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Reflexe #3: Woher willst du wissen, was ich empfinde?

In der dritten Folge seiner Kolumne »Reflexe« befasst sich Jörg Friedrich mit dem Buch »Die Natur des Geistes« von Michael Pauen

Michael Pauen hat sich in seinem neuen Buch viel vorgenommen. Der Titel verspricht, „Die Natur des Geistes“ zu erklären. Der Titel spielt mit der philosophischen Doppeldeutigkeit des Begriffs „Natur“, der im Deutschen ja zum einen so etwas wie „Wesen“ bedeutet, zum anderen aber die Welt meint, die uns umgibt, zumindest diejenige, die nicht durch die menschliche Technik und Phantasie geschaffen ist. Man könnte also erwarten, dass das Buch entweder das Wesen des Geistes bestimmt, oder aber den Geist als etwas natürliches erklärt, etwas, das zur Natur gehört und ganz natürlich verstanden werden kann. Pauen geht es vor allem um letzteres.

Wer kann wissen, was ich fühle?

Zwei bedenkenswerte Thesen stellt er an den Anfang seiner Überlegung: er meint, dass es falsch ist, Bewusstsein und Wissen miteinander zu identifizieren, wenn es um subjektive Erfahrungen geht. Zudem behauptet er, dass der Mensch zu seinen eigenen Erfahrungen gar nicht so einen direkten, unmittelbaren Zugang hat, wie er zunächst vielleicht meint. Beide Thesen werfen in der Tat ein interessantes Licht auf die „Natur des Geistes“, wenn wir Natur jetzt einmal in der ersten Bedeutung, als das Wesen der Sache nehmen.

Ein Beispiel: Stellen wir uns vor, Alice sagt zu Bob: „Ich habe im Laden ein blaues Kleid gesehen“. Nun kann Bob antworten: Du hast kein blaues Kleid gesehen, denn da war kein blaues Kleid! Woraufhin Alice empört reagiert und wütend antwortet: „Ich werde doch wohl besser wissen als du, was ich gesehen habe!“. Bob ist allerdings ein Besserwisser, er geht mit einem Gerät in den Laden, das objektiv die Farben von Kleidern bestimmen kann und zeigt Alice, dass es dort kein blaues Kleid gibt. Nun kann Alice antworten: Mag ja sein, dass dein Gerät das so feststellt, aber für mich sieht das Kleid blau aus, ich habe eine Blau-Erfahrung gemacht, als ich es gesehen habe. Bob hat jedoch noch ein Messgerät, mit dem er die neuronalen Prozesse in Alices Kopf messen kann. Und er kommt zu dem Ergebnis, dass diese Prozesse nicht mit denen übereinstimmen, die Alice sonst hat, wenn sie sagt, etwas sei blau. Also sagt Bob zu Alice: du hast keineswegs eine Blau-Erfahrung gemacht, ich hab es mit diesem Messinstrument überprüft.

Was, wenn Alice nun aber weiterhin darauf besteht, dass das Kleid blau war, dass es jedenfalls als sie blau ausgesehen hat? Dass sie weiß, dass sie ein blaues Kleid wahrgenommen hat? In dieser Geschichte steckt das ganze Problem, das Pauen lösen will. Die Lösung hat weit reichende Konsequenzen, und dabei ist die Frage, ob Alice und Bob Freunde bleiben können, noch das geringste Problem. Denn wir machen nicht nur Farberfahrungen, nicht nur Sinneserfahrungen, wir erfahren ja auch Angst, Leid oder Freude. Was wenn Alice sagt, sie habe keine Angst davor, auf einen Berg zu klettern, Bobs Messgerät aber anzeigt, dass Alice sehr wohl Angst hat? Lügt Alice dann notwendigerweise, oder ist sie vielleicht krank? Oder hat sie einfach keine Ahnung, was das Wort Angst bedeutet?

Pauen will in seinem Buch letztlich darauf hinaus, dass Alice nicht besser weiß als Bob, ob sie eine Blau-Erfahrung gemacht hat, als sie jenes Kleid gesehen hat. Dazu stellt er, wie gesagt, zwei von Alices Selbstverständlichkeiten in der kleinen Geschichte in Frage.
Zum einen sagt Pauen, dass es nicht das gleiche ist, eine bewusste Erfahrung zu machen, und zu wissen, dass man diese Erfahrung gemacht hat. Er will dabei auf folgendes hinaus: Natürlich bleibt die Farberfahrung die von Alice, nur sie hat tatsächlich diese Erfahrung gemacht. Aber das Wissen über ihre Erfahrung können auch andere haben, Bob kann sagen, dass er weiß, welche Farberfahrung Alice gemacht hat, und er hat gute Gründe, zu sagen, dass es keine Blau-Erfahrung war. Er kann Fakten aus der Realität nennen, die jeder nachprüfen kann, er kann seine Messergebnisse der neuronalen Prozesse in Alices Gehirn vorweisen.

