Alle Artikel in: HOHE LUFTpost

HOHE LUFTpost – Harmonie statt Philosophie

HOHE LUFTpost vom 12.06.2015: Harmonie statt Philosophie Deutschland hat einen kleinen Philosophie-Skandal: Die Veranstalter der Phil.Cologne, des Philosophie-Festivals in Köln, haben den australischen Philosophen Peter Singer ausgeladen, nachdem dieser in einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung einige provokante Dinge über den moralischen Status von Embryonen und Menschen mit Behinderung gesagt hatte. Singer fragte die Veranstalter: “Wie können sie sich als Philosophie-Festival bezeichnen, wenn sie zu ängstlich sind, Fragen zu diskutieren, die einige Menschen stören?” Und er hat recht. Diese Ausladung ist feige und armselig. Sie widerspricht dem Geist der Philosophie, zu der wesentlich der offene, undogmatische Diskurs gehört. Singer macht es sich mit seinen Thesen keineswegs leicht. Manchmal fällt es ihm selbst schwer zu akzeptieren, wohin seine konsequent utilitaristischen Argumente ihn führen. In Köln hätte es die Gelegenheit gegeben, mit ihm zu streiten. Aber offenbar liegt den Veranstaltern mehr an der Harmonie als an der Philosophie. – Tobias Hürter

HOHE LUFTpost – Milde Gaben, und schädliche

HOHE LUFTpost vom 05.06.2015: Milde Gaben, und schädliche Wenn ich einen bettelnden Menschen auf der Straße sehe, gebe ich manchmal was. Ein kleiner Schmeichler fürs Gewissen. Die zwei Euro sind ihm viel mehr wert als mir, sage ich mir. Doch das Gewissen bleibt nicht ungetrübt. Später fällt mir ein, dass ich mit meiner Spende das Betteln lukrativer gemacht habe, und damit Arbeit vergleichsweise weniger lukrativ. Ein guter Effekt und ein schädlicher. Welcher wiegt schwerer? Ich vermute, der schädliche. Wenn ich nämlich meine zwei Euro jemandem geben möchte, dem sie mehr wert sind, dann sollte ich sie jemandem geben, dem sie möglichst viel wert sind. Und das ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gerade dieser Bettler. Ich muss mich also aufraffen und jemanden suchen, dem sie noch mehr wert sind. Das ist nicht schwer in dieser Welt. Es bleibt also vernünftig, zu spenden. Aber nicht aus dem Handgelenk. – Tobias Hürter

HOHE LUFTpost – Gleich und gleich

HOHE LUFTpost vom 29.05.15: Gleich und gleich Die Iren haben sich per Volksentscheid für eine vollständige rechtliche Gleichstellung homo- sexueller Paare ausgesprochen – inklusive Ehe. 62 Prozent stimmten dafür, und das in einem stockkatholischen Land. Nach traditionellem Verständnis ist die Ehe eine Verbindung zwischen Mann und Frau zum Zweck der Fortpflanzung. Aber Traditionen verlaufen sich. Die Bedeutung von Begriffen verändert sich. Ein Telefon war früher ein elektrischer Fernsprech-Apparat mit Lautsprecher, Mikrofon und Kabel. Heute ist es ein funkvernetzter Kleincomputer für die Jackentasche. Die Technik schreitet voran. Und die Gesellschaft entwickelt sich. Familie, Arbeit, Regierung – wer diese Begriffe noch so versteht wie vor hundert Jahren, der hat was verschlafen. Ebenso bei der Ehe. Heute gibt es auch in traditionsbewussten Dörfern keine Ermahnung vom Pfarrer mehr, wenn in einer jungen Ehe mal ein Jahr lang kein neues Kind kommt. In Irland war Homosexualität bis 1993 strafbar. Nun soll sie also Verfassungsrang bekommen. Das ist kein Widerspruch, sondern Wandel. Auch Deutschland wäre bereit dafür. Das Grundgesetz schützt die Ehe, definiert sie aber nicht. Was wir als Ehe …

HOHE LUFTpost – Fliegen und ihre Gefühle

HOHE LUFTpost vom 22.05.15: Fliegen und ihre Gefühle Was geht in einer Fliege vor, auf die gerade ein Mensch einen Mordanschlag verübt hat? Auf den ersten Blick schwer zu sagen, man weiß ja nicht, wie es ist, eine Fliege zu sein. Nun aber haben sich Biologen mit dieser Frage in einem Paperbeschäftigt. Die Wissenschaftler haben Fliegen, die beim Fressen waren, mit bewegten Schatten aufgescheucht und ihr Verhalten beobachtet. Im Titel des Papers sprechen die Forscher noch vorsichtig von einem »anhaltenden Zustand defensiver Erregung«, doch im Paper selbst schreiben sie den Fliegen »primitive Emotionen« zu – ein Novum in der biologischen Forschung, die die Fliegen als pure Reiz-Reaktions-Maschinen zu betrachten pflegt. Ist es wirklich sinnvoll, so einfach gebauten Lebewesen Emotionen zuzusprechen? Ja! So wird ihr Verhalten verständlich. Sie schwirren aufgeregt umher, weil sie Angst um ihr Leben haben. Erst allmählich, eine Weile nach dem Reiz, beruhigen sie sich wieder. Natürlich wissen wir nicht sicher, was sie dabei empfinden. Aber das wissen wir, wenn man es ganz genau nimmt, bei unseren Mitmenschen auch nicht. Dennoch ist es vernünftig, …

HOHE LUFTpost – Wir Einwanderer

HOHE LUFTpost vom 15.05.15: Wir Einwanderer Menschen überqueren auf abenteuerlichen Gefährten das Mittelmeer von Afrika nach Europa. Dort werden sie von der angestammten Bevölkerung nicht mit offenen Armen empfangen. Man feindet sich an, aber man freundet sich auch an. Das Zusammentreffen löst einen gewaltigen Entwicklungssprung aus. Wann das war? Vermutlich so kam vor rund 50000 Jahren der Homo sapiens nach Europa, wo er auf den Neandertaler traf – und so kamen vor rund 500000 Jahren auch die Vorfahren des Neandertalers nach Europa. Was genau damals geschah, ist im Dunkel der Prähistorie verschwunden, aber über das Ergebnis können wir glücklich sein: Wir selbst sind das Ergebnis. Heute kommen wieder Menschen auf abenteuerlichen Gefährten über das Mittelmeer. Wieder mit glücklichem Ergebnis? Es hängt von uns ab. – Tobias Hürter

HOHE LUFTpost – Jetzt streikt’s aber

HOHE LUFTpost vom 08.05.15: Jetzt streikt’s aber Hat Sie der Streik der Lokführer auch betroffen? Meinen Wochenplan hat er durchkreuzt, und mich ziemlich genervt zurückgelassen, aber immerhin mit etwas Zeit zum Nachdenken. Lokführer und Piloten: Warum streiken immer wieder dieselben Berufsgruppen? Warum nicht mal – die Philosophen? »Die Wahrheitssuche steht still, bis unsere Forderungen erfüllt sind!« – »35 Stunden Grübeln pro Woche reicht!« – so eine philosophische Streikkundgebung wäre doch mal eine hübsche Abwechslung. Wird nicht passieren, klar. Der Rest der Welt kommt besser ohne Philosophen als ohne Lokführer aus, zumindest für ein paar Tage. Ich glaube aber, das ist nicht der eigentliche Grund. Philosophen können nicht so einfach streiken, weil die Philosophie nicht einfach ihr Job ist. Philosophie ist eine Haltung, die man nicht nach erfüllter Wochenarbeitszeit ablegt. Ein Lokführer, der keine Lok führt, ist immer noch er selbst. Ein Philosoph, der das Philosophieren lässt, ist nicht mehr ganz er selbst. Es gehört zu seinem Wesen. Darin sind Philosophen nicht einzigartig, gleiches gilt auch beispielsweise für Schriftsteller und Musiker – zwei weitere Berufe, die nicht für Streiks bekannt …

HOHE LUFTpost – Die Vergebung des Unentschuldbaren

HOHE LUFTpost vom 01.05.2015: Die Vergebung des Unentschuldbaren Während des Auschwitz-Prozesses in Lüneburg ereignete sich letzte Woche etwas Außergewöhnliches. Der angeklagte frühere SS-Mann Oskar Gröning bekannte sich »moralisch mitschuldig« und sagte: »Ich bitte um Vergebung.« Er bekam sie. Eva Kor, die das Konzentrationslager überlebt hat, reichte Gröning die Hand und sagte: »Ich habe den Nazis vergeben.« Kors Geste stieß auf Kritik. So äußerte Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Kommitee die Befürchtung, die Geste könne als »moralischer Freispruch und Abschlusserklärung« missverstanden werden. Ich bin anderer Ansicht. Es ist eine große, richtige Geste. Vergebung ist weder Freispruch noch Entschuldigung. Sie lässt die Schuld und die Verantwortung stehen und bietet dem Schuldigen dennoch an, in eine menschliche Beziehung zueinander zu treten. »Meine Vergebung spricht die Täter nicht frei«, sagte Kor und wandte sich an Gröning: »Ich hoffe, dass Sie und ich uns als ehemalige Gegner als Menschen begegnen können.« In der HOHE LUFTpost vom 13. Februar hatte ich geschrieben, dass ich die Fähigkeit, zu vergeben, an meinen Mitmenschen besonders hoch schätze. Und so hat Kor, die in Auschwitz ihre Familie verlor und …

HOHE LUFTpost – Von Weibchen, Männchen und anderen

HOHE LUFTpost vom 24.04.15: Von Weibchen, Männchen und anderen Viele Menschen betrachten sich entweder als Frau oder als Mann. Aber nicht alle. Manche Menschen fügen sich nicht in eine dieser zwei Geschlechter, sie sehen sich irgendwo dazwischen. Diese Menschen haben es nicht einfach, damit anerkannt zu werden. Manchmal werden sie diskriminiert. Zu fest verwurzelt sind die Geschlechterkategorien in unserem Denken. Und in unserer Sprache. Sonst aber spricht wenig für die simple Männlich-vs.-weiblich-Weltsicht. Viele Begriffe wechseln ihr Geschlecht von Sprache zu Sprache: »der Mond«, »la luna«, »die Sonne« und »il soleil« sind berühmte Beispiele. Auch bei Menschen ist die Sache komplizierter, als ein flüchtiger Blick zwischen ihre Beine suggeriert. So erfuhr kürzlich eine schwangere Australierin zufällig bei einer Untersuchung, dass ihr Körper genetisch gesehen überwiegend männlich ist: Die Zellen haben ein X- und ein Y-Chromosom statt zwei X-Chromosomen. Das Problem liegt also nicht bei denen, die sich irgendwo zwischen Mann und Frau sehen, sondern bei jenen, die kein Dazwischen kennen wollen. Die Geschlechter sind nicht so einfach – und die Polarität zwischen ihnen verliert nichts von …

HOHE LUFTpost – Mutterglück mit 65

HOHE LUFTpost vom 17.04.15: Mutterglück mit 65 Die 65-jährige Berlinerin Annegret R. wird Mutter, gleich vierfach, und Deutschland empört sich darüber. Sogar Reproduktionsmediziner schimpfen über das »Experiment am Leben« und nennen es eine »absolute Katastrophe«. Warum eigentlich? Diese Schwangerschaft sei »wider die Natur«, hört man immer wieder. Stimmt ja auch, die Einpflanzung von fremden, in-vitro-fertilisierten Eizellen ist alles andere als natürlich. Aber sie gehört nun mal zu den Möglichkeiten der Medizin. Unnatürlichkeit ist im Allgemeinen ein schlechtes Argument mit geringer ethischer Kraft. Unser heutiges Leben ist in vieler Hinsicht unnatürlich, und oft ist das gut so. R.’s Mutterglück zeigt, wie tief die Medizin inzwischen in das innerste Sanctum unserer Art, unsere Fortpflanzung, eingreifen kann. Das gibt uns neue Möglichkeiten, die neue Verantwortlichkeiten mit sich bringen. Dazu gehört zum Beispiel die Frage, wie Kinder, deren Mütter vom Alter her auch ihre Großmütter sein könnten, gut aufwachsen können – eine Frage übrigens, die auch immer mehr Mütter betrifft, die auf »natürlichem« Weg schwanger werden. Ich finde es interessanter und fruchbarer, sich diesen Fragen zu stellen, als sich …

HOHE LUFTpost – Die Dialektik des Fremdenhasses

HOHE LUFTpost vom 10.04.15: Die Dialektik des Fremdenhasses Wieder brennen Flüchtlingsunterkünfte in Deutschland. Nicht nur in Tröglitz. Die Zahl der Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen – im Osten wie im Westen. Laut einer neuen Studie der Universität Leipzig sind fremdenfeindliche Ansichten besonders in Sachsen-Anhalt verbreitet – und in Bayern, das sich selbst gern seiner Liberalität brüstet. Hat sich denn gar nichts getan seit der so unselig einseitigen Asyldebatte der 1990er Jahre? Doch, hat es. Neben den alten Vorurteilen wächst eine neue Kultur der Fremdenfreundlichkeit. Die Menschenrechtsorganisation Pro Asyl ist stark geworden, in vielen Städten sind lokale Initiativen entstanden, die Neuankömmlingen helfen. Oft war es gerade der schäbige Umgang mit Flüchtlingen, der sie wachsen ließ. Nun liegt es an der Politik: Welche Seite fördert sie, die Feindlichkeit oder die Freundlichkeit? Noch ist kein klarer Trend erkennbar. Noch ist nicht erkennbar, wohin die Dialektik des Fremdenhasses führt. – Tobias Hürter