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Im Alten Griechenland #2: Eine lakonische Aufforderung

In Sparta traf ich einen weisen Mann, der auch nicht viel gesprächiger war als Thales. Er hieß Chilon. Die Einsilbigkeit war in diesem Landstrich, der Lakonien genannt wurde, typisch. Die Leute lebten spartanisch und gaben lakonische Auskünfte.

Chilon war einer von ihnen und er sagte nicht viel. Also ich ihn fragte, was ich tun sollte, um ein weiser Mensch zu werden und die Welt zu verstehen, antwortete er nur:

Γνῶθι σαυτόν – Gnothi sauton!

Auch wenn Chilon einen anderen Dialekt als Thales sprach, brauchte ich gar nicht ins Wörterbuch zu schauen, um ihn zu verstehen. Γνῶθι gehört auch zum Verb γιγνώσκω (gignósko), das mich schon seit meinem Treffen mit Thales beschäftigte. „Verstehe oder erkenne dich selbst!“, „Lerne dich selbst kennen!“ – das war der Rat des weisen Chilon. Also genau das, was Thales als das Schwierigste bezeichnet hatte, sollte die Aufgabe sein?

So sehr ich überlegte, ich kam immer wieder zu dem Ergebnis, dass es eigentlich doch das Einfachste sein müsste, sich selbst kennenzulernen. Schließlich habe ich zu mir selbst den besten Zugang, ich kann mich am besten bei allem beobachten. Es ist allerdings kein Kinderspiel, denn man konnte sich über sich selbst täuschen, man konnte sich selbst etwas über sich selbst vormachen. Aber wenn man nur ehrlich zu sich selbst war – warum sollte es so schwer sein, sich selbst zu verstehen?

Als ich mich von Chilon verabschiedet hatte und ich mich gerade wieder auf den Weg machen wollte, sah ich zwei Leute, von denen der eine zum andren sagte

Γνῶθι καιρός – Gnothi kairós!

Ich wusste, dass es sich um eine Redewendung handelte, mit der der eine den anderen ermahnen wollte, den richtigen Zeitpunkt für eine Handlung oder Entscheidung nicht verstreichen zu lassen. Man könnte sie mit „Erkenne die Gelegenheit!“ übersetzen. Da wurde mir klar, dass γιγνώσκω (gignósko), als „erkennen“ natürlich einen etwas anderen Bedeutungs-Schwerpunkt hat als das Erkennen bei der Erkenntnis! Es ist z.B. das Erkennen einer anderen Person, einer Gelegenheit, eines Umstandes.

Sollte ich den Rat „Erkenne dich selbst“ eher so deuten, dass er mich auffordert, mich als mich selbst wahrzunehmen? Geht es gar nicht in erster Linie um die Ausforschung meiner Beweggründe und der Struktur meines „Selbst“, sondern eben erst mal darum, mit mir selbst so vertraut zu werden, dass ich mich in dem, was ich tue, denke, wünsche und fürchte, selbst erkenne? Natürlich ist das dann auch ein Verstehen, ein Selbst-Verstehen entsprechend meines richtig erkannten Selbstverständnisses. Irgendwie passte das auch wieder zu dem, was ich schon bei Thales gedacht hatte.

Auf jeden Fall war mir Chilons Rat nun sympathisch und plausibel. Wenn ich mich selbst verstehe, so dachte ich, dann verstehe ich ja schon mal einen Menschen, und da ich ein Mensch wie jeder andere bin, verstehe ich auf diese Weise auch die Menschen überhaupt besser. Das machte mir Mut, voller Vorfreude auf weitere Begegnungen setzte ich meine Reise fort.

Jörg Phil Friedrich ist Philosoph und IT-Unternehmer. Er lebt in Münster. Gerade erschienen ist sein Buch Der plausible Gott.

Chilons Aufforderung zur Selbsterkenntnis hat sich über die Jahrtausende zum geflügelten Wort entwickelt und sich bis heute gehalten. Es soll schon über dem Eingang zum Tempel des Appolon gestanden haben. Auch heute noch findet man es an vielen öffentlichen Orten. Das Foto oben wurde von Immanuel Giel in Ludwigshafen aufgenommen.

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