Jörg Friedrich sichtet für seine Kolumne »Reflexe« aktuelle philosophische Bücher und Strömungen. Dieses Mal: die politische Philosophie von Chantal Mouffe, von der zuletzt »Agonistik. Die Welt politisch denken« erschien. Eine ihrer Grundthesen besagt, Ausgangspunkt aller Politik sei der Widerspruch – und ein Konsens selten die geeignete Lösung.
Wer in der gegenwärtigen Welt Hilfe in der politischen Philosophie sucht, um Pegida und AfD, den Arabischen Frühling und die Occupy Bewegung oder den Wahlsieg Donald Trumps und den Brexit zu verstehen, dem seien die Bücher der Philosophin Chantal Mouffe dringend empfohlen. Ihr Werk ist politische Philosophie im besten Sinne des Wortes: es liefert prägnante Begriffe und grundsätzliche Thesen, mit denen sich die Nachrichten und Ereignisse aus der politischen Sphäre der Gesellschaft verständlich machen lassen. Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass Chantal Mouffe eine der wichtigsten Stimmen der gegenwärtigen politischen Philosophie überhaupt ist.
Und dabei ist das Attribut „politisch“ mit Bedacht klein geschrieben, denn das Werk der belgischen Philosophin, die heute in Westminster Politische Theorie lehrt, gehört nicht etwa schlicht zu einer distanzierten, der konkreten Welt fernen philosophischen Disziplin, es ist selbst eindringlich politisch, es ist bestimmt von politischen Zielen, die die Autorin unterstützen will. Das mag auf manchen, der sich selbst politisch an einem anderen Ort sieht, zunächst abschreckend wirken. Chantal Mouffe sieht sich ausdrücklich auf der linken Seite des politischen Spektrums, und sie wettert, wenn auch nicht konsequent und nicht ganz nachvollziehbar, gegen die Liberalen. Aber gerade, wer sich selbst als liberal betrachtet, sollte darüber hinweglesen und sich den philosophischen Konzepten der Autorin zuwenden. Es lohnt sich.
Der kleine Bruder des Antagonismus
Chantal Mouffe präsentiert ihr Werk nicht in dicken Wälzern, sondern in schmalen Büchlein, die wiederum aus mehr oder weniger eigenständigen Aufsätzen bestehen. Vielleicht sind die früheren Bücher „Das demokratische Paradox“ und „Über das Politische“ etwas leichter zugänglich als das zuletzt erschienene „Agonistik. Die Welt politisch denken“. Allerdings enthält dieses Buch, das 2013 geschrieben wurde und 2016 bereits in der zweiten Auflage in deutscher Sprache erschien, eine umfassende Reflexion über die Ereignisse des Arabischen Frühlings und rund um Occupy, und schon deshalb lohnt sich die Investition in dieses Buch.
Der zentrale Begriff der politischen Theorie Chantal Mouffes findet sich im Titel dieses jüngsten Bandes: Agonistik. Die Agonistik als politische Theorie beschreibt eine politische Gesellschaft, die von einer charakteristischen Form des Widerspruchs geprägt ist: Dem Agonismus. Der Agonismus ist sozusagen der kleine, mildere Bruder des Antagonismus. Aber im Politischen geht nichts ohne den Antagonismus.
Für Mouffe ist klar: der antagonistische Widerspruch ist notwendiger Ausgangspunkt für alles politische Handeln. Es gibt in der Gesellschaft grundsätzlich widersprüchliche Interessen, und diese Widersprüche können nicht hinwegdiskutiert oder rational aufgelöst werden. Nur durch eine Machtkonstellation, in der Interessengruppen über andere herrschen, können stabile gesellschaftliche Strukturen, wenigstens zeitweise, geschaffen werden, in denen sich alle Beteiligten halbwegs einrichten können.
Damit beginnt schon der Unterschied zwischen Antagonismus und Agonismus. Wird ein Widerspruch antagonistisch ausgetragen, dann muss der Konflikt mit der Vernichtung der einen Interessensgruppe enden. Politische Gegner sind in der antagonistischen Gesellschaft unversöhnliche Feinde, nur die Zerschlagung des Gegners als eigenständige politische Kraft kann den Widerspruch aus der Welt schaffen.
Wenn es jedoch gelingt, den Antagonismus in einen Agonismus umzuwandeln, dann werden aus den Feinden Kontrahenten. Diese erkennen die grundsätzliche Legitimität des Gegners und seiner Ziele an, auch wenn sie keinesfalls mit den eigenen Zielen in Übereinstimmung gebracht werden können. Der Kampf zwischen den beiden ist weder die Suche nach einem „tragfähigen Kompromiss“, noch die diskursive Herausarbeitung eines Konsens über die beste Lösung, es ist ein Machtkampf, in der der eine sich, wenigstens auf Zeit, gegen den anderen durchsetzt.
Kein Kompromiss und kein Konsens
Stellen wir uns vor, Alice und Bob wollen sich zusammen ein Auto kaufen. Alice möchte einen SUV haben, in dem sie ihre ganze Schiausrüstung verstauen und verschneite Bergwege hinauffahren kann, während Bob sich einen röhrenden Sportwagen wünscht, mit dem er bei Gelegenheit auf der linken Autobahnspur auch mal 300 km/h erreichen kann.
Alice hat viel Hannah Arendt gelesen und meint, man muss die Sache von allen Seiten betrachten, auch von Bobs Seite, und man wird dann schon irgendeinen Kompromiss finden. Ihr Kompromissvorschlag ist, dass Bob den SUV, der immerhin auch 220 km/h fährt, gern steuern darf, wenn sie gemeinsam in die Berge fahren, und sie würde dann auch nicht schimpfen. Bob kann das überhaupt nicht als Lösung akzeptieren, denn dass ein SUV kein Sportwagen ist, merkt man schon, wenn man sich reinsetzt, da braucht man gar nicht loszufahren. Außerdem hat Bob viel von Habermas gelernt und meint, dass man nur lange genug diskutieren müsste, dann würde man ganz herrschaftsfrei die richtige Lösung für das Problem finden. Er meint, diese Lösung würde darin bestehen, dass man das Schigepäck in die Berge, wenn man denn da überhaupt hin will, auch per Kurierdienst schicken könnte, und vor Ort gäbe es schließlich Mietwagen.
Sein Problem ist, dass Alice einen Bestseller über die Philosophie des Autofahrens geschrieben hat, während er sich mit dem Kolumnenschreiben über Wasser hält. Gerade hat sie von ihrem Verlag die Abrechnung über die letzten 100.000 Verkäufe ihres Buchs erhalten. Sie entscheidet, ohne lange Diskussion, den SUV zu kaufen. Bob bleibt die Hoffnung, irgendwann auch mal einen großen Hit auf den Markt zu bringen, von dessen Erlös er sich den Traum vom Sportwagen erfüllt.
Das Beispiel zeigt: Es gibt Konflikte, für die es weder einen Kompromiss noch eine rationale Lösung gibt. Bei diesen Konflikten ist es illusorisch, zu hoffen, dass es einen Weg gibt, dem schließlich alle zustimmen müssten, die guten Willens und bei Verstand sind. Chantal Mouffe ist sich sicher: Die politischen Konflikte sind im Wesentlichen von dieser Natur. Auch wenn Alice und Bob wechselseitig anerkennen, dass die Ziele und Wünsche des Anderen legitim sind: Sie sind mit den eigenen unvereinbar, es gibt keinen Kompromiss und keine Lösung im Konsens, es muss eine Entscheidung her, bei der zu seinem Recht kommt, der die Macht über die Ressourcen hat, in diesem Falle übers Geld.
Institutionen akzeptieren
Damit eine Gesellschaft, die von solchen Konflikten durchzogen und bestimmt ist, friedlich bleibt, müssen politische Institutionen geschaffen und erhalten werden, die das Austragen agonistischer Widersprüche ermöglichen. Zwei wichtige Voraussetzungen müssen diese Institutionen erfüllen: unterschiedliche politische Forderungen müssen in ihnen artikuliert und mit gewissen Erfolgsaussichten durch den Machtkampf vorangebracht werden können. Und es muss für den Unterlegenen die Möglichkeit geben, in Zukunft einen neuen Anlauf nehmen zu können, eine neue Chance im Kampf um die Macht zu erhalten.
Chantal Mouffe ist sicher, dass die repräsentative Demokratie grundsätzlich die geeigneten Mechanismen für diesen Machtkampf bereithält. Die Parlamente können das Schlachtfeld sein, auf dem die Kontrahenten gegeneinander antreten. Deshalb plädiert sie ausdrücklich gegen einen „Exodus aus den Institutionen“ und für eine „Auseinandersetzung mit den Institutionen“. Bewegungen wie Occupy können helfen, Forderungen zu artikulieren, die in den Parlamenten nicht vertreten werden – aber damit gerade in der komplexen modernen Gesellschaft diese Forderungen zu einer politischen Macht werden, müssen sie durch die Institutionen in die Parlamente gelangen.
Was für linke Projekte gilt, denen sich Mouffe verpflichtet fühlt, trifft natürlich auch für die rechte Seite des politischen Spektrums zu. Politik ist, das betont Mouffe, keine Frage der Moral, die Kategorien „Gut“ und „Böse“ spielen in ihr keine Rolle. Konsens allein ist, dass der politische Raum als Plattform der Auseinandersetzung von den Kontrahenten nicht in Frage gestellt wird. Wenn Chantal Mouffe von der notwendigen Bildung kollektiver Identitäten spricht, vom „Wir“ und vom „Sie“ dann muss das, auch wenn Mouffe das nicht ausdrücklich sagt, zweistufig gedacht werden. Damit Widersprüche agonistisch ausgetragen werden können, muss es erst einmal das Wir derer geben, die sich auf die Spielregeln der Politik einigen und diese akzeptieren. Keiner, der das tut, darf jedoch von anderen aus dem politischen Raum ausgeschlossen werden, nur weil man ihn moralisch ablehnt oder meint, er sei schlicht zu dumm, um rationale politische Lösungen zu finden oder zu verstehen. Innerhalb dieses Wir der politischen Kräfte, die sich gegenseitig akzeptieren gibt es dann die jeweiligen Identitäten der Kontrahenten, Konservative und Linke, Wirtschaftsliberale und Sozialisten, Grüne und Anhänger alter Industrien.
So gesehen muss man mit Chantal Mouffe auch den Einzug „rechter Kräfte“ in die Parlamente akzeptieren, solange diese die demokratischen Institutionen selbst nicht in Frage stellen. Allerdings, und das ist dann schon Teil der politischen Auseinandersetzung, ist zu klären, was alles zu den Institutionen zählt, die zu akzeptieren sind. Welche Formen der Presse- und Meinungsfreiheit gehören dazu? Wie weit geht die Unabhängigkeit der Gerichte und anderer öffentlicher Einrichtungen (Schulen, Universitäten, Notenbanken, …)? Der politische Machtkampf ist immer auch ein Ausgrenzungskampf von Gruppen, denen man Angriffe gegen die Institutionen der Demokratie zunächst ja auch unterstellt. Aber gerade diese Ausgrenzung kann am Ende dazu führen, dass das ganze System des Parlamentarismus nicht mehr auf genug Akzeptanz stößt.
Offene Fragen
Eine Reihe von Fragen bleiben offen bei Chantal Mouffe. Dazu gehört das Problem, wie sich eine überschaubare Anzahl von politischen Identitäten konstituieren soll, die der Parlamentarismus braucht, um einigermaßen gut zu funktionieren, wenn die politischen Probleme doch so vielfältig sind und die Komplexität der Gesellschaft nicht mehr mit den Begriffen „Volk“ und „Klasse“ abbilden lässt. Auch die Verzahnung von außerparlamentarischer Artikulation politischer Forderungen und parlamentarischem Machtkampf beschreibt Mouffe bisher nur fragmentarisch. Wie können neue Forderungen und Ziele in bestehenden Parteien zu zentralen Zielen des Machtkampfs werden? Wann und wie ist die Gründung und Etablierung neuer Parteien oder die Aufspaltung (vielleicht auch die Fusion) bestehender denkbar? Die letzten Jahre haben gezeigt, dass ein solcher Prozess schwierig ist. Welche Konsequenzen hat das?
Die politische Philosophie hat noch viel zu leisten, um hier einen Begriffsrahmen für das Verstehen der politischen Welt bereitzustellen, mit dem man der Praxis zu Leibe rücken kann. Chantal Mouffe hat dafür auf jeden Fall ein gutes Fundament geschaffen. Ob sich das Moralische und das Rationale aus dem Politischen wirklich ganz heraushalten lässt, wird sich zeigen. Oft genug wird ja auch nach guten und angemessenen Lösungen gesucht, wenn politisch diskutiert wird. Methodisch ist die Priorisierung des Machtkampfs der unvereinbaren Interessen aber ein wichtiger Ansatz.
Jörg Friedrich lebt in Münster und ist Philosoph und IT-Unternehmer. Er schreibt und spricht vor allem über technik-und wissenschaftsphilosophische Themen und Fragen der praktischen Philosophie (Ethik, politische Philosophie, philosophische Ästhetik). In seiner monatlichen Kolumne »Reflexe« reflektiert er über einen aktuellen philosophischen Ansatz und lädt zum kritischen Weiterdenken ein.
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