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Paradoxe Individualisierung

Was passieren kann, wenn der Individualismus auf die Spitze getrieben wird, zeigt sich an der Polarisierung der Gesellschaft in den USA.

 

Es war einmal der schöne Traum der Aufklärung: Wenn die Menschen wirklich frei wären, sie ungehinderten Zugang hätten zu allem Wissen, sich frei assoziieren könnten und materiell keinen Mangel mehr leiden würden, wenn sie also, mit anderen Worten, endlich als autonome, selbstbestimmte Individuen leben könnten, dann gäbe es keinen Anlass mehr für falsche Vorstellungen und tröstende Illusionen. Im Reich der Freiheit, hoffte Karl Marx (1818–1883), stirbt nicht nur die Religion, sondern auch ihr säkularer Statthalter, die Ideologie.

Doch bekommen haben wir weder das Reich der ­Freiheit noch das der Wahrheit, sondern einen kosmischen Lügner: Donald Trump. Wäre er nur ein kleiner Rückschritt auf dem Weg zum großen Ziel, sein Aufstieg ließe sich noch einfügen in die große Erzählung von der letztlich unvermeidlichen Durchsetzung der Vernunft. Weit gefehlt: Er ist gerade die Konsequenz einer extrem individualisierten Gesellschaft, die alle Imperative der Aufklärung übererfüllt hat.

Amerika durchläuft seit Jahrzehnten einen gesellschaftlichen Desintegrationsprozess – ausgelöst durch eine historisch präzedenzlose Ausweitung persönlicher Autonomie. Die Beispiele dafür sind mannigfaltig: je mehr Medienangebote, desto stärker die Neigung, nur jene zu konsumieren, die bestätigen, was man doch ohnehin zu wissen glaubt; je stärker die räumliche Mobilität, desto größer das Bedürfnis, dort zu leben, wo viele andere Gleichgesinnte sind. Demokraten und Republikaner beten nicht länger in den gleichen Kirchen, schauen nicht mehr die gleichen Fernsehserien, treiben nicht länger die gleichen Sportarten. Wenn sie einander begegnen, haben sie sich, jenseits der Politik, immer weniger zu sagen. Und weil Lebensstil, Identität und Politik in unserem Zeitalter narzisstischer Innerlichkeit heute so eng verbunden sind, hat es beide ­Lager zutiefst voneinander entfremdet und das Land polarisiert.

Es ist eine paradoxe Indi­vidualisierung: Niemand, auch nicht Trumps Wähler, wird daran gehindert, von seinem eigenen Verstand Gebrauch zu machen. Alles ist dokumentiert, alles lässt sich nachlesen, alles lässt sich ­sagen. Und anders als manche Medienberichterstattung glauben lässt, handelt es sich bei den Unterstützern des 45. Präsidenten der USA in der Mehrheit durchaus nicht um ungebildete Einfaltspinsel. Unter republikanischen Wählern steigt mit höherem Bildungsstand die Skepsis gegenüber der Tatsache des Klimawandels, ebenso übrigens wie die ­Zustimmung zu der These, Barack Obama sei ein Muslim. Denn wer gebildet ist, der wird in einer Welt balkanisierter Wissensenklaven immer einen Weg finden, an Gegenexpertise zu gelangen.

Während das Vertrauen in die Politik, in die Medien, überhaupt in alle Institutionen erodiert ist, scheint das Selbstvertrauen, auch in einer immer komplexer werdenden Welt noch alles selbst überblicken zu können, oftmals grenzenlos.

In der uns bekannten Geschichte ist diese Melange vermutlich präzedenzlos; aber das heißt nicht, dass wir von ihrem womöglich katastrophalen Ende nicht schon einmal ­irgendwo gelesen haben – in Platons »Der Staat« natürlich: Wenn die Freiheit ihren Höhepunkt erreicht hat, die Geltungsansprüche ins Unermessliche wachsen und die öffent­liche Ordnung verfällt, dann kippt die Demokratie in die ­Tyrannei um. Hoffen wir, dass es nur ein Albtraum war.

Torben Lütjen ist Politikwissenschaftler an der Universität Kiel. Von 2017 bis 2020 lehrte er an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. Anfang des Jahres ist sein Buch »Amerika im Kalten Bürgerkrieg. Wie ein Land seine Mitte verliert« (wbg Theiss) erschienen.

Illustration: Gabriele Dünwald

 


Dieser Text stammt aus unserer aktuellen Ausgabe (5/2020)

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