Reflexe #3: Woher willst du wissen, was ich empfinde?
17.01.2017 / Von: HOHE LUFT Magazin / Kategorie: Aktuell / Buchveröffentlichung / Kolumne / Wissenschaft
In der dritten Folge seiner Kolumne »Reflexe« befasst sich Jörg Friedrich mit dem Buch »Die Natur des Geistes« von Michael Pauen.
Michael Pauen hat sich in seinem neuen Buch viel vorgenommen. Der Titel verspricht, „Die Natur des Geistes“ zu erklären. Der Titel spielt mit der philosophischen Doppeldeutigkeit des Begriffs „Natur“, der im Deutschen ja zum einen so etwas wie „Wesen“ bedeutet, zum anderen aber die Welt meint, die uns umgibt, zumindest diejenige, die nicht durch die menschliche Technik und Phantasie geschaffen ist. Man könnte also erwarten, dass das Buch entweder das Wesen des Geistes bestimmt, oder aber den Geist als etwas natürliches erklärt, etwas, das zur Natur gehört und ganz natürlich verstanden werden kann. Pauen geht es vor allem um letzteres.
Wer kann wissen, was ich fühle?
Zwei bedenkenswerte Thesen stellt er an den Anfang seiner Überlegung: er meint, dass es falsch ist, Bewusstsein und Wissen miteinander zu identifizieren, wenn es um subjektive Erfahrungen geht. Zudem behauptet er, dass der Mensch zu seinen eigenen Erfahrungen gar nicht so einen direkten, unmittelbaren Zugang hat, wie er zunächst vielleicht meint. Beide Thesen werfen in der Tat ein interessantes Licht auf die „Natur des Geistes“, wenn wir Natur jetzt einmal in der ersten Bedeutung, als das Wesen der Sache nehmen.
Ein Beispiel: Stellen wir uns vor, Alice sagt zu Bob: „Ich habe im Laden ein blaues Kleid gesehen“. Nun kann Bob antworten: Du hast kein blaues Kleid gesehen, denn da war kein blaues Kleid! Woraufhin Alice empört reagiert und wütend antwortet: „Ich werde doch wohl besser wissen als du, was ich gesehen habe!“. Bob ist allerdings ein Besserwisser, er geht mit einem Gerät in den Laden, das objektiv die Farben von Kleidern bestimmen kann und zeigt Alice, dass es dort kein blaues Kleid gibt. Nun kann Alice antworten: Mag ja sein, dass dein Gerät das so feststellt, aber für mich sieht das Kleid blau aus, ich habe eine Blau-Erfahrung gemacht, als ich es gesehen habe. Bob hat jedoch noch ein Messgerät, mit dem er die neuronalen Prozesse in Alices Kopf messen kann. Und er kommt zu dem Ergebnis, dass diese Prozesse nicht mit denen übereinstimmen, die Alice sonst hat, wenn sie sagt, etwas sei blau. Also sagt Bob zu Alice: du hast keineswegs eine Blau-Erfahrung gemacht, ich hab es mit diesem Messinstrument überprüft.
Was, wenn Alice nun aber weiterhin darauf besteht, dass das Kleid blau war, dass es jedenfalls als sie blau ausgesehen hat? Dass sie weiß, dass sie ein blaues Kleid wahrgenommen hat? In dieser Geschichte steckt das ganze Problem, das Pauen lösen will. Die Lösung hat weit reichende Konsequenzen, und dabei ist die Frage, ob Alice und Bob Freunde bleiben können, noch das geringste Problem. Denn wir machen nicht nur Farberfahrungen, nicht nur Sinneserfahrungen, wir erfahren ja auch Angst, Leid oder Freude. Was wenn Alice sagt, sie habe keine Angst davor, auf einen Berg zu klettern, Bobs Messgerät aber anzeigt, dass Alice sehr wohl Angst hat? Lügt Alice dann notwendigerweise, oder ist sie vielleicht krank? Oder hat sie einfach keine Ahnung, was das Wort Angst bedeutet?