Ein Artikel in der New York Times hat in den letzten Tagen Furore gemacht:
Is Neuroscience the Death of Free Will?
Der amerikanische Philosoph Eddy Nahmias verteidigt das Konzept des freien Willens vehement gegen die Neurowissenschaft. Es ist ein Höhepunkt in einem bemerkenswerten Trend der letzten Monate: Die Neurowissenschaft wird derzeit auf Normalmaß zurecht gestutzt, nachdem sie 20 Jahre lang der große Hype war.
Es ging richtig los, als Anfang der 1990er Jahre der amerikanische Präsident George W. Bush die „Dekade des Gehirns“ ausrief. Milliarden Dollar und Euro flossen in Forschungsprogramme und Hirnscanner. Wer sich früher „experimenteller Psychologe“ nannte, nennt sich jetzt Neurowissenschaftler. Das Versprechen war, dass die Hirnforschung entschlüsseln würde, wer wir sind, wie wir sind, und warum wir so sind. Mit ihren teuren Spielzeugen machten die Forscher sich auf die Suche nach Hirnmodulen für Lust, Logik und Lachen. Sie fanden Nervenzellen, die darauf spezialisiert sind, uns an Bill Clinton zu erinnern – wovon George W. Bush wohl nicht begeistert war.
Auch das uralte Rätsel des freien Willens dachten die Forscher mit ein paar Scans erledigen zu können, und man könnte sie verdächtigen, dass ihre Antwort schon feststand, bevor sie damit begannen: Freier Wille sei Quatsch. Nicht wir entscheiden, was wir tun, sondern unsere neuronalen Schaltkreise. „Wir scheinen aus eigenem freien Willen zu agieren“, sagt der amerikanische Neuroforscher Sam Harris, „das Problem ist aber, dass diese Ansicht unverträglich mit unserem Wissen über das Gehirn ist.“ Die Forscher schleuderten den Philosophenkauze die unbequeme Botschaft ins Gesicht, seit Jahrtausenden über ein Scheinproblem gegrübelt zu haben. Zum Glück kommt jetzt die Wissenschaft, schaut mal eben im Gehirn nach und rückt die Sache gerade.
Wie sich jetzt zeigt, sind es die Forscher, denen eine unbequeme Botschaft blüht. Sie haben es sich viel zu einfach gemacht mit dem freien Willen. Wenn man Willensfreiheit von vornherein so versteht, dass sie der Wissenschaft widerspricht, dann ist es natürlich einfach für Wissenschaftler, sie zu widerlegen. Der Neurowissenschaftler Read Montague definiert freien Willen als „die Idee, dass unsere Entscheidungen und Gedanken unabhängig von allem sind, was entfernt einem physikalischen Prozess ähnelt“. Da steckt die Widerlegung schon in der Definition. Aber das ist nicht, was wir meinen, wenn wir sagen, dass wir frei sind. Wir halten uns nicht für erhaben über die Naturgesetze. Willensfreiheit bedeutet, dass wir es sind, die entscheiden. Dass unsere Handlungen nicht reduzierbar oder erklärbar sind, ohne auf uns als Menschen Bezug zu nehmen – auf unsere Absichten, Neigungen, Gedanken und Gefühle.
Willensfreiheit, richtig definiert, widerspricht der Wissenschaft nicht. Es ist nur so, dass die Naturwissenschaft allein nicht die Mittel hat, die Willensfreiheit zu verstehen.Auch nachdenkliche Neurowissenschaftler sehen das ein. Zum Beispiel Michael Gazzaniga, der in seinem neuen Buch „Who is in Charge?“ argumentiert, dass der freie Wille in Begriffen von Neuronen und Synapsen nicht zu verstehen ist, ohne ihn bis zur Unkenntlichkeit zu verzerren. Er ist schlicht von einer anderen Kategorie als die Begriffe der Neuroforscher.
Nahmias‘ Plädoyer für den freien Willen in der New York Times ist alles andere als ein verzweifelter Gegenangriff auf die Hirnforschung. Es ist überzeugend, souverän, fast spielerisch. Und es lässt die Neurowissenschaft ziemlich alt aussehen. Gut so. 20 Jahre Hype sind genug.
Die unbequeme Wahrheit, mit der die Neurowissenschaft sich jetzt auseinandersetzen muss, geht weit über den freien Willen hinaus. Die fleißigen Gehirndurchleuchter müssen sich sagen lassen, dass alle ihre gefeierten Erkenntnisse kaum etwas dazu beigetragen haben, die tiefen Fragen über die menschliche Natur zu beantworten: Was ist Subjektivität? Warum haben wir ein Bewusstsein? Was ist das überhaupt, Bewusstsein? Die Befunde der Forscher haben oft das Muster: Wenn irgendwas im Bewusstsein passiert, dann passiert irgendwas im Gehirn. Überraschend ist das nicht, und nur manchmal erhellend. „Neurotrash“ nennt der britische Philosoph Raymond Tallis die Fließbandforschung aus den Scannern – in einem ähnlich despektierlichen Ton wie jener, den zuvor die Forscher für die Philosophen übrig hatten. Neuromüll. Jetzt wird er sortiert.
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