Trennung von Wissen und Bewusstsein

Dass man bei Alice zwischen ihrer bewussten Erfahrung und dem Wissen von dieser Erfahrung trennen kann, ist ein bisschen verwirrend. Wenn ich bewusst eine Erfahrung mache, dann weiß ich doch, dass ich diese Erfahrung habe? Pauen illustriert den Unterschied an einer Schmerz-Erfahrung. Ich kann etwa Zahnschmerzen schon haben, bevor ich das Wissen davon habe. Vielleicht beginnt der Schmerz während eines Telefonats, ich bin noch abgelenkt, aber der Schmerz ist schon in meinem Bewusstsein angekommen. Erst nach dem Telefonat fange ich an, darüber nachzudenken, ich identifiziere das unangenehme Gefühl als Zahnschmerz und weiß nun, dass ich Zahnschmerzen habe, mehr noch: dass ich bereits während des Telefonats Zahnschmerzen hatte.
Diese feine Unterscheidung zwischen bewusster Erfahrung und Wissen von der Erfahrung hat spannende Konsequenzen, denn wenn wir sie ernst nehmen, dann müssen wir eingestehen, dass unser Bewusstsein weit mehr umfasst als das, was wir wissen und was wir an Wissen in Sprache denkend verarbeiten. Die enge Zusammengehörigkeit von Bewusstsein und Wissen ist aber tatsächlich ein weitgehender Konsens in der Philosophie, man denke nur an Wittgensteins berühmten Satz „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“. Dieser Satz ist eigentlich nicht mehr haltbar, wenn man Pauens Unterscheidung von Wissen und Bewusstsein zustimmt.
Pauen folgert, dass Bob genauso Wissen über die Erfahrungen von Alice erlangen kann, wie diese selbst, zwar auf anderem Wege, aber möglicherweise können seine Wege sogar sicherer sein, als die von Alice. Dazu muss er jedoch noch mit einer zweiten Überzeugung brechen, die weitgehend Konsens ist: Nämlich der, dass Alice einen direkteren, unmittelbaren Zugang zu ihren eigenen bewussten Erfahrungen hat, als Bob. Alice erlangt ihr Wissen über ihre Erfahrungen durch einfache direkte Introspektion, während Bob irgendwelche Messgeräte braucht, die aber fehlerhaft arbeiten können. Pauen meint nun, dass Alices Introspektion auch nicht so direkt ist, wie man vielleicht meint, und dass die eben auch fehlerhaft sein kann.
Und damit hat er Recht. Inzwischen kursieren in den sozialen Medien regelmäßig Bilder von Kleidern oder Schuhen, die man aus irgendwelchen Gründen für blau hält, obwohl sie doch golden oder schwarz sind. Und wir kennen ja schon länger Abbildungen von geometrischen Figuren, auf denen zwei Strecken uns ungleich lang erscheinen, die in Wirklichkeit gleich lang sind, oder Strecken uns nicht parallel vorkommen, die doch parallel sind. Es kann durchaus sein, dass jemand sagt: Ich weiß genau, ich habe zwei ungleich lange Strecken gesehen.“, während man doch nachweisen kann, dass die nicht gleich lang sind.

Die Zombies kommen

Leider schlägt Pauen im weiteren Verlauf einen nur schwer verständlichen Weg ein, um das Introspektionsprivileg des Einzelnen anzugreifen. Er folgt einer Tradition, die vor allem in der angelsächsischen Philosophie der letzten Jahrzehnte verbreitet war: Er denkt sich so genannte Gedankenexperimente über Zombies aus und will an diesen Gedankenexperimenten beweisen, dass es kein Privileg der Introspektion des Subjektes gibt. Eine Kritik dieser Gedankenexperimente muss ich hier aus Platzgründen unterlassen, und mich mit dem Hinweis begnügen, dass wir Menschen nun mal keine Zombies sind und deshalb Gedankenspiele über Zombies nun mal nichts über uns Menschen, wie wir uns erleben, aussagen. Ob man sie sich überhaupt vorstellen kann und ob sie plausible Konstruktionen sind, kann hier dahingestellt bleiben – ich glaube es nicht.

Was er zeigen will ist, dass letztendlich wissenschaftliche Methoden der Introspektion des Menschen überlegen sein können, wenn es um die bewussten Erfahrungen dieses Menschen geht. Irgendwann weiß die Wissenschaft besser über meine bewussten Erfahrungen Bescheid, als ich selbst, ob ich blau gesehen, einen Geruch wahrgenommen, Angst gehabt oder Freude empfunden habe. Und an dieser Stelle ist dann doch eine sehr prinzipielle Kritik angebracht.

Grenzen der Wissenschaft

Die Wissenschaft wird niemals besser als ich über meine eigenen Erfahrungen Bescheid wissen. Das sage ich nicht, weil ich mir das mit meinem beschränkten Kenntnissen über wissenschaftliche Möglichkeiten einfach nicht vorstellen kann, so wie es Pauen den Denkern früherer Jahrhunderte unterstellt. Ganz unabhängig vom aktuellen Stand der Wissenschaften kann ich mir natürlich eine Welt denken, in der alle chemischen, biologischen, physiologischen und physikalischen Prozesse in meinem Gehirn und meinem Leib überhaupt messbar und auswertbar sind. Stellen wir uns diese Welt vor, und stellen wir uns vor, diese Apparatur sagt nun, ich würde gerade eine Blau-Erfahrung machen, während ich doch sicher bin, dass ich Grün sehe. Was würde daraus folgen? Würden wir wirklich sagen, dass der Experte, der sich auf die Messergebnisse verlässt, besser über meine bewussten Erfahrungen Bescheid weiß, als ich?

