierten Diskursen der Regierung, der Verwaltung, der Parlamente und Gerichte.
- Die mediengestützte Massenkommunikation, in der Eliten diskutieren und auf das Publikum einwirken, dass im besten Falle „reflektiert“.
- Die Kommunikation unter Adressaten in der Zivilgesellschaft.
Habermas hält es für möglich, wenn auch für schwierig, dass
Deliberation die Filterfunktion erfüllen (kann), welche die Vermutung begründet, dass die politische Willensbildung aus den trüben Fluten der politischen Kommunikation die vernünftigen Elemente der Meinungsbildung herausfischt. (ebd. 165)
Er macht sich offenbar keine Illusionen darüber, dass dies sehr schwierig ist, zumal er im weiteren verschiedene Akteure am Werke sieht, die durch Manipulation die Meinungsbildung des Publikums, der Adressaten, so beeinflussen, dass deren „Input“ nicht mehr zur Vernünftigkeit des Ergebnisses beiträgt. Bahners irrt, wenn er meint, Habermas‘ praktische Ratschläge zur Dethematisierung der rechten Agenda seien losgelöst von seiner Demokratietheorie zu betrachten – sie sind die logische Konsequenz aus dieser Theorie, die zeigen will, wie die Vernünftigkeit des Ergebnisses des politischen Prozesses gerettet werden kann. Dass das möglich sei, will Habermas auch unter den Bedingungen der Massenkommunikation zeigen:
Nach Maßgabe des deliberativen Modells sollen Diskurse … die Vermutung begründen, dass … die Alternativen, die sich herausschälen, argumentativ geprüft und entsprechend evaluiert werden; und die rational motivierten Stellungnahmen für verfahrensgerecht erzielte Entscheidungen den Ausschlag geben. (ebd. 167)
In diesem „Herausfischen“ des Vernünftigen aus den „trüben Fluten der Kommunikation“ aber besteht umgekehrt das Ausschließen des Unvernünftigen, des Unbegründeten, dessen, das nicht durch Argumente gestützt wird oder nicht gestützt werden kann. Das Unvernünftige wird in der Tat zwar zunächst zum Diskurs zugelassen – da formuliert Flaßpöhler etwas ungenau – aber das Verfahren der Deliberation, die Regeln und Normen, die Habermas dafür vorsieht, sorgen dafür, dass das Unvernünftige wieder herausgedrängt wird. Praktisch dürfte dieses Herausfischen des Vernünftigen oft im Ausschließen der Unvernünftigen bestehen. Wenn man liest, wie Habermas sich den (Nicht-)Umgang mit Vertretern der rechten Agenda vorstellt, wird klar, dass auch er die Privilegierung des Vernünftigen wenn notwendig durch den praktischen Ausschluss derer erreichen will, die in der bisherigen Praxis als die Unvernünftigen ausgemacht worden sind.
Gegen die Privilegierung der Rationalität
Habermas will die Unvernünftigen nicht vor die Tür setzen, bevor der Diskurs überhaupt beginnt. Aber er will den Diskurs so gestalten, dass das Unvernünftige (und damit die Unvernünftigen) keinen Chance bekommen, am Ergebnis mitzuwirken. Das ist es, wogegen sich Flaßpöhler wendet. Mit Verweis auf Chantal Mouffe setzt sie dem das agonistische Demokratie-Modell entgegen, bei dem es nicht darauf ankommt, dass die einen die anderen mit vernünftigen Gründen überzeugen, sondern bei dem die einen über die anderen auf Zeit herrschen können, ohne dass es zur Katastrophe, zum Blutvergießen kommt. Akzeptabel ist das für die Unterlegenen, weil sie wissen, dass die Gesellschaft so verfasst ist, dass auch sie prinzipiell wieder an die Macht kommen können.
In ihrer kritischen Analyse des Habermas’schen Modells stellt Chantal Mouffe fest:
Mit ihrer Privilegierung von Rationalität ignorieren deliberative und aggregative Perspektiven ein zentrales Element: die wesentliche Rolle, die Leidenschaften und Affekte für die Sicherung der Loyalität gegenüber demokratischen Werten spielen. (Mouffe 2008, 98)
Mouffe hat mit ihrem agonistischen Modell eine überzeugende, wenn auch überraschende Alternative entwickelt.
Es sind eben nicht immer die „rationalen Argumente“ die Menschen überzeugen, und sie sind auch nicht immer bereit, für ihre Ängste und Hoffnungen mit rationalen Argumenten zu werben. Deshalb schließt eine Demokratie, die dafür sorgen würde, dass „die rational motivierten Stellungnahmen für verfahrensgerecht erzielte Entscheidungen den Ausschlag geben“ eben diejenigen aus, die sich diesem Prinzip nicht unterordnen wollen. Darauf weist Flaßpöhler zu Recht immer wieder hin.
„Vernunft“ zu fordern, schließt eben am Ende und im Kern diejenigen aus, die nicht „vernünftig“ sein wollen. Auch was „vernünftig“ ist, ist Gegenstand der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. Deshalb ist das deliberative Demokratiemodell am Ende eben doch eines, in dem die, die die Definitionsmacht über den Sinn von „Vernünftigkeit“ haben, diejenigen von der Macht ausschließen, die sich dieser Vernünftigkeit nicht unterwerfen wollen.
Jörg Phil Friedrich lebt und arbeitet in Münster (Westf.). Zuletzt erschien sein Buch Der plausible Gott.
Verweise
Patrick Bahners: Vor dem Diskurs steht kein Türsteher.
Jürgen Habermas: Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension? Empirische Forschung und normative Theorie. In Ders.: Ach, Europa. Frankfurt am Main 2008.
Chantal Mouffe: Das demokratische Paradox. Wien 2008.