Alle Artikel mit dem Schlagwort: Leitartikel

Paradoxe Individualisierung

Was passieren kann, wenn der Individualismus auf die Spitze getrieben wird, zeigt sich an der Polarisierung der Gesellschaft in den USA.   Es war einmal der schöne Traum der Aufklärung: Wenn die Menschen wirklich frei wären, sie ungehinderten Zugang hätten zu allem Wissen, sich frei assoziieren könnten und materiell keinen Mangel mehr leiden würden, wenn sie also, mit anderen Worten, endlich als autonome, selbstbestimmte Individuen leben könnten, dann gäbe es keinen Anlass mehr für falsche Vorstellungen und tröstende Illusionen. Im Reich der Freiheit, hoffte Karl Marx (1818–1883), stirbt nicht nur die Religion, sondern auch ihr säkularer Statthalter, die Ideologie. Doch bekommen haben wir weder das Reich der ­Freiheit noch das der Wahrheit, sondern einen kosmischen Lügner: Donald Trump. Wäre er nur ein kleiner Rückschritt auf dem Weg zum großen Ziel, sein Aufstieg ließe sich noch einfügen in die große Erzählung von der letztlich unvermeidlichen Durchsetzung der Vernunft. Weit gefehlt: Er ist gerade die Konsequenz einer extrem individualisierten Gesellschaft, die alle Imperative der Aufklärung übererfüllt hat. Amerika durchläuft seit Jahrzehnten einen gesellschaftlichen Desintegrationsprozess – ausgelöst durch …

Die neue Weltmarke

Sie kam aus dem Nichts. Sie war plötzlich da. Man könnte jetzt sagen: die Krankheit, die Pandemie. Doch vielleicht sollten wir Corona auch einmal anders betrachten: als Marke, die die Karten neu zu mischen vermag. Marken bewegen die Welt. Sie kommen als Kristal­lisationspunkte persön­licher »Bedürfnisse« und gesellschaftlicher »Werte« daher. Für Kin­der gehören Marken zur natür­lichen Welt wie etwa Bäume und ­Eichhörnchen. Für Erwachsene kann sogar ein Mensch zur »Marke« werden (solange er sich nur erfolgreich vermarktet). Erwachsene leben Kindern vor, was wirklich zählt: Adidas steht für Sport und Hipness, Apple heißt Vernetzung, Information und unendlicher Spaß. Erfolgreiche Marken können das Selbstwertgefühl ihrer Anhänger boosten und Atmosphären von Wärme und Zugehörigkeit ­erzeugen, wie es früher nur kirchlichen Gemeinschaften gelang. Die aktuell und wohl noch für lange Zeit erfolgreichste Marke ist Corona. Eine absolute Ausnahmeerscheinung. Corona kam ganz ohne Storytelling aus, um sich auf dem Weltmarkt zu etablieren und in Rekordzeit die bisherigen Top-Player wegzukicken. Vor Corona ging eine gleich­namige Biermarke blitzschnell in die Knie (ganz ohne Markenrechtsstreit). Das Erfolgsgeheimnis von Corona ist die hochprofessionelle, zuverlässige und …

Die politischen Akteure 2019 – eine kleine Typologie

DER JUNGMANAGER besticht durch seine algorithmische Perfektion und Reinheit. Sein Denken ist so glatt wie seine Haut. Er ersetzt Ideologie mit Empathie, Wut mit Geduld. Gleich einem selbstlernenden System findet er Lösungen für jedes Problem. Prototyp des Jungmanagers ist Sebastian Kurz, der den Systemfehler »Strache« durch die allseits anschlussfähige Rhetorik der Sanftheit beseitigte. Spontan wirkt das inhaltsfreie Programm des Jungmanagers höchst sympathisch. Seine wahren Absichten und sein Haltbarkeitsdatum sind (noch) hinter der glänzenden Oberfläche verborgen. DER BÄR strahlt eine behagliche pelzige Wärme aus, welche die authentische Atmosphäre guter alter Zeiten evoziert. Seine Autorität speist sich aus einer unaufdringlichen Attraktivität, wie sie paradigmatisch von Robert Habeck repräsentiert wird. Diese Augen, dieses Lächeln! Ein Mensch, der sich vor den menschenverachtenden Effekten von Twitter fürchtet, kann nicht lügen. Er verspricht vielmehr eine neue Übersichtlichkeit. Er krempelt die Ärmel hoch und karrt selbst die Erde an, mit der die Kluft zwischen traditioneller Poli‑ tik und globalem digitalen Chaos zugeschüttet werden soll. DIE SUPERINTELLIGENZ operiert anders als die elegante Polit- und PR-Maschine des Jungmanagers, anders auch als der warme Bär …

Der Populist in uns

»Populisten sind die Pest«, so etwas sagt sich ganz leicht. Aber neigen wir nicht alle dazu, Dinge zu vereinfachen? Wenn wir den Populismus bekämpfen wollen, sollten wir daher beginnen, uns selbst zu verstehen. Die Flüchtlinge rennen uns die Türen ein, der Rechtsstaat ist ausgehebelt, das politische Establishment nicht vertrauenswürdig. So nehmen »Populisten« die Lage wahr. Sie vereinfachen die Probleme, sie spitzen sie aufs Äußerste zu – und sie beanspruchen für sich, als Einzige den Durchblick zu haben, während alle anderen unfähig oder verblendet sind. So oder ähnlich lauten gängige Definitionen populistischer Politik. Aber wie viel Populismus steckt in jedem von uns? Neigen wir nicht alle manchmal zu grober Vereinfachung, wenn wir über die Welt und die anderen urteilen? Womöglich verstehen wir den Populismus besser, wenn wir unsere eigenen Denkmuster und Wahrnehmungsschablonen auf den Prüfstand stellen. Wir nehmen uns heraus, andere Menschen nach dem Augenschein einzuschätzen, ohne Näheres über sie zu wissen. Wir schließen von uns selbst auf andere. Wir orientieren uns an Stimmungen und Atmosphären. Wir behaupten irgendwelche Dinge, ohne den Wahrheitsgehalt überprüft zu haben. …