Ich meine, es sind zwei Interpretationen und zwei Wege, mit ihr umzugehen, möglich: Zum einen kann es sein, dass ich krank bin. Wir müssten dann sicher definieren, was krank-sein in so einem Fall bedeutet, aber es könnte sein, dass wir folgern, dass in meinem Kopf irgendwas gerade nicht so läuft, wie bei anderen. Ich sage „in meinem Kopf“ und halte damit bewusst offen, ob damit mein Geist oder die neuronalen Prozesse gemeint sind. Schon die Tatsache, dass wir uns vorstellen können, dass neuronal alles so läuft, als ob ich blau empfinden, ich aber trotzdem darauf bestehe, nicht blau zu sehen, zeigt ja, dass ich eben was anderes bin als meine neuronalen Prozesse.

Die zweite mögliche Interpretation ist, dass ich mich tatsächlich irre. Dann muss es aber, vorausgesetzt ich bin an der Wahrheit interessiert, möglich sein, dass ich meinen Irrtum einsehe. Ich werde, vielleicht überrascht von dem Ergebnis der Apparatur, die Situation genauer betrachten, ich werde mich fragen, warum ich glaubte, eine Grün-Empfindung zu haben, obwohl der Apparat misst, dass ich eine Blau-Empfindung hatte. Vielleicht komme ich zu dem Ergebnis, dass ich mich getäuscht habe – und diese Einsicht erst ist das entscheidende Kriterium dafür, ob ich tatsächlich Blau oder Grün gesehen habe.

Das Subjekt bleibt entscheidend

Letztlich bleibt also das Subjekt selbst die entscheidende Instanz für die Beantwortung der Frage, welche Erfahrung es tatsächlich gemacht hat. Die Ergebnisse der wissenschaftlichen Messung können ihm helfen, die eigene Introspektion zu hinterfragen, denn diese kann tatsächlich irren. Aber die Wissenschaft – oder eine auf ihr basierende Medizin – kann immer nur Hilfsmittel bei der Korrektur der subjektiven Einsicht sein.

Das festzuhalten ist enorm wichtig, und deshalb muss Pauen auch entschieden widersprochen werden, wenn er meint, die auf Basis der Wissenschaft kann man vielleicht einmal besser wissen, was ein Mensch empfindet, als dieser selbst durch Introspektion herausfinden kann. Denn am Ende geht es nicht um Grün oder Blau, sondern um die Selbstbestimmtheit des Subjekts. Dazu ein letztes Beispiel. Denken wir noch einmal an die Bergsteigerin Alice, die in eine gefährliche Situation kommt. Sie berichtet anschließend, dass sie die ganze Zeit über keine Angst gehabt hätte, sondern ruhig und entschlossen die Situation analysiert und entschieden hätte. Ein geheimnisvolles Messgerät, das Bob ihr heimlich mitgegeben hatte, hat jedoch alle neuronalen Prozesse aufgezeichnet und kommt zu dem Schluss, dass Alice sehr wohl Angst gehabt hätte. Alice rekapituliert ihre Erlebnisse, bleibt aber dabei, zu keinem Zeitpunkt Angst gehabt zu haben. Ein Arzt rät ihr nun vielleicht, lieber nicht mehr in die Berge zu gehen, weil sie ihre eigenen Empfindungen nicht richtig beurteilen könne.
Sie werden nun vielleicht sagen, soll Alice doch in die Berge gehen, wenn sie meint, dass sie das so gut einschätzen kann. Überdenken Sie dann das Beispiel einmal, stellen Sie sich nun aber vor, Alice sei keine Bergsteigerin, sondern Pilotin eines Passagierflugzeugs.

Fazit

Kann man beim Lesen des Buchs von Michael Pauen etwas über die „Natur des Geistes“ erfahren? Ganz sicher ja. Vielleicht kommt man gerade nicht zu dem gleichen Ergebnis wie der Autor, aber auf jeden Fall werden spannende Fragen aufgeworfen. Deren Lösung kann man vielleicht näher kommen, wenn man dann doch, wie Pauen ja selbst fordert, die Phänomenologie mit in die Diskussion einbezieht.

Ich danke den Mitstreitern des Arbeitskreises Bewusstsein an der Universität Münster für die spannenden Diskussionen im Wintersemester 2016/17, die mir viele Anregungen für diese Kolumne gegeben haben.

Jörg Friedrich lebt in Münster und ist Philosoph und IT-Unternehmer. Er schreibt und spricht vor allem über technik-und wissenschaftsphilosophische Themen und Fragen der praktischen Philosophie (Ethik, politische Philosophie, philosophische Ästhetik). In seiner monatlichen Kolumne »Reflexe« reflektiert er über einen aktuellen philosophischen Ansatz und lädt zum kritischen Weiterdenken ein.

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