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Virologische Realität

„Wie ein Film“ fühle sich die Corona-Krise an, sagen derzeit viele. Tatsächlich hat sich eine Art „virologische Realität“ vor unsere Augen und damit vor andere Teile unserer Lebensrealität geschoben.

Corona hat unser Leben umgekrempelt bis in viele Kleinigkeiten. Alles was man anfassen kann etwa, ist plötzlich unser Feind. Das Virus hat uns zur Hygiene getrimmt, wir drücken Türklinken mit dem Ellenbogen herunter und ermahnen uns, wenn uns beim Einkauf die Hand kurz ins Gesicht fährt.

Corona hat die Gestaltung des Alltags zu einer Sache von Hygiene und Abstand gemacht und alles andere an den Rand gedrängt. Der Artikel über den US-Wahlkampf liegt entwertet neben den ganzen Neuigkeiten zu Corona. Bietet er noch irgendetwas, über das zu berichten für unser Leben von Belang wäre? Neben dem um die 200 Nanometer großen Erreger wirkt alles andere belanglos und unwichtig.

Die Pandemie hat unsere Aufmerksamkeit eingegrenzt auf die virologische Wirklichkeit, auf Infektionsstatistiken und Strategien zur Kontaktreduktion. Und somit alles andere – beruflichen Erfolg, andere politische Problemfelder, den Freundeskreis wie auch persönliche Pläne – zu Realitäten zweiter Ordnung gemacht. Welche Bedeutung diese Realitäten haben, die vor dem Ausbruch unser Lebensinhalt waren, hängt von den Entwicklungen in der virologischen Wirklichkeit ab.

Durch die Brille des Virologen sehen wir eine andere Version der Realität. Was wir sehen, könnte man „Virological Reality“ nennen. Wie die computergeschaffene „Virtual Reality“, versetzt sie uns in eine andere, leicht verschobene Version der Wirklichkeit. Mit dem Unterschied: Wir haben keine Brille aufgesetzt, die wir abnehmen können, wenn wir genug vom Viralen haben. Und merken gar nicht, dass sich unsere Wahrnehmung angepasst hat, während wir die Verbreitung von Corona verfolgen. Nichts an der virologischen Realität ist fiktiv. Sie ist nur eine extreme Interpretation der Wirklichkeit.

In der virologischen Wirklichkeit ist der öffentliche Raum – einst Inbegriff des gesellschaftlichen Lebens – eine toxische Zone. Infiziert oder nicht, das ist die Frage, egal ob Partner, Schlüsselbund oder Nahrungsmittel. Alles jenseits der eigenen vier Wände ist potentiell kontaminiert. Die Umwelt ist feindlich. Das Virus ist unsichtbar, die Gefahr hingegen zum Greifen nahe. Der nächste Haltegriff, Türgriff oder Wasserhahn könnte mit den Viren behaftet sein. Alles kommt uns infiziert vor, dabei befindet sich das Virus nur auf einem Bruchteil der Oberflächen. Nur eine bestimmte Anzahl an Leuten in der Stadt ist infiziert. Wir begegnen denselben Menschen, mit denselben Eigenschaften, aber sehen trotzdem etwas anderes: potentielle Überträger.

Die Welt, die Menschen und die Gegenstände haben sich durch Corona nicht verändert. Was wir kaufen, wie wir wohnen und was wir besitzen, daran hat sich wenig geändert. Wer sein Müsli mit Milch trinkt, wird das auch heute noch tun. Daran kann auch Corona nichts ändern.

Jedoch hat die gleiche Tüte Milch seit Corona eine andere Geschichte. Die handelt von Warteschlagen, Abstandsregeln und leeren Regalen. Verändert hat Corona also vor allen Dingen eines: Unsere Wahrnehmung und unser Erleben.

Nicht jeder Quadratzentimeter Supermarkt ist kontaminiert. Aber er könnte es sein. Diese Möglichkeit leitet unser Handeln und lenkt unseren Blick. Weil sie immer präsent ist – wir uns zu jeder Zeit und an jedem Ort infizieren können – fühlt sich das, was möglich ist, real an. Alles was Überträger sein könnte, wirkt wie eine akute Bedrohung. Die Grenze zwischen dem, was existiert (ein paar Menschen im Supermarkt, von denen vielleicht einer infiziert ist) und dem, was für existent gehalten wird (alle Menschen im Supermarkt sind infiziert) ist nicht eindeutig. Die gefühlte Bedrohung entscheidet, was Realität ist. Die Ontologie des Viralen wird zum Paradigma. Als vorherrschende Sichtweise auf das Geschehen stellt sie virologische Fragen – die nach der Verbreitung, nach Hygeniemaßnahmen und Impfstoffen – in den gesellschaftlichen Mittelpunkt. Und beeinflusst auf diese Weise auch unsere Wahrnehmung – die jetzt schon virologisch geschulter und sensibler als noch vor einem Monat ist.

Mittlerweile entspricht die gefühlte Toxizität eines Supermarkts fast der eines Atomendlagers. Auch Drogeriemärkte, bei denen man „Sauberkeit“ in Form verschiedener Produkte sogar kaufen kann, wirken wie Virensammelzentren. Besser man hält sich hier nicht länger auf als notwendig. Der Einkauf, das war auch immer ein sozialer Treffpunkt. Statt sich zu treffen, geht man jetzt mit möglichst großem Abstand aneinander vorbei. Sozial – im soziologischen Sinne – ist das Einkaufen trotzdem: Man geht nicht mehr nur in den Supermarkt und kauft was man eben braucht. Vielmehr gibt es jetzt eine angemessene Art und Weise, sich im Supermarkt zu benehmen, nämlich hygienisch. Man kommt gar nicht darum herum, die Handgriffe des Herrn an der Obsttheke zu beäugen.

In manchen Apotheken bestellt man jetzt durch eine Glasscheibe die Arznei. Die Wirkung ist klar: Die Möglichkeit der Infektion wird unterbunden. Man braucht nicht mehr zu befürchten, dass sogar der Kauf von Heilmitteln, Ansteckungsrisiken birgt. Die Nebenwirkung allerdings auch: Soziale Distanz und gesellschaftliche Kühle. Die Trennung ist nicht nur baulich.

Jeder spontanen Handlung ist ein kurzes Innehalten vorgelagert. „Warte, darf man das überhaupt noch?“ fragt man sein hygieniebewusstes Ich und stellt fest, dass es auf solche Fragen auch keine Antwort hat. Etwas zu berühren wird von einer Belanglosigkeit zum möglicherweise folgenschweren Ausgangspunkt einer Infektionskette. Sich zu jucken, sich festzuhalten oder jemanden impulsiv zu umarmen – berühren, ohne darüber nachzudenken – das war einmal und wird hoffentlich bald wieder sein.

Wer tatsächlich infiziert ist, muss in Quarantäne und sich dort strickt an die empfohlenen Regeln halten. Seine Lebensrealität ist eingeschränkt. Ähnliches erleben wir gerade gesellschaftlich. Unser Blick auf die Wirklichkeit ist infiziert mit einer Vielzahl von Informationen. Sie verändern unsere Wahrnehmung und regen uns zu hygienischem Verhalten an. Diese „bewusstseinsmäßige Infektion“ müssen wir überstehen, damit Realitäten, die uns vorher wichtig waren, etwa eine, in der Berührung dazugehört, wieder real werden. Bis dahin bleibt das Virus – oder besser gesagt, die Möglichkeit, dass es da ist – zwischen uns und allem anderen.

Von Paul Healy

 

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