Alle Artikel mit dem Schlagwort: Virus

Corona als Pusteblume

Die Corona-Krise beschäftigt uns schon eine ganze Weile. Nach zum Teil drakonischen Maßnahmen scheint das Schlimmste fürs Erste abgewendet. Zeit für eine Verschnaufpause, man kann nachdenken darüber, wie es weiter geht und vielleicht auch besser. Dabei könnte es sich herausstellen, dass den Deutschen wieder einmal ein Hang zur Romantik eigen ist. Offenbar weckt Corona so manche Sehnsüchte. Unser Gastautor Martin Gessmann ist Professor für Kultur- und Techniktheorien und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung in Offenbach, und hat ein paar Gedanken zu den farbenfrohen Virus-Darstellungen in den Medien und dam bunten Wünsch-Dir-Was für die Nach-Corona-Welt. Ich bin mir ziemlich sicher: lange wird es nicht mehr dauern, und ein findiger Hersteller bietet die ersten Corona-T-Shirts an. Und ich bin mir genauso sicher: Das wird ein unwiderstehlicher Trend werden. Zuerst wird es zum Zeichen des stillen Protests von jungen Leuten, die sich bislang freitags versammelten, es aber jetzt nicht mehr in der Öffentlichkeit können. Man trägt das Virus jetzt mitten auf dem Bauch und gibt damit ein Zeichen – oder besser noch, trägt ein gutes Bauchgefühl zur …

Virologische Realität

„Wie ein Film“ fühle sich die Corona-Krise an, sagen derzeit viele. Tatsächlich hat sich eine Art „virologische Realität“ vor unsere Augen und damit vor andere Teile unserer Lebensrealität geschoben. Corona hat unser Leben umgekrempelt bis in viele Kleinigkeiten. Alles was man anfassen kann etwa, ist plötzlich unser Feind. Das Virus hat uns zur Hygiene getrimmt, wir drücken Türklinken mit dem Ellenbogen herunter und ermahnen uns, wenn uns beim Einkauf die Hand kurz ins Gesicht fährt. Corona hat die Gestaltung des Alltags zu einer Sache von Hygiene und Abstand gemacht und alles andere an den Rand gedrängt. Der Artikel über den US-Wahlkampf liegt entwertet neben den ganzen Neuigkeiten zu Corona. Bietet er noch irgendetwas, über das zu berichten für unser Leben von Belang wäre? Neben dem um die 200 Nanometer großen Erreger wirkt alles andere belanglos und unwichtig. Die Pandemie hat unsere Aufmerksamkeit eingegrenzt auf die virologische Wirklichkeit, auf Infektionsstatistiken und Strategien zur Kontaktreduktion. Und somit alles andere – beruflichen Erfolg, andere politische Problemfelder, den Freundeskreis wie auch persönliche Pläne – zu Realitäten zweiter Ordnung gemacht. …

Wenn die Zukunft kommt

Ein neues Jahrzehnt ist angebrochen. Wir schreiben das Jahr 2020. Doch niemand begrüßt die – rein optisch – eindrucksvolle Zahlenreihe mit Applaus. Von Euphorie nicht viel zu spüren. Zwar gibt es in Berlin nun ein „Haus der Zukünfte“, das „Futurium“, in dem man visionäre Lebensmodelle entdecken und ausprobieren kann. Doch wer hat schon Bock auf morgen? Im März 2020 wird das Coronavirus zum allesbeherrschenden Thema. Flüchtlingsdrama und Rechtsextremismus müssen warten, wenn Live-Blogs und Soziale Medien von ausverkauftem Toilettenpapier künden. Gerade noch lief das Chaos der Welt durch das adrette Raster des Cyberspace. Gerade noch ergingen sich Feuilletonisten und Podcaster in schlauen Reden über „die neuen Zwanziger“. Alle erwarteten den „Realitätsschock“ (Sascha Lobo) in der virtuellen Zukunft. Prepper stockten Waffen, Vorräten, Schutzkleidung auf, die EU verbarrikadierte ihre Außengrenzen, Trump baute seine Mauer. Man sah Gretas ernstes Kindergesicht, verfolgte die Börse und berechnete Risiken. Aber niemand rechnete mit dem Unerwarteten. Dass ein China entsprungener Virus binnen zwei Monaten die hypermobile Welt, in der zwei Millionen Leute täglich den Flieger nehmen, in eine kollektive Lähmung zwingen würde. Vielleicht …