Aktuell, HOHE LUFT, Kolumne, Onlinebeitrag
Kommentare 1

Im Alten Griechenland #3: Bei Heraklit

Ich entschied mich, einen Philosophen aufzusuchen, von dem ich schon viel gehört hatte: Heraklit. Mir war zu Ohren gekommen, dass er gesagt haben soll, dass alles fließt und dass man nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen könne. Der konnte ja unmöglich nur über sich selbst nachdenken, vermutete ich. Ich traf ihn als alten, offenbar ziemlich wohlhabenden Mann in Ephesos.

Da ich ihn nicht gleich mit der Sache mit dem Fluss behelligen wollte, fragte ich ihn – auch wenn ich schon befürchtete, dass seine Antwort der von Thales und Chilon ähneln würde – doch als erstes danach, womit er sich in seinem Philosophenleben denn am meisten beschäftigt hätte.

ἐδιζησάμην ἐμεωυτόν edizesámen emeouton

Das war seine Antwort. Ich hatte es ja befürchtet. Wieder tauchte dieses „ich selbst“ in dem Satz auf: ἐμεωυτόν bedeutete, wenn auch wieder in einem etwas anderen Dialekt, „mich selbst“ oder „mir selbst“. Aber was ist die Bedeutung von ἐδιζησάμην? Schnell schlug ich in meinen Wörterbüchern nach und fand, dass es zu διζημαι gehört, also bedeutet, dass man nach etwas sucht, indem man etwas ausforscht, durchsucht. Heraklits Antwort könnte also bedeuten, dass er sich selbst immer gesucht hat, oder auch, dass er sich selbst durchsucht, durchforscht hat. Oder beides, er hat sich selbst durchforscht und dabei sich selbst gesucht.

Aber warum waren die Philosophen alle so sehr an sich selbst interessiert? Ich fragte Heraklit einfach danach. Er antwortete bereitwillig

Ψυχῆζ ἐστι λογος ἑαυτὸν αὔξον Psyches esti logos heauton auxon.

Oh je! Da steckten nun gleich zwei besonders wichtige Wörter drin, die nicht so einfach zu verstehen waren, wie man auf den ersten Blick meinen konnte. Ψυχη kann man natürlich prima übersetzen, man muss es nur aussprechen: Psyche! Aber ich wusste, dass es für die Griechen eine umfassendere Bedeutung hatte: es war die Lebenskraft, der Lebensatem überhaupt. Eigentlich, wenn man genau darüber nachdenkt, genau in dem Sinne, wie wir noch heute von Lebenskraft oder Lebensfreude sprechen: das Seelische, das uns im Leben hält, das uns Mut macht und dazu bringt, unser Leben zu gestalten. Man sagt auch, dass einer seine Lebenskraft eingebüßt hat, wenn er mutlos geworden ist. Diese Lebenskraft sahen die Alten Griechen aber nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei den Tieren und anderen Lebewesen.

Das andere Wort, bei dem man sich leicht irren kann, ist λογος – wieder kann man es einfach aussprechen und meint schon, es zu verstehen: Logos. Aber sooft es einem begegnet, sooft merkt man, dass es eine ziemlich umfassende Bedeutung hat. Vielleicht war ich vor allem hier her gekommen, um herauszufinden, was Logos ist. Die Wörterbücher boten so vieles an: Rede, Erklärung, Begründung, Wort, Gedanke, Lehre, Argument.

Im Zusammenhang damit, dass mir Heraklit zuvor gesagt hatte, dass er sich als Philosoph vor allem selbst durchforscht, um sich zu suchen, schien mir der Satz aber plötzlich ganz verständlich: Er sagt doch, dass seine Lebenskraft sich dadurch mehrt (ἑαυτὸν αὔξον bedeutet ja „sich selbst mehren“), dass er sie durchdenkt, dass er sie zu erklären versucht, dass er sich Gedanken über sie macht!

Welche Psyche liegt näher als die eigene, um sie zu durchdenken? Und wenn das wiederum diese Psyche stärkt und mehrt, dann ist es natürlich eine gute Idee, genau das zu tun.

Ich beschloss, länger bei Heraklit zu bleiben und meine Seelenkraft bei ihm zu mehren – zumal ich ihn ja noch gar nicht nach diesem Fluss gefragt hatte, in den man angeblich nicht zweimal steigen konnte.

Jörg Phil Friedrich lebt in Münster (Westf.). Er schreibt Bücher und Artikel zu Fragen der Praktischen Philosophie. Wenn er nicht philosophiert, kümmert er sich um Software-Lösungen.

1 Kommentare

  1. Pingback: Im Alten Griechenland #4: Unerreichbare Grenzen

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert