Alle Artikel in: Aktuell

Können wir geben? Über die Singularität der Gabe

Von Manuel Güntert Vor geraumer Zeit habe ich an dieser Stelle einen Artikel über die Möglichkeit eines rein moralischen Handelns publiziert. Er baut auf Überlegungen aus dem Buch „Falschgeld“ des französischen Philosophen Jacques Derrida auf. Dieser wirft dort die Frage auf, ob wir geben können. Um darzulegen, weshalb diese scheinbar so triviale Angelegenheit von eminenter Bedeutung ist, soll noch einmal auf seine Argumentation eingegangen werden. Für Derrida ist es Bedingung der Existenz der Gabe, dass das Gegebene der Gabe nicht zu dem Gebenden zurückkehrt. Dazu darf sie nicht zirkulieren, nicht getauscht werden, auf keinen Fall darf sie sich verschleißen lassen im Prozess des Tausches, in der kreisförmigen Zirkulationsbewegung einer Rückkehr zum Ausgangspunkt. Dem „ewigen Spiel“ von Gabe und Gegengabe müsste also Einhalt geboten werden, denn ist die Gabe, wenn es sie gibt, nicht auch gerade das, was die Ökonomie unterbricht?[1] Deshalb wäre es nötig, dass der Gabenempfänger nicht zurückgibt, nicht begleicht, nicht tilgt, nicht abträgt, keinen Vertrag schließt und niemals in ein Schuldverhältnis tritt. Die Unterbrechung des Kreislaufes muss absolut sein. Letztlich darf der Gabenempfänger …

Mehr, noch mehr, alles!

Der Schwerpunkt der aktuellen Ausgabe HOHE LUFT widmet sich dem Thema Wachstum. Auch bei den Sieben Todsünden geht es letztlich um (übersteigertes) Wachstum – und dessen Schattenseiten. Ein guter Anlass, über sie nachzudenken. Text: Rebekka Reinhard Der Mensch ist ein zwischen Tugend und Laster schwankendes Mängelwesen. Die Mitte zwischen zwei Extremen zu halten, fällt ihm schwer. Ab und zu muss er über die Stränge schlagen und richtig böse werden; sonst, wie es scheint, kann er das Leben nicht aushalten. Für Aristoteles (384–322 v. Chr.) waren Laster das Ergebnis schlechter Gewohnheiten; Thomas von Aquin (1224–1274) sah sie als sündhafte Opposition menschlichen Willens gegen Gottes Willen an. Immanuel Kant (1724–1804) wiederum schrieb Fehltritte bestimmten Charaktertypen zu: dem Geizigen, Wollüstigen oder Hochmütigen. Dass Sündhaftigkeit und Charakterlosigkeit auch Vorteile haben, das glaubte der niederländische Arzt, Philosoph und Sozialtheoretiker Bernard de Mandeville (1670–1733). In seiner berühmten »Bienenfabel« vertritt er die provokante These, dass es nicht die christliche Nächstenliebe ist, die das Gemeinwohl fördert, sondern der Neid und das Konkurrenzdenken des Einzelnen. Gegen die Kargheit des Christentums setzte de Mandeville die …

Brauche ich immer mehr? Heft 3/21

Wir erleben spannende Zeiten. Das Jahr 2021 ist voller Herausforderungen und Krisen – und birgt doch auch so einige Chancen. Es gilt mehr denn je, uns als Individuen wie als Gesellschaft insgesamt zu fragen, wie wir künftig leben wollen. In diesem Sinne widmet sich die aktuelle Ausgabe von HOHE LUFT dem Schwerpunkt Wachstum in all seinen Aspekten: Brauche ich immer mehr? Wir untersuchen die Grenzen ökonomischen Wachstums, sprechen mit dem Wildtierflüsterer »Woid Woife« darüber, was wir vom Werden und Vergehen in der Natur lernen können, prüfen, was die Sieben Todsünden mit Wachstum zu tun haben – und zeigen, wie wir an Krisen wachsen können. Weitere Themen im Heft sind u. a.: Zuhören – über eine große Fähigkeit und einen stillen Zauber; Wir isolierten Atome – was bedeutet fehlende Nähe für unser Mineinander?; ein Porträt der großen amerikanischen Essayistin Susan Sontag; die Historikerin Hedwig Richter über ihren optimistischen Blick auf die Entwicklung der Demokratie. Wir wünschen Ihnen eine inspirierende Lektüre! Hier können Sie das neue Heft sowie ältere Ausgaben versandkostenfrei bestellen. Lob, Anregungen und Kritik nehmen …

»Wir müssen anders leben«

Der Mediziner und Gesundheitsökonom Karl Lauterbach ist einer der gefragtesten Politiker während der Coronakrise. Für unser Heft HOHE LUFT kompakt »Mensch und Medizin« sprachen wir mit ihm über die Lehren aus der Pandemie, die Schwächen demokratischer Gesellschaften in Krisensituationen – und seine Ängste als Politiker und Mensch. Interview: André T. Nemat, Thomas Vašek Illustration: Gabriele Dünwald HOHE LUFT: Herr Lauterbach, wie beurteilen Sie die derzeitige Entwicklung der Pandemie? (Stand: 15. Januar 2021) KARL LAUTERBACH: Wir sind an einem ganz kritischen Punkt angekommen. Die nächsten zwei bis drei Monate werden die schwersten der gesamten Pandemie sein. Weil wir noch zu wenig Impfstoff haben, uns mitten in einer schweren zweiten Welle befinden – und weil durch die Winterwetterlage die Lockdown-Maßnahmen weniger wirken. Wenn wir breitflächig dann auch noch die britische Mutation B117 in Deutschland bekämen, wäre sogar eine dritte Welle möglich. Was muss aus Ihrer Sicht jetzt getan werden? Mir scheint es wichtig zu sein, den Lockdown so lange fortzusetzen, bis wir eine Zielinzidenz von 25 pro 100.000 Einwohner pro Woche erreicht haben. Das jetzige Lockdown-Ziel von …

Mensch und Medizin – das neue HOHE LUFT Sonderheft ist da

Der Wert der Gesundheit ist unschätzbar hoch – erst recht in Zeiten der Pandemie. Die Gesundheit von Individuen bildet die Basis nicht nur eines funktionierenden ökonomischen und sozialen Systems, sondern auch eines für alle gelingenden Lebens. Wir glauben, dass jetzt der richtige Zeitpunkt ist, um Medizin und Philosophie über wichtige Themen am Schnittpunkt zwischen medizinischer Versorgung und technologischer Machbarkeit in einen konstruktiven Dialog treten zu lassen: Was heißt Prävention im Sinne einer zeitgemäßen »Ökonomie der Sorge«? Kann die Medizin der Zukunft Technologie und Kultur, Machbarkeit und Ethik integrieren? Wohin führt der Trend der digitalen Selbstvermessung? Wie erleben die verletzlichsten Mitglieder der Gesellschaft – Schmerzpatienten, Krebspatienten, Demenzkranke – ihr Leid? Diesen und anderen Fragen widmen wir uns in der aktuellen HOHE LUFT kompakt »Mensch und Medizin«. Eine stärkere Vernetzung medizinischer, medizinethischer und philosophischer Aspekte liegt uns am Herzen. Daher freuen wir uns, dass wir für dieses Sonderheft renommierte Autoren und erfahrene Experten aus den Praxisbereichen Medizin und Ökonomie sowie den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gewinnen konnten.   Bleiben Sie gesund! Wir wünschen Ihnen eine anregende Lektüre.   Hier …

Was denkst du von mir? HOHE LUFT 2/21

Jeder Mensch hat Vorurteile – aber kaum einer will es zugeben. Annahmen über die Nachbarin, den Schwiegervater, den dunkelhäutigen Geflüchteten, die Bundeskanzlerin oder sich selbst. Aber was sind eigentlich Vorurteile? Um ungeprüftem Raunen und Schubladendenken etwas entgegenzusetzen, haben wir uns in dieser Ausgabe für den Schwerpunkt »Vorurteile« entschieden – und diese aus den verschiedensten Blickwinkeln beleuchtet. Unter anderem sprechen wir mit einem Psychologen, der sich für Demokratieförderung und Extremismusprävention einsetzt und gehen der Frage nach, welche Vorurteile so schädlich sind, dass wir sie loswerden sollten. Außerdem im Heft: Ingolf U. Dalferth über die Sünde, Hannah Arendt: ein Portrait. Die Klimakrise als Generationenkonflikt. Was Berührung mit uns macht. Entfremdung in Zeiten der Pandemie. Wir wünschen viel Freude beim Lesen! Hier finden Sie das Inhaltsverzeichnis. Und hier können Sie das aktuelle Heft sowie ältere Ausgaben versandkostenfrei bestellen.

Wir hätten da mal drei Fragen…

In unserem aktuellen Heft antworten Bas Kast, Gesine Schwan und Oliver Kalkofe auf drei Fragen zum Schwerpunktthema Vorurteile. Hier lesen Sie die Antworten von Melodie Michelberger und Ursula Karven. Bei welchem Vorurteil haben Sie sich schon mal ertappt? Welchen Vorurteilen sind Sie selbst ausgesetzt? Wie gehen Sie mit Vorurteilen um?   Melodie Michelberger ist Influencerin und Aktivistin für Feminismus und Body Positivity 1. So wie viele in der westlichen, weiß-dominierten und christlich sozialisierten Gesellschaft bin ich mit einem Bias, einem massiven Vorurteil gegenüber dicken Körpern aufgewachsen. In meinem Kopf war und ist das elendige Stigma, »dick = disziplinlos, faul, wertlos« fest verankert. Dieses abschätzige Stigma hat mich all die Jahre sogar so unter Druck gesetzt, dass ich mit aller Kraft dagegen ankämpfte, selbst dick zu werden, konstant Diät hielt und meinen Körper über Jahrzehnte aushungerte. Mir dieses Vorurteil selbst einzugestehen war wichtig, um weiter zu kommen. 2. Als dicke Frau bekomme ich eben genau dieses Stigma selbst oft zu hören. Wildfremde Menschen schreiben mir herablassende Nachrichten oder posten abwertende Kommentare über meinen Körper unter meine …

Metanoia 2.0 – Ideen für die neue Normalität

Die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie sind unüberschaubar und machen strukturelle Veränderungen notwendig: remote work, neue digitale Führungsstile, eine neue Unternehmenskultur und Governanceethik. Die Krise macht nicht nur die Bruchstellen globalen Ökonomie sichtbar. Sie zeigt uns auch, dass wir ein ganz neues Verständnis von Wirtschaft und Unternehmensführung brauchen, das auf den Notwendigkeiten von Klimaschutz, Komplexitätsbewältigung und gesellschaftlicher Verantwortung beruht. Covid-19 zwingt mehr denn je zur inneren Umkehr, zu einer Neuorientierung im Denken. Nach unserem letzten HOHE LUFT kompakt-Sonderheft (»Metanoia – Führen in Zeiten des Wandels«) wollen wir daher mit METANOIA 2.0 – IDEEN FÜR DIE NEUE NORMALITÄT erneut den Austausch zwischen Ökonomie und Philosophie fördern. „Wahrheit – Vertrauen – Klugheit“ sind die Schwerpunkte, die wir gemeinsam mit dem Audit Committee Institute e. V. – einer mit der KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft assoziierten Plattform für Aufsichtsräte und Führungskräfte vor allem börsennotierter Gesellschaften – konzipiert haben. Es geht um die großen ökonomischen und sozialen Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft: Worin liegt jetzt Wert von Wahrheit und Transparenz? Inwieweit braucht ein funktionierendes Wirtschaftssystem Vertrauen? Wer entwickelt und bestimmt die Regeln …

Ich habe was, was du nicht hast

Unsere Welt ist ungerecht. Dass Menschen mit Privilegien davon profitieren, ist kein Geheimnis. Sich als privilegierter Mensch damit auseinanderzusetzen, ist unangenehm, lohnt sich aber. Ich greife nach dem Aufwachen zum Handy und schaue mir die Nachrichten an. Jeden Morgen. Vor einer Woche stand da, dass die Wahlen in den USA eng ausgehen werden. Dass es noch lange dauern wird, bis sie ausgezählt sind. Später verkündete Trump, er wolle die Auszählungen stoppen. Ich schlag mir ungläubig die Hand vor die Stirn. Die USA – Das selbsternannte Land der Demokratie und dann sowas. Gleichzeitig denke ich mir, dass das ja zu erwarten war, was es nicht besser macht. Vor einigen Wochen wurden in Polen die Rechte von Frauen durch neue Abtreibungsgesetze eingeschränkt. Ich stelle mir all die Schwangeren vor, die Kinder in sich tragen, die so krank sind, dass sie die Schwangerschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht überleben werden. Das muss sich anfühlen, als würde man einen schweren Stein im Bauch haben. Raus darf er nicht mehr, nicht in Polen, nicht mehr seit dem 22. Oktober. Die USA …