Haben Meinungen im Streit einen Geltungsanspruch? In dieser Serie ist schon mehrfach deutlich geworden, dass Meinungen immer eine persönliche Modulation durch die Person, die sich äußert, haben. Es ist meine Meinung, die ich äußere. Wenn man in einer Diskussion nachfragt, ob der andere sich sicher ist, dass es sich wirklich so verhält, wie er sagt, wird man oft die Antwort bekommen „Es ist meine Meinung!“. Meinungen werde selten mit dem Anspruch geäußert, dass jeder ihr zustimmen muss. Auch wenn Alice, die die Meinung äußert, dass „Trump ein Idiot ist“, sich sehr sicher ist, dass es sich so verhält, wird sie vermutlich nicht der Meinung sein, dass Bob zwingend zustimmen muss, schon gar nicht, dass ihre Argumente, mit denen sie ihre Meinung stützt, ihn zwingend überzeugen müssen.
Geltungsanspruch für mich
Alices Meinung gibt darüber Auskunft, wie sie die Welt sieht. Sie beansprucht keine Geltung in dem Sinne, dass Bob ihre Sicht teilen muss. Deshalb ist jede Argumentation, in der Bob dies behauptet, schon ein ungeeigneter Einstieg in den Streit, gesetzt, beide haben die Absicht, dem jeweils anderen ihre Meinung plausibel zu machen und womöglich sogar den anderen von der eigenen Meinung zu überzeugen und ihn in der bisherigen Überzeugung zu erschüttern. Wenn Bob, im Gegensatz zu Alice, der Meinung ist, Trump sei ein kluger Mann und ein guter Präsident, dann tun beide gut daran, wenn sie abgleichen, was für die eine und was für die andere Meinung spricht. Beide sollten darüber einig sein, dass es sein kann, dass sie beide irren.
Die Meinung, die ich äußere, gilt zunächst immer nur für mich selbst, sie hat einen Geltungsanspruch innerhalb meines Systems von Überzeugungen. Da ich sicher bin, dass ich selbst nicht dumm bin, und da ich vermute, vielleicht sogar durch Erfahrung ebenfalls sicher bin, dass andere ein ähnliches Überzeugungssystem haben, reicht der Geltungsanspruch meiner Überzeugung sozusagen auch ein Stück in die Gemeinschaft hinein, der ich mich zugehörig fühle. Das gilt nicht nur für die Überzeugungen selbst, sondern auch für die Begründungen, die ich gebe, und für die Methoden, mit denen ich Überzeugungen mit Gründen verteidige.
Ein ganzes Überzeugungssystem
Nehmen wir an, dass Alice ihre Meinung über Trump unter anderem mit dem Argument begründet, dass viele andere Trump ganz genauso einschätzen wie sie. Würde man daraus vermuten, dass Alice also der Meinung ist, dass alles stimmt, was viele so sehen, könnte man das wohl aus formalen argumentationslogischen Gründen zurückweisen. Eine solche Logik wird aber nicht unbedingt dem gerecht, was Alice hier sagt. Denn sie wendet ihr Argument ja nicht als allgemeine Schlussregel an. Sie kommt aus vielen Gründen zu ihrer Einschätzung über Trump. Sie hat schon mit vielen Leuten gesprochen, oder schon vielen zugehört, die zu einer ähnlichen Einschätzung gekommen sind. Zu diesen Menschen hat sie Vertrauen. Vermutlich hat sie schon öfter auf deren Urteil vertraut und ist damit gut zurecht gekommen. Zudem hat sie vielleicht einen Experten in einem Interview gehört, dessen Urteil in eine ähnliche Richtung ging, wie ihres. Das alles bestätigt sie in ihrem Urteil.
Wer Alices Urteil über Trump mit dem Hinweis entkräften will, dass das Urteil von vielen nicht unbedingt richtig ist, und dass auch Experten nicht als Autoritäten herangezogen werden können, hat eigentlich noch nichts geleistet. Auch nicht, wenn er lateinische Namen für so genannte „Fehlschlüsse“ nennt und diese abstrakt definieren kann. Er müsste vielmehr plausibel machen, warum Alice gerade in dieser Frage gerade auf diese Leute nicht hören sollte. Er müsste erklären können, warum es sein kann, dass Alice oft gut damit fährt, wenn sie die Urteile anderer Menschen als Stütze für eigene Urteile nimmt, dies aber in diesem konkreten Fall keine gute Idee ist. Er müsste sagen, warum Alice gerade diesem Experten in diesem Fall nicht trauen sollte, auch wenn es in anderen Fragen sinnvoll ist, Expertenmeinungen zu Rate zu ziehen.
Keine Fehlschlüsse
Damit wäre man tatsächlich in einem guten Streit angekommen. Dass es nicht immer richtig ist, eine Meinung zu übernehmen, nur weil eine große Zahl von Menschen sie vertreten, weiß Alice wahrscheinlich schon selbst. Der gute Streit muss sich darum drehen, warum es gerade in dieser Frage falsch sein könnte, wie er sich von anderen unterscheidet. Alice hat mit ihrem Vertrauen auf das Urteil anderer bisher gute Erfahrungen gemacht. Diese entkräftet man nicht, indem man behauptet, dass sie bisher einen „Fehlschluss“ verwendet, sondern damit, dass man über die konkreten Bedingungen des Falls diskutiert.
Wer meint, praktische Begründungsformeln als Fehlschlüsse diagnostizieren zu können, müsste im Gegenzug auch positiv Begründungsformeln für praktische Urteile, für Meinungen, die im Streit stehen, angeben können, und er müsste angeben können, was diese Begründungsformeln in solchen Situationen davor schützt, Fehlschlüsse zu sein. Solange das nicht geschieht, läuft er selbst Gefahr, von den anderen einen Fehlschluss zu fordern: Nämlich ihn als den Experten zu akzeptieren, der sich mit der Argumentationslogik nun einmal besser auskennt, und deshalb weiß, was richtig ist, und was nicht.
Im nächsten Teil dieser Serie wird genauer untersucht, was „Geltung“ bedeutet. Nach einem Ausflog in den wissenschaftlichen Streit kommen wir zum alltäglichen Streit über Politik, Wirtschaft und Sport zurück.
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