1 -Was sind Ihre Gedanken und Gefühle nach dem Ergebnis der Stichwahl Macron-Le Pen?
Ich war erleichtert, dass Marine Le Pen nicht gewählt wurde, aber die Zahl der Menschen, die für sie gestimmt haben ist besorgniserregend. Ganz zu schweigen von der Wahlenthaltung. In Frankreich, wie in vielen anderen Ländern in Europa und der Welt, gibt es eine Müdigkeit, einen Mangel an einem gemeinsamen Horizont. Die Stimmabgabe für extremistische Parteien ist nicht nur auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten zurückzuführen, mit denen die Menschen zu kämpfen haben. Das Fehlen eines gemeinsamen Horizonts ist auch eine Reaktion auf eine technokratische Bewältigung der Probleme, die die Politik ihres Inhalts beraubt. Und Rechtspopulisten nutzen dieses Vakuum, um eine Politik der Identitätsstiftung zu betreiben. Um ein Debakel in fünf Jahren zu vermeiden, müssen wir das Vertrauen in eine gemeinsame Zukunft wiederherstellen, eine Politik betreiben, die nicht nur eine Anpassung an den Neoliberalismus ist oder auch nur eine Möglichkeit, die durch diese ökonomistische Ordnung hervorgerufenen Ungleichheiten auszugleichen. Meiner Meinung nach ist es die Lösung, Ökologie als eine weisere und gerechtere Art, die Erde zu bewohnen, zur zentralen Achse einer Politik zu machen, um wieder Lust auf die Teilnahme an einem gemeinsamen Projekt zu machen.
2 -Was ist Ihre größte Angst?
Meine große Angst ist, dass wir so weitermachen wie seit Jahrzehnten, was letztendlich nicht nur zu katastrophalen Umweltfolgen führen wird, sondern auch Faschisten an die Macht bringen könnte.
3 -Was schenkt Ihnen Zuversicht?
Aktivisten, die sich für Ökologie und Tierschutz einsetzen, geben mir Hoffnung. Es gibt auch Intellektuelle, die abseits der großen Medien Vorschläge machen. Dass ihnen noch wenig Gehör geschenkt wird und sie selten Macht haben, bedeutet nicht, dass sie mittel- oder langfristig keinen Einfluss haben.
4 -Wie können wir die Demokratie in Europa und weltweit stärken?
Der Zweck Europas ist es, Frieden zu schaffen, und das gilt auch heute noch. Aber in den letzten Jahrzehnten, mit der Globalisierung und dem „Jeder für sich“, hatten die Länder der Europäischen Union wie auch die Bürger Schwierigkeiten, an Solidarität zu denken. Meiner Meinung nach sollte Europa eine ökologische und demokratische Gesellschaft zum Hauptziel machen und sein politisches Projekt auf dem aufbauen, was ich in meinem letzten Buch „Das Zeitalter des Lebendigen. Eine neue Philosophie der Aufklärung“( WBG, 2021) als die neue Aufklärung bezeichnet habe, kann dies sowohl die Demokratie als auch Europa wünschenswert machen.
Corine Pelluchon ist Professorin für Philosophie an der Université Gustave Eiffel (Marne-La-Vallée), Mitglied des Hannah Arendt Interdisciplinary Laboratory for Political Studies sowie Fellow bei The New Institute in Hamburg. Ihr Schwerpunkt liegt auf Moralphilosophie, politischer Philosophie und angewandter Ethik (Medizin-, Umwelt- und Tierethik). Prof. Dr. Pelluchon ist Trägerin des Günther Anders-Preises für kritisches Denken 2020.Sie ist literarische Beraterin für den Verlag Alma Éditeur und war von 2017 bis 2020 Mitglied des wissenschaftlichen Beirats der Nicolas-Hulot-Stiftung für die Natur und den Menschen. Ihr aktuelles, viel gelobtes Buch ist „Das Zeitalter des Lebendigen: Eine neue Philosophie der Aufklärung“ (wbg Academic, 2021).