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Gefühle? Gewissen!

Von Tobias Hürter

Wenn den Berichten und Kommentaren glauben kann, dann ist Deutschland derzeit im emotionalen Ausnahmezustand. Deutschland sei ein »Hippiestaat, der sich nur von seinen Gefühlen leiten lässt«, sagt der englische Politologe Anthony Glees. »Wir erleben in Echtzeit, wie sich die Gefühle eines ganzen Landes synchronisieren«, schreibt der »Zeit«-Wissenschaftsredakteur Ulrich Schnabel. Gemeint sind natürlich die bewegenden Szenen, die sich am Münchner Hauptbahnhof und anderswo abspielen. Deutsche umarmen ankommende Flüchtlinge. Hilfsorganisationen werden überschwemmt von Spenden. Allerdings bezweifle ich, dass man diesen Berichten und Kommentaren wirklich glauben kann. Deutschland wird nicht von seinen Gefühlen geleitet. Sondern vom Gewissen. Das ist ein wesentlicher Unterschied – und gut so.

Würden nur die Gefühle regieren, die die Bilder von den vielen Menschen auf der Flucht in uns auslösen, dann wäre all die Hilfsbereitschaft kaum erklärlich. Wir begreifen die Lage der Flüchtlinge nicht durch bloße Empfindung oder Mitempfindung, sondern dadurch, dass wir versuchen, uns in ihre Lage zu versetzen. Das setzt einiges an kognitiven Fähigkeiten voraus – und an Wissen über die Herkunft der Flüchtlinge und die Hintergründe ihrer Flucht. Die vollbrachte Leistung des Hineinfühlens und Hineindenkens führt zur Einsicht in das, was richtig ist, und löst schließlich einen Handlungsimpuls aus. Sie macht uns hilfsbereit. Was da in uns wirkt, ist also weitaus mehr als Gefühl. Es ist das Gewissen im Sinne Immanuel Kants. Aber natürlich fühlt es sich gut an, seinem Gewissen zu folgen. Die freudigen Gefühle, die sich in den Szenen am Münchner Hauptbahnhof äußern, stehen am Ende dieses Prozesses, nicht am Anfang.

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