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Richtig streiten #9: Was heißt „Geltung“?

Als Reaktion auf den letzten Teil meiner Serie wurde unter Anderem gefragt, ob man tatsächlich annehmen kann, dass die Streitenden für ihre geäußerten Meinungen keine Geltung beanspruchen würden. Um diese Frage zu beantworten, kann man zwei Wege beschreiten: Zum einen wäre zu klären, was „Geltung beanspruchen“ eigentlich bedeutet, dazu muss natürlich gefragt werden, was Geltung heißt und was beanspruchen heißt. Zum anderen können wir überlegen, um was es wahrhaftigen und nachsichtigen Streitenden in einem Streit tatsächlich gehen kann – um anschließend zu prüfen, ob eines der gefunden Ziele als „Geltung beanspruchen“ bezeichnet werden kann. Dem ersten Weg ist dieser Teil gewidmet, im nächsten Teil geht es um den zweiten Weg.

„Geltung beanspruchen“ in der Theorie

Was „Geltung“ heißt, kann man ohne Angabe des Kontextes, in dem das Wort verwendet wird, vermutlich nicht klären. Allerdings geben uns unstrittige Verwendungsweisen in bestimmten sozialen Bereichen Hinweise darauf, was das Wort in anderen Bereichen bedeuten könnte. Wir müssen also einen kleinen Umweg machen, um zur Bedeutung dieses Wortes im Streit vorzudringen.

Am einfachsten ist es in der Mathematik und in der theoretischen Physik. Wenn ich etwa sage: „In der Euklidischen Geometrie gelten die folgenden fünf Postulate:…“ dann ist damit gemeint, dass die Postulate zugleich definieren, was Euklidische Geometrie überhaupt ist. Sie beanspruchen ihre Geltung nicht, und niemand, der den obigen Satz ausspricht, beansprucht ihre Geltung in der Euklidischen Geometrie. Es ist einfach so, dass die Ablehnung der Geltung eines der Postulate sofort aus der Euklidischen Geometrie herausführen würde.

Ebenso ist es, wenn theoretische Physiker sagen, dass in der klassischen Mechanik die Newtonschen Gesetze gelten. Sobald man etwa in der Bewegungsgleichung die Konstante, die die Masse bezeichnet, durch eine Größe ersetzt, die sich mit der Geschwindigkeit verändert, verlässt man die klassische Mechanik und betritt womöglich die spezielle Relativitätstheorie.

Innerhalb eines theoretischen wissenschaftlichen Textes oder Gesprächs kann aber auch der Satz auftauchen: „In der Euklidischen Geometrie gilt, dass die Summe der Innenwinkel im Dreieck 180° beträgt“. Geltung bedeutet hier, dass der Satz zwingend aus den Axiomen folgt, und zwar sogar so zwingend, dass man den Satz selbst zum Axiom machen könnte, aus ihm würde dann, zusammen mit anderen Axiomen, das folgen, was wir für gewöhnlich als „die Axiome“ der Theorie ansehen.

Normalerweise würde eine Wissenschaftlerin wohl kaum sagen, dass sie innerhalb einer Theorie für einen Satz „Geltung beanspruchen“ – sie gelten einfach, sie lassen sich herleiten, und wenn das ein Kollege bestreitet, dann muss er zeigen, dass da ein Rechenfehler vorliegt. Da die Rechenmethoden in den mathematischen Wissenschaften klar definiert sind und Bestandteil der Theorie sind, ist dies auch möglich.

Geltung bei der Anwendung auf die Praxis

Versucht man, theoretische Konstruktionen mit experimentellen oder anderen empirischen Befunden zu verknüpfen, verwendet man auch manchmal den Begriff der Geltung. Man sagt etwa: „Für kleine Geschwindigkeiten gilt die Newtonsche Mechanik“ oder „in kleinen Raumbereichen gilt die euklidische Geometrie“. Forscher würden, darauf angesprochen, vielleicht ergänzen: „Natürlich gelten sie nicht im strengen Sinn“ und würden damit meinen, dass sich diese Sätze nicht zwingend aus den Axiomen der Theorie ergeben.

Allerdings ist die praktische Geltung doch stärker als man aus dieser Relativierung vermuten könnte. Stelle man sich vor, dass jemand, der den freien Fall eines Steins auf der Erdoberfläche untersucht, behaupten würde, dass er dazu die Gleichungen der speziellen Relativitätstheorie verwenden müsste. Daraufhin würden die Kollegen womöglich sagen: „In diesem System gilt die Newtonsche Mechanik, und es ist völlig unsinnig, hier mit der speziellen Relativitätstheorie zu hantieren!“ Geltung bedeutet dann: „Es gibt eine, genau eine, der Situation angemessene Theorie, und die ist es, die hier gilt!“ Hier kann man durchaus sagen, dass Wissenschaftler die Geltung einer Theorie (interessanterweise der Theorie, die die weniger allgemeine, weniger umfassende ist) beanspruchen. Sie würden nämlich, als Wissenschaftlergemeinschaft, denjenigen aus der Kommunikation auf Dauer ausschließen, der darauf beharrt, die „richtige“ aber im konkreten Fall unangemessene Theorie zu verwenden. Ebenso würde es vermutlich einem Ingenieur ergehen, der meint, für die Berechnung der Grundfläche eines Einfamilienhauses eine Nichteuklidische Geometrie verwendet mit der Begründung, dass die Erde, auf der das Haus steht, ja nun einmal keine Scheibe, sondern eine Kugel ist.

Experiment und Empirie

Wenn Wissenschaftler über die Ergebnisse ihrer experimentellen oder empirischen Resultate reden, verwenden sie das Wort „Geltung“ eher selten. Man „beobachtet Verhalten“, man „wiederholt Messungen“ und „kommt zu gleichen Resultaten“, man „bestätigt bisherige Annahmen“. Im Zusammenhang mit ihrer Arbeit begegnet uns das Wort „gelten“ dennoch oft, und zwar, wenn in den Medien über die Ergebnisse berichtet wird. Dann heißt es oft „Es gilt inzwischen unter Wissenschaftlern als erwiesen, dass…“. Diese Verwendung bedeutet dann, dass die Wissenschaftler über eine Hypothese einen (weitgehenden) Konsens hergestellt haben. Die Ergebnisse der Forscher sind so klar und (für diese Forscher) so überzeugend, dass sie Personen, die der Hypothese nicht zustimmen würden, aus der Gemeinschaft der Wissenschaftler ausschließen würden, es sei denn, sie bringen für die Ablehnung der Hypothese wiederum selbst plausible Argumente vor. In diesem Fall kann also tatsächlich von „Geltungsansprüchen“ gesprochen werden: Die Gemeinschaft beansprucht von ihren Mitgliedern, der Hypothese zuzustimmen, oder anderenfalls gute, in der Gemeinschaft akzeptierte Gründe vorzubringen, die der Hypothese widersprechen. (Ob die Wissenschaft wirklich so funktioniert, können wir dahingestellt sein lassen.)

Das Wort „Hypothese“ verwende ich hier, weil es sich zumeist um allgemeine Aussagen handelt, die nicht in einem theoretischen Sinne zwingend sind. Die Hochtemperatur-Supraleitung etwa galt schon lange vor ihrer theoretischen Begründung als erwiesen.

Geltungsanspruch im alltäglichen Streit

Damit sind wir nach einem großen Bogen wieder bei unserem eigentlichen Gegenstand, dem richtigen Streiten, angekommen, denn der wissenschaftliche Streit um die Deutung experimenteller und empirischer Ergebnisse ist ebenfalls ein Streit. Wenn es dort Geltungsansprüche gibt, warum nicht auch im alltäglichen Streit über Fußball, Politik oder Wirtschaft?

Man könnte fordern oder versuchen, auch den alltäglichen Streit wie einen Streit unter Wissenschaftlern zu beschreiben und überhaupt nur das als Streit zu akzeptieren sei. Das würde allerdings der sozialen Funktion des  alltäglichen Streits sowie seinen durchschnittlichen Eigenschaften nicht gerecht werden. Deshalb hilft es, die Unterschiede zwischen dem wissenschaftlichen Streit und dem alltäglichen Streit herauszustellen:

  • Wissenschaftler streiten auf der Basis einer weitgehend standardisierten Ausbildung in einem Fach über die Hypothesen des Fachs.
  • Die Informationen, die in den Argumentationen der Wissenschaftler wichtig sind, stehen den Beteiligten weitgehend unmittelbar und nicht medial vermittelt zur Verfügung.
  • Hinsichtlich dessen, was im Streit zum Gegenstand wird, haben Wissenschaftler keine Wünsche, Hoffnungen, Befürchtungen oder Sorgen.

Natürlich sind diese Annahmen über den wissenschaftlichen Streit in der Realität immer nur unvollkommen erfüllt. Es sind aber genau diese Voraussetzungen, die es ermöglichen, dass die Wissenschaftler einen Konsens über Hypothesen herstellen, der dann gilt. Stellen wir nun diesem idealen wissenschaftlichen Streit den alltäglichen Streit über Politik, Wirtschaft oder Sport gegenüber:

  • Es gibt kaum eine einheitliche Ausbildung oder zwingende Vorkenntnisse und Fertigkeiten für die Beteiligung am Streit.
  • Informationen, die Grundlagen für Argumentationen sind, stehen nur selten direkt und zumeist medial vermittelt zur Verfügung.
  • Wünsche, Hoffnungen, Befürchtungen oder Sorgen bezüglich des Streitgegenstandes sind zumeist der Grund, sich überhaupt am Streit zu beteiligen.

Dies alles sind Gründe, warum es im Alltagsstreit keine Geltungsansprüche geben kann. Wer wahrhaftig und nachsichtig streitet, verzichtet auch auf Geltungsansprüche. In konkreten Streitsituationen wird das auch durch die Betonung der eigenen Sicht („Ich meine“, „Das ist meine Meinung“, „Ich habe Angst, dass…“) signalisiert. Wir können also für ein besseres Verstehen der Logik des Streits ganz auf die Annahme verzichten, dass dort jemand Geltungsansprüche in irgendeinem hier beschrieben Sinne erhebt.

Im 10.Teil dieser Serie geht es um die Frage, warum wir überhaupt streiten.

Jörg Phil Friedrich lebt in Münster (Westf.). Er schreibt über Fragen der Praktischen Philosophie.

 

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