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„Wenn ich mal groß bin, werde ich Philosoph.“

Unter den Berufswünschen von Kleinkindern belegt „Philosoph“ wohl eher einen der hinteren Plätze. Ist ja auch logisch: Philosophen tragen keine Uniform, und sie fahren auch nicht Bagger. Im Normalfall jedenfalls nicht. Aber was ist schon der Normalfall? Es ist ja nicht einmal eindeutig, wen man heutzutage als Philosoph betitelt. Die Antwort auf die Frage nach dem Beruf Philosoph sucht man traditionell an den Universitäten. Denn Philosophie zählt zu den klassischen Studienfächern. Allerdings werden nur die wenigsten Philosophiestudenten auch gleich als Philosophen bezeichnet. Nach dem Abschluss ergreifen sie die verschiedensten Berufe, und nur ein paar von ihnen versuchen ihr Glück in der Wissenschaft. Als Professoren lehren sie dann Philosophie und veröffentlichen fleißig neue Forschungsergebnisse. Aber ist der Beruf des Philosophie-Professors identisch mit dem des Philosophen?

Sekunden für die Ewigkeit

Heute in Genf entscheidet sich nicht weniger als die Zukunft der Zeit. Die Telekommunikationsbehörde der Vereinten Nationen berät über die Schaltsekunde: Alle paar Jahre halten die Hüter der Zeit für eine Sekunde die Uhren an, um sie im Gleichlauf mit der Sonne zu halten. Das könne die Computer durcheinanderbringen, befürchten die Gegner der Schaltsekunde und wollen sie deshalb tilgen. Eine Lappalie, die nur Pünktlichkeitsfanatiker interessiert, möchte man meinen. Aber tatsächlich geht es um das Wesen des Zeitbegriffs, und um noch mehr. Einst fanden unsere Vorfahren Orientierung und Verlässlichkeit im Lauf der Gestirne. Wir heute schauen kaum mehr auf zu den Sternen. Keine Zeit mehr. Die Maschinen geben den Takt vor. Update: Die Delegierten haben sich vertagt. Auf das Jahr 2015.

Warum Hans Magnus Enzensberger der nächste Bundespräsident werden sollte

Noch heißt unser Bundespräsident Christian Wulff. Aber die Situation ist so, dass man sich schon mal Gedanken machen darf, wer auf Wulff folgen könnte. Die Politiker der Regierungskoalition tun es bestimmt auch schon, auch wenn sie es leugnen, sie müssen es tun, und sie müssen es leugnen. Ein besserer Präsident, darüber dürfte weithin Einigkeit bestehen. Das ist ein bescheidenes Ziel. Ein richig guter Präsident. Schon schwieriger. Wir haben einen Vorschlag: Hans Magnus Enzensberger, Schriftsteller, wohnhaft in München. Dort bewohnt Enzensberger kein biederes Klinkerhaus, sondern eine höchstwahrscheinlich einwandfrei finanzierte Altbauwohnung. Er ist frei von der Hybris der Macht, von der Berufspolitiker wie Wulff vom Seitenscheitel bis zur Sohle durchtränkt sind. Der Unterschied zwischen Enzensberger und Wulff zeigt sich deutlich in ihrem Umgang mit ihren eigenen Fehlern.

Mensch Wulff: Ein Fall von Willensschwäche?

Was heißt es, Mensch zu sein? Fragen wir Christian Wulff. Als Bundespräsident müsse man „die Dinge so im Griff haben, dass einem das eben nicht passiert“, sagte er im Fernsehinterview zu seinem Anruf bei Bild-Chefredakteur Kai Diekmann: „Und trotzdem ist man Mensch, und man macht Fehler“. Darin muss man Wulff uneingeschränkt zustimmen. In der Tat: Menschen machen Fehler, sie schätzen Situationen falsch ein oder handeln schlicht unüberlegt. Der Bundespräsident hat sich für seinen „schweren Fehler“ entschuldigt, das macht ihn besonders menschlich. Zu denken gibt allerdings seine Begründung. Der Anruf bei Diekmann sei mit seinem „eigenen Amtsverständnis nicht vereinbar“, sagte Wulff: „Denn ich will natürlich besonnen, objektiv, neutral, mit Distanz als Bundespräsident agieren. Und ich möchte vor allem Respekt vor den Grundrechten, auch dem der Presse und Meinungsfreiheit haben (…).“ Zu Recht fragte der Interviewer nach: Wenn Wulff das alles wirklich will, wenn er davon so überzeugt ist – warum dann der fatale „Drohanruf“ in eigener Sache?

Ich übersetze, also denke ich

Ob Maschinen denken können, ist eine dieser Fragen, über die sich stundenlang mit Spaß diskutieren lässt, ohne weiterzukommen. Der britische Mathematiker Alan Turing schlug in den 1940er Jahren den berühmten, nach ihm benannten Test als Kriterium für denkende Maschinen vor: Eine Maschine kann denken, wenn sie sich in einem anonymisierten Dialog überzeugend als Mensch gerieren kann. Womit Turing allerdings nicht gerechnet hatte, ist die Gutgläubigkeit seiner Artgenossen. In Gesprächen neigen wir von vornherein dazu, das Gegenüber als Unseresgleichen zu betrachten. Das demonstrierte eindrucksvoll der amerikanische Informatiker Joseph Weizenbaum 1966 mit seinem simplen Programm Eliza, und das kann heute jeder im Internet am genial programmierten Cleverbot ausprobieren (www.cleverbot.com – siehe auch Hohe Luft, Seite 9). Beide sind definitiv nicht intelligent, tun aber im Gespräch überzeugend so. Deshalb hier ein Vorschlag für einen reformierten Turing-Test, der die Schwäche des alten Tests vermeidet: Eine Maschine kann denken, wenn sie Texte von einer natürlichen Sprache in die andere übersetzen kann. Um Texte zu übersetzen, muss man sie verstehen, und um sie zu verstehen, muss man denken können. Meine These …

Palliativpflege für Banken

Die Bundesregierung will den Bankenstabilisierungsfonds SoFFin wiederbeleben: Regierung plant Comeback des SoFFin (Tagesschau.de) Schon wieder Staatsgeld für Finanzinstitute. Das gefällt niemandem, und es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie es so weit kam, damit es irgendwann einmal nicht mehr so weit kommen muss. Die Finanzinstitute, so wie sie jetzt sind, leiden nicht an vorübergehenden Schwierigkeiten, sie haben ausgedient. Der SoFFin ist keine Therapie, er ist Palliativpflege. Lebensverlängerung für eine Branche, die so ohnehin nicht überleben wird. Wie war das nochmal mit dem Kapitalismus? Zu seinem Prinzip gehört das Schuldenmachen. Unternehmer bekommen Kapital von Banken und privaten Investoren, schaffen damit Produktionsmittel, verkaufen die produzierten Waren und vervielfachen damit das investierte Kapital. Am Ende hat jeder was davon, der Unternehmer, der Investor und die Käufer der Waren. Kapitalismus ist seinem Wesen nach gierig, er hat die Dynamik eines Flächenbrands. Das ist OK, solange es Flächen zu roden, solange es Raum für Wachstum gibt. Kapitalismus ist eine Wachstumsmaschine, er braucht Wachstum, um zu funktionieren, und er befeuert Wachstum. Das ungefähr ist also das Prinzip, nach dem der Kapitalismus funktioniert …

Schneller als die Theorie erlaubt

In der ersten Ausgabe von Hohe Luft beschäftigt sich ein kurzes Stück mit den verstörenden Experimenten mit Neutrinos, die das Fundament der Physik erschüttern. Die Neutrinos scheinen die Lichtgeschwindigkeit, das universelle Tempolimit der Physik, zu übertreffen. Viele Forscher glaubten an einen Messfehler. Teilchenphysiker am europäischen Forschungszentrum CERN haben die Messungen inzwischen verfeinert – und die Ergebnisse bestätigt. Es sieht also wirklich aus, als überträfen die Geisterteilchen das von Einstein gesetzte Limit. Wenn das stimmt, dann stehen die Grundlagen der Physik infrage. Aber, was nicht alle Kommentatoren bedenken, die Relativitätstheorie müsste nicht unbedingt korrigiert werden. Es könnte auch sein, dass die überlichtschnellen Teilchen ein Hinweis auf verborgene Raumstrukturen sind – auf zusätzliche Dimensionen des physikalischen Raums. Solche Extradimensionen könnten die Messungen erklären. Auch das wäre ein spannender Befund: der erste handfeste Hinweis darauf, dass der Raum mehr als drei Dimensionen hat. Es ist nur eine winzige Abweichung von dem, was theoretisch zu erwarten war. Aber es ist eines der spannendsten Messergebnisse der letzten Jahrzehnte in der Physik.

Die Lust am Original

Im größten Kunstfälscherprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte ist letzte Woche das Urteil gefallen. Der Fälscher Wolfgang Beltracchi muss sechs Jahre ins Gefängnis, seine Frau und seine Komplizen müssen ebenfalls jahrelang in Haft. Juristisch ist der Fall erledigt. Philosophisch bleiben Fragen: Was genau stört uns so sehr an Fälschungen? Warum haben wir so viel weniger Freude an ihnen als an Originalen? Die Beltracchis haben betrogen, das ist klar, aber irgendwie scheint ihr Betrug über andere Betrügereien hinauszugehen, sie haben nicht nur betrogen, sondern auch gefälscht. Was ist es, das ihnen jetzt so viel Aufmerksamkeit verschafft? Das sind Fragen, mit denen sich Soziologen und Psychologen seit langem beschäftigen. Eine gängige Antwort ist: Wir hängen an Originalen, weil wir Snobs sind. Originale haben einen sozial höheren Status als Imitate. Dieser höhere Status überträgt sich auf die Besitzer, und Status ist, was wir alle wollen. Unsere Versessenheit auf Originale sei nichts als ein kulturelles Konstrukt.

Neuromülltrennung

Ein Artikel in der New York Times hat in den letzten Tagen Furore gemacht: Is Neuroscience the Death of Free Will? Der amerikanische Philosoph Eddy Nahmias verteidigt das Konzept des freien Willens vehement gegen die Neurowissenschaft. Es ist ein Höhepunkt in einem bemerkenswerten Trend der letzten Monate: Die Neurowissenschaft wird derzeit auf Normalmaß zurecht gestutzt, nachdem sie 20 Jahre lang der große Hype war. Es ging richtig los, als Anfang der 1990er Jahre der amerikanische Präsident George W. Bush die „Dekade des Gehirns“ ausrief. Milliarden Dollar und Euro flossen in Forschungsprogramme und Hirnscanner. Wer sich früher „experimenteller Psychologe“ nannte, nennt sich jetzt Neurowissenschaftler. Das Versprechen war, dass die Hirnforschung entschlüsseln würde, wer wir sind, wie wir sind, und warum wir so sind. Mit ihren teuren Spielzeugen machten die Forscher sich auf die Suche nach Hirnmodulen für Lust, Logik und Lachen. Sie fanden Nervenzellen, die darauf spezialisiert sind, uns an Bill Clinton zu erinnern – wovon George W. Bush wohl nicht begeistert